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Von gepackten Koffern und sinnlos guter Laune zum AbschiedStefan Weiller begeistert, bedrückt und erhellt das Publikum mit seinem Programm „Letzte Lieder“

ALSFELD (ol). Bei der Veranstaltung „Letzte Lieder“ präsentierte der Autor und Sozialpädagoge Max Weiller emotionale Geschichten und Musikstücke, die Menschen am Ende ihres Lebens begleiten. Die Vogelsberger Hospiz- und Palliativstiftung Lichtermeer organisierte die Veranstaltung gemeinsam mit den Hospizvereinen in Alsfeld und Lauterbach.

Die Themen Sterben und Tod, Ende des Lebens und ein Abschied in Würde – sie hat sich die Vogelsberger Hospiz- und Palliativstiftung Lichtermeer auf ihre Fahnen geschrieben. Gemeinsam mit allen in diesem Bereich tätigen Akteuren möchte sie aufklären, die Angebote bekannt machen, Hilfen aufzeigen. Und sie möchte die Themen enttabuisieren, in die Öffentlichkeit tragen, zu Gedanken und Gesprächen anregen, so hieß es kürzlich in einer Pressemitteilung der Lichtermeer-Stiftung.

Mit dem Autor und Regisseur Stefan Weiller sei dies am vergangenen Donnerstag mehr als gelungen: Seit einigen Jahren schon sammelt der studierte Sozialpädagoge die Lieder, die Menschen am Ende ihres Lebens hören möchten, denen sie eine Bedeutung beimessen, die sie begleitet haben, heißt es. Und er stellt sie vor – in Büchern und in einem wirklich mitreißenden Bühnenprogramm. Im Kubus der Villa Raab waren am Donnerstag viele Menschen vom Fach, aber auch Interessierte aus vielen anderen Bereichen, die sich von Stefan Weiller mitnehmen ließen in eine Welt, die man nicht so gerne betritt. Organisiert hatte die Veranstaltung die Lichtermeer-Stiftung gemeinsam mit den beiden Hospizvereinen in Alsfeld und Lauterbach.

Nachdem die Stiftungsratsvorsitzende Tanja Bohn den Künstler begrüßt hatte, ging Stefan Weiller direkt in medias res. Ein Deckengemälde aus einer dänischen Kirche zeigte Motive der Vergänglichkeit, ein Lied untermalte die Eindrücke, und dazu ein Gedicht, das die Menschen daran erinnerte, dass die heute noch Lebenden schon vom Tod erwartet werden. Zum ersten und bei weitem nicht zum letzten Mal hatte Weiller die direkte Ansprache an die Zuschauerinnen und Zuschauer gewählt. Sie sollten an diesem Abend noch oft daran erinnert werden und sich überlegen, ob sie das können: das Leben trotz der Endlichkeit annehmen und freudig leben, so hieß es.

Seine erste musikalische Sterbebegegnung – ein Auftrag für ihn als jungen Journalisten – begann mit „Immer wieder sonntags“ von Cindy und Bert. Grund für den in den Siebzigerjahren geborenen, darauf einzugehen und in seine eigene Kindheit zu blicken, die zeitlich gesehen viele Menschen im Kubus der Villa Raab mit ihm teilten. Weiller sprach über Schlager im Allgemeinen und Lieder, die helfen könnten, dass sich Todkranke getragen und in Erinnerungen geborgen fühlten. Er sprach über seine anfänglichen Ängste und die Befangenheit. Und die Sorge, jemandem, dem nicht mehr viel Lebenszeit bleibt, mit ungebetenen Gesprächen die wenige Zeit auch noch zu stehlen. „Was zieht man an, wie tritt man auf und was macht man eigentlich mit den Händen?“.

Seine Interviewpartner traf er unter anderem in einem Hospiz in Wiesbaden, wo er einen Teil des Jahres lebt. Er traf sie in anderen Einrichtungen des Landes und in Schweden, wo er ebenfalls zuhause ist. Manche besuchte er daheim. Die meisten kamen auf ihn zu, als sie von seinem Projekt gehört hatten. Und Weiller ließ sich darauf ein, hieß es. „Sinnlos gute Laune“ hätten Cindy und Bert bei seinem allerersten Besuch in einem Hospiz versprüht. Es sei das Lied der ersten Liebe gewesen, so der Autor, der sogleich sein Publikum nach einem bedeutenden Lied im Leben fragte: Das Lied der ersten Liebe, das der befreienden Scheidung. Und er fragte nicht nur: „Was wird Ihr letztes Lied sein?“, sondern auch „Was nehmen Sie mit in Ihren letzten Koffer?“ Bedrückende Fragen, ja, aber Fragen, von denen man wisse, dass man sie sich stellen könne und müsse.

Vierhundert Menschen hat Stefan Weiller bisher interviewt – einen Teil von ihnen lernten die Gäste in Alsfeld in einem zweieinhalbstündigen Programm kennen: Ein Abend mit viel Musik und ganz vielen Anekdoten. Und mit vielen Lachern, denn neben all der Angst und dem Ernst gab es auch witzige Betrachtungen und Ereignisse. Visualisiert hatte Weiller seinen Vortrag mithilfe einer Präsentation, deren erstes psychedelisches 70er- und 80er-Jahre-Bild in grellen Farben sich bald vervollständigte. Barbra Streisand, Madonna, The Cure: Auch Stefan Weiller offenbarte die Lieder seines Lebens – und die hatten wirklich sehr persönlich mit ihm zu tun. Er spielte die Spice Girls und die Stones, die seiner Meinung nach den Blick auf das Alter massiv verbessert hätten. Nicht nur äußerlich, sondern auch als Haltung, etwa wenn sie wie Madonna verkündeten, dass man richtig ist, wie man ist, frei zu tun, was man möchte, auch frei, den eigenen Tod zu akzeptieren, so hieß es weiter.

Von allen seinen Begegnungen berichtete Stefan Weiller voller Warmherzigkeit, respektvoll und doch mit einem ganz feinen Humor – eine Mischung, die das Publikum von einem Lied, von einer Begegnung zur anderen trug. Meditative Harfenklänge, gespielt von einer Sterbenden, „Stark wie Zwei“ von Udo Lindenberg, „Heart of Gold“: Jede Geschichte sei voller Wärme und Humor, aber auch voller Trauer gewesen, denn der Ausgang sei je bekannt gewesen. Es waren ergreifende Geschichten von letzten Piña Coladas und letzten schönen Liebesliedern. Nach seinen Gesprächen mit Sterbenden riet Weiller seinen Gästen, ihr Leben danach anzuschauen, ob sie meist zufrieden seien, ob sie Orte hätten, die sie bereisen wollten, Sehnsüchte, die es zu stillen gebe. „Leben Sie das Leben, das sie sich wünschen“, gab er seinem Publikum mit.

Weiller hat nicht nur Gespräche notiert, er hat den Begegnungen und Interviews auch jede Menge Weisheit entlockt, die er mit seinem Publikum teilte. Er erzählte von sterbenden Kindern und traurigen Hochbetagten, von einer Frau, die ihre Familie in einem Nazi-Lager verloren hat. Von einem glühenden Fan der Darmstädter Lilien und einer Frau, die wusste, dass ihr Kunstpelzdromedar nach ihrem Tod wie alles andere von einem Räumungsdienst geholt werden würde. Daraus leitete er eine ganz gegenwärtige Frage ab: „Wer wollen wir sein als Gesellschaft und wer als einzelner?“ Auch auf Tod und Trauer zu Corona-Zeiten ging der Autor ein und auf eine Art der Trauer, die mehr und mehr in den virtuellen Raum verlegt werde. Mit Blick auf viele verschiedenen Bestattungsmöglichkeiten fragte er ganz direkt: „Wie wollen Sie bestattet werden? Haben Sie schon Preise eingeholt?“.

Zum Abschluss appellierte er an sein Publikum, offen über den Tod zu sprechen, ihn vielleicht auch zum Partythema zu machen. Er forderte die Menschen auf, als Hospizhelfer tätig zu werden und, wenn es so weit ist, Hilfe anzunehmen. Auch einen Witz aus dem Hospiz hatte Weiller noch mitgebracht. Denn Humor sei unabdinglich, wenn es ums Sterben gehe. Und zum Abschied zwei Lieder: „Let it be“ und „Der Mond ist aufgegangen.“ Ein bemerkenswerter Abend, nachhaltig, einprägsam, so hieß es.

Die nächste Veranstaltung zum Thema findet am 14. Oktober statt. Dann begehen die Einrichtungen aus dem Bereich Hospiz und Palliativpflege von 11 bis 14 Uhr den Welthospiztag in Lauterbach.

Fotos: Schlitt

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