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Industriegebiet "Am Weißen Weg"Kritiker-Behauptungen im Faktencheck II

ALSFELD (ls). DHL plant ein Mega-Logistikzentrum so groß wie in Leipzig, die Stadt könnte ein Minus-Geschäft machen und auch Klimaschutzmaßnahmen sind nicht vertragliche festgeschrieben: Nicht alles, was von Kritikern in Zusammenhang mit dem geplanten Industriegebiet „Am Weißen Weg“ behauptet wird, stimmt wirklich. Der zweite Teil des Faktenchecks.

Das geplante Industriegebiet in Alsfeld sorgte in den letzten Wochen für Diskussionen und vermehrte Kritik. Im Netz kursieren vielerlei Argumente gegen das Projekt – teils mit richtigen, teils mit belegbar falschen Behauptungen, die hier im Folgenden aufgegriffen und erklärt werden sollen.

Als Grundlage zur Überprüfung dienen neben den Aussagen von Alsfelds Bürgermeister Stephan Paule, DHL Pressessprecher Thomas Kutsch, dem Vogelsbergkreis und dem Regierungspräsidium Gießen, der öffentlich einsehbare Bebauungsplan, der Flächennutzungsplan sowie der als Grundlage dienende Umweltbericht (alle Unterlagen dazu finden Sie öffentlich auf der Homepage der Stadt Alsfeld), der Entwurf des Regionalplans Mittelhessen und die Verkehrsuntersuchung aus dem Jahr 2019 im Auftrag der Hessischen Landgesellschaft durch die Heinz und Feier GmbH.

Behauptung 6: Laut DHL soll das DHL-Express-Logistikzentrum vergleichbar groß werden wie Deutschlands größtes DHL Hub in Leipzig, dessen riesige Fläche einen Frachtflughafen hat. Aufgrund von massiven Anwohnerprotesten könnte der Leipziger DHL Standpunkt nach Alsfeld verlegt werden.

Faktencheck: Der DHL Hub in Leipzig ist eines von drei internationalen Drehkreuzen im Netzwerk von DHL Express und fungiert als Drehkreuz in ganz Europa. Dort wird die internationale Fracht per Flugzeug abgewickelt. In Alsfeld hingegen ist ein nationales Umschlagzentrum für DHL Express Deutschland mit Straßentransport geplant, was deutlich kleiner sein wird als das in Leipzig. Zum Vergleich: „Die Anzahl der Sendungen, die in Leipzig pro Nacht umgeschlagen werden, ist etwa fünfmal größer als die geplante Menge im Deutschland Hub“, erklärt Thomas Kutsch, Pressesprecher von DHL auf Anfrage. Der Flächenbedarf lasse sich daher nicht vergleichen.

Während in Alsfeld mit einer Gesamtgrundstücksfläche von etwa 140.000 Quadratmetern geplant wird, wobei die genaue Größe der Hallen und Büros erst im Mai feststehen wird, liegt die gesamte Grundstücksfläche in Leipzig bei 1,2 Millionen Quadratmetern – davon entfallen laut Kutsch rund 87.000 Quadratmeter auf das Verteilzentrum, mehr als 22.000 Quadratmeter auf den Hangar und rund 21.600 Quadratmeter auf das Verwaltungsgebäude. Hinzu kommen Vorfeldflächen sowie ein Hochregallager.

Dass der Leipziger Standort nach Alsfeld verlegt werden könnte ist „absolut unrealistisch“, sagt der Pressesprecher.

Auch die Behauptung, dass DHL selbst den Vergleich zu Leipzig machte ist nur bedingt richtig. Zwar brachte Tobias Wider bei der Präsentation von der Alsfelder Ausschussmitgliedern den Leipziger Standort ins Spiel, doch in einem anderen Zusammenhang. Konkret sagte er Folgendes: „Vergleichbar etwa mit dem internationalen Hub von DHL in Leipzig, wo sich in den vergangenen Jahren viele weitere Unternehmen angesiedelt haben.“ Gemeint hatte Wider hier allerdings den Vergleich zwischen den Funktionalitäten der Hubs: Während Leipzig das internationale Drehkreuz sei, sei Alsfeld das nationale Drehkreuz.

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Behauptung 7: Gewinne für die Stadtkasse? Völlig unklar. Immense Erschließungs- und sonstige Kosten sowie unsichere Steuereinnahmen machen Gewinne ungewiss. Es kann sogar sein, dass die Stadt ein Minus-Geschäft macht.

Faktencheck: Dass nach Abzug aller städtischen Kosten wie Erschließung oder Bauleitplanung und ähnliches ein Minus-Geschäfts für die Stadt bleibt ist unwahrscheinlich, erklärt Bürgermeister Paule. „Die bereits beschlossenen und die weiteren zu erwartenden Verkaufspreise sind so kalkuliert, dass alle entstehenden Kosten gedeckt werden.“ Theoretisch, so erklärt er, sei es nicht möglich, dass Städte oder Gemeinden ein Minus-Geschäfts machen, da normalerweise alle entstehenden Kosten auf die Grundstückskäufer umgelegt werden, allerdings sei auch ihm bekannt, dass in einigen Gebieten Deutschlands vollerschlossene Bau- und Gewerbegrundstücke unter dem Preis verkauft worden sind. „Das wird beim Weißen Weg nicht der Fall sein“, sagt Paule.

Die Kalkulationen gehen von Ankaufs-, Planungs- und Erschließungskoten von etwa 25 Millionen Euro aus, doch die Verkaufspreise würden nicht nur die Kosten decken, sondern liegen zum Teil deutlich über dem Mindestverkaufspreis. Außerdem, so sagt Paule, würden plausible Gewerbesteuerprognosen vorliegen, die jährliche Einnahmen prognostizieren. Die Kalkulationen seien den Stadtverordneten bekannt – öffentlich könne man sie aufgrund des Steuergeheimnisses nicht machen.

Behauptung 8: In Reuters bei Lauterbach hat die Erschließung des Gebiets für „Heggenstaller“ rund 4 Millionen verschlungen, dort hat sich die Grundsteuer verdoppelt.

Faktencheck: Bei dieser Behauptung gibt es zwei Deutungsweisen: Zum einen, dass sich die Grundsteuer für das Gebiet für „Heggenstaller“ – übrigens ist hier das Holzwerk von Pfeifer gemeint – verdoppelt hat, zum anderen, dass sich die Grundsteuer für die ganze Stadt verdoppelt hat.

Mit Blick auf die erste Deutungsweise kann das durchaus im Bereich des Möglichen liegen. Das liegt mitunter daran, dass die Fläche, auf der das Holzwerk gebaut wurde, vorher eine Ackerfläche oder Wiese gewesen ist, die dann zu einer Industriefläche wurde. Während man für Ackerflächen oder Wiesen lediglich eine geringe Grundsteuer zahlt, erhöht sich diese, wenn sie zur bebauten Gewerbefläche wird. Das gilt dann allerdings einzig und allein für genau diese Fläche – und nicht für die ganze Stadt oder die umliegenden Grundstücke.

Dass sich die Grundsteuer der ganzen Stadt verdoppelt hat ist nicht richtig, wie der Fachbereich Finanzen bei der Stadt Lauterbach erklärt. 2014 wurden die Hebesätze der Grundsteuern von 400 auf schlagartig 630 Prozent erhöht. Das habe allerdings nichts mit „Heggenstaller“ zu tun gehabt, sondern die Hebesätze seien aus haushaltsrechtlichen Gründen im Rahmen des kommunalen Schutzschirms angehoben worden – und danach auch wider schrittweise gesenkt worden.

2015 und 2016 seien sie noch bei 630 Prozent geblieben, 2017 seien sie auf auf 600 Prozent gesunken und seit 2018 liegen sie konstant bei 550 Prozent.

Behauptung 9: Bei dem Gebiet handelt es sich um wertvolle Ackerfläche.

Faktencheck: Entgegen dieser Behauptung war in den städtischen Gremien immer wieder die Rede davon, dass die Fläche des „Weißen Wegs“ weniger wertvoll ist, als die eigentlich vorgesehenen Gewerbeflächen. Mitunter deshalb wurden die damals verstreut vorgesehenen Flächen zurückgegeben und dafür das neue, zusammenhängende Industriegebiet ausgewiesen. Das hatte auch die Stadt ganz zu Beginn der Diskussionen um das Industriegebiet in einer Pressekonferenz betont, nachdem der BUND Vogelsberg in einer Pressemitteilung die Flächenversiegelung kritisiert hatte.

„Es ist nicht das Ziel der Stadt, mutwillig Natur zu vernichten“

Einen speziellen Blick darauf gab es im Vorfeld im Umweltbericht zum Flächennnutzungsplan, der sich auf die Angaben vom BodenViewer Hessen (Stand März 2019) und auf die Geologische Übersichtskarte Hessen bezieht. Demnach handelt es sich bei dem Boden um flächenmäßig dominierenden, sandigen Lehmboden. Die Bodenwertzahl, also der Wert, der die Wertigkeit des Bodens misst, beträgt demnach überwiegend nur 35 bis 50 und „ist damit für die Alsfelder Feldflur eher unterdurchschnittlich“, heißt es dort. Die intensive Ackernutzung mache dem Bericht nach eine Vorbelastung durch Bodenbearbeitung (z.B. Pflugsohle) sowie eine Beeinflussung durch Düngemittel und Pestizide wahrscheinlich. Auswirkungen auf das Grundwasser sind durch den „Buntsandsteins mit wenig durchlässigen Deckschichten nicht besonders naheliegend“. Am Nordrand seien Schadstoffeinträge in den Boden durch die stark befahrene B62 gegeben.

„Das Plangebiet weist tendenziell einen unterdurchschnittlichen Erfüllungsgrad der für den Naturhaushalt wichtigen Bodenfunktionen auf und gehört auch hinsichtlich der Bodenwertzahlen zu den weniger begünstigten Ackergebieten im Umfeld der Kernstadt“, heißt es in der Bewertung. Die Alternativflächen seien hinsichtlich der Bodenfunktionen und insbesondere auch der landwirtschaftlichen Nutzungseignung deutlich besser.

Dennoch – und das kann man auch im Umweltbericht lesen – bedeute eine mit Industrieflächen verbundene großflächige Bodenumgestaltung und -versiegelung „selbstredend einen schwerwiegenden Bodeneingriff, weil weitestgehender Verlust der natürlichen Bodenfunktionen“. Er lasse sich weder wesentlich mindern noch extern angemessen ausgleichen. Reliefbedingt seien zudem größere Bodenauf- und –abträge unabdingbar, die die dann auch unversiegelt bleibende Restflächen in ihren Bodeneigenschaften verschlechtern würden.

Behauptung 10: Die Stadtverordneten haben die Möglichkeit, Photovoltaik auf den Dächern oder erneuerbare Energien vertraglich bindend zu machen, nicht genutzt.

Faktencheck: Auch diese Behauptung stimmt nicht ganz. Zwar ist die Nutzung von Photovoltaik auf den Dächern nicht im Bebauungsplan konkret vorgeschrieben – dort heißt es lediglich, dass freistehende PV-Anlagen ausgeschlossen werden, weil sie „sehr flächenintensiv“ sind – doch in den städtebaulichen Verträgen, die vor dem Gang zum Notar zu unterschreiben sind, sei eine Photovoltaik-Pflicht auf den Dächern vorgesehen, wie Paule mitteilt.

Weiterhin soll das neue Industriegebiet insektenfreundlicher werden – und sogar freundlicher als die bisherigen Ackerflächen. „Das neue Industrie-/Gewerbegebiet wird insektenfreundlicher, als es die bisherigen, intensiv gedüngten und Herbizid-behandelten Acker-Monokulturen sind“, sagt Paule. Vorgesehen seien eine insektenfreundliche Beleuchtung (Lichtfarbe, Lichttransmission, Abstrahlwinkel, Anbringungshöhe) und eine Begrünung, die bei bei Tieren gut ankommt.

„Für die waldnahen Bereiche des Gewerbegebietes werden die schon geschilderten Regelungen zur Beleuchtung an die Bedürfnisse des Fledermausschutzes angepasst“, erklärt der Rathauschef. Ohnehin hatten die beiden bisherigen Käufer, Nordwest und auch DHL, angekündigt, energiesparend auszubauen und Klima sowie Natur bestmöglich zu schützen.

„Wir haben uns ein ambitioniertes Ziel gesetzt: Wir wollen unsere Treibhausgasemissionen bis 2050 netto auf null reduzieren, dazu gehören auch klimaneutrale Neubauten“, erklärt Kutsch für DHL. Für den Standort in Alsfeld sei eine Photovoltaik-Anlage geplant, die Standard bei allen DHL Express Neubauten sei, sowie smarte LED-Beleuchtung in Hallen und Büroflächen und die Nutzung von Wärmepumpen. Darüber hinaus werde das Unternehmen weitere Maßnahmen wie beispielsweise Erdwärme prüfen, um den Deutschland Hub soweit wie möglich klimaneutral zu betreiben.

Auch wenn sich die Kritiker meist lediglich auf DHL beziehen, auch das Unternehmen Nordwest hat bereits in der Projekt-Präsentation bekannt gegeben, dass die Nutzung von Windkraftenergie, die Installation von Photovoltaikanlagen oder Dachbegrünung oder die Nutzung von Geothermie-Anlagen denkbar seien. Zu diesem Zeitpunkt standen zwar die genauen Planungen noch nicht fest, aber Nachhaltigkeit und Umwelt spielten auch hier in den Planungen bereits eine große Rolle.

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Ein Gedanke zu “Kritiker-Behauptungen im Faktencheck II

  1. Wenn es um Fakten geht, dann muss man schon genauer sein.

    Wieviel Prozent der Dachfläche wird durch Photovoltaik genutzt werden?

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