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Oma, wie war das? Erinnerungen an die Pogromnacht am 9. November 1938„Wir waren Kinder, wir wussten nicht, was dort passiert ist“

ALSFELD/GREBENAU. Der 9. November 1938. Ein Datum, das eine traurige Geschichte schreibt. Ein Datum, bei dessen Erinnerung meiner Oma auch heute noch, 79 Jahre später, die Tränen in die Augen steigen, dessen Ereignisse sie immer noch nachts in ihren Träumen verfolgen und sie aus dem Schlaf aufschrecken lassen. Dass dieser Tag einmal in die Geschichte eingeht, damit hatte sie nicht gerechnet. Damals war sie ein Kind, das nicht wusste, was das alles zu bedeuten hatte. Heute weiß sie es. Die Erinnerungen einer 88-jährigen Frau – aufgeschrieben von ihrer Enkelin Luisa Stock. 

Synagogen stehen in Flammen. Schaufenster jüdischer Geschäfte werden mit Steinen eingeworfen, Häuser von Juden aufgebrochen und geräumt. Die Menschen darin, vertrieben, deportiert oder ermordet. Mit der Pogromnacht am 9. November 1938 begann die systematische Vernichtung der Juden während der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland. Allein aus Alsfeld wurden – nicht in der Nacht, sondern an anderen Tagen – insgesamt mindestens 48 jüdische Menschen von den Nazis in Konzentrationslager deportiert. Das bitterste und schrecklichste Ereignis der deutschen Geschichte – es machte auch vor unserer Heimat nicht Halt. Der Schrecken von damals soll nie vergessen werden. Deswegen höre ich gerne zu, wenn meine Oma von damals erzählt.

Neun Jahre war sie damals alt. Ein Kind. Sie ging das dritte Jahr in die Schule nach Grebenau. In eine jüdische Schule, die direkt der Synagoge angegliedert war und an der Jossa lag. Ein altes Fachwerkhaus. „Die normale Schule war damals zu klein für die Schüler geworden, also schickte man die jüngeren in die jüdische Schule“, erinnert sie sich zurück. Jüdische Mitschüler habe sie allerdings nicht gehabt, obwohl es sehr wohl jüdische Kinder in Grebenau gegeben habe. „Es gab jüdische Häuser in Grebenau, die direkt an der Jossa waren. Auf unserem Schulweg haben wir die jüdischen Kinder oft im Garten oder am Fluss spielen sehen“, erzählt sie.

So war’s auch: Nazis marschieren 1932 über den Alsfelder Marktplatz. Foto: Philipp Pfaff, Butzbach, aus: „Oberhessen marschiert

So war’s auch: Nazis marschieren 1932 über den Alsfelder Marktplatz. Foto: Philipp Pfaff, Butzbach, aus: „Oberhessen marschiert“. Ein Bildbericht über den Stand der nationalsozialistischen Bewegung Oberhessens,1932

„Ich erinnere mich, dass wir oft angehalten haben nach der Schule oder vor der Schule. Wir haben sie angesprochen und gefragt, wieso sie nicht zur Schule gehen oder wie sie heißen. Eine Antwort haben wir nicht bekommen.“ Heute könne sie sich in etwa vorstellen, wie groß die Angst der Kinder gewesen sei. „Ich glaube, sie hatten Angst. Sie durften nicht mit uns sprechen. Das habe ich damals nicht verstanden. Damals waren wir doch nur Kinder. Wir wollten zusammen spielen“, erinnert sie sich zurück und schließt die Augen. Das Denken an diese Zeit, es fällt ihr schwer. Damals hätten sie nicht gewusst, was das alles zu bedeuten hatte, sie und ihre Schulkameraden. „Wir waren doch nur Kinder“, wiederholt sie.

In Grebenau seien zu dieser Zeit viele Menschen der NSDAP beigetreten. Die Eltern meiner Oma taten es nicht. „Meine Eltern hatten mit Politik nicht viel zu tun“, sagt sie. Sie wuchs auf einem Bauernhof in Eulersdorf auf. Dennoch: Es sei eine arme Gegend gewesen und die Nationalsozialisten hätten den Menschen Arbeit gegeben – jedenfalls versprachen sie das. Nach 1935 durften die Kinder jüdischer Familien nicht mehr zur Schule gehen. Auch auf der Straße sollten Juden nicht mehr gesehen werden. Ihre Geschäfte mussten schließen, ihre Arbeit mussten sie aufgegeben.

„Offiziell durften keine Geschäfte mit Juden gemacht werden“, sagt meine Oma, die weder mit Bild noch mit ihrem Namen in die Zeitung möchte. Trotzdem seien viele Leute auf dem Dorf in heimlichen Nacht- und Nebelaktionen durch das Wiesental geschlichen, um dort mit den Juden zu handeln. „Auf die Straßen am hellen Tag trauten die Juden sich zu der Zeit nicht mehr und auch als Nicht-Jude durfte man bei Geschäften mit Juden nicht erwischt werden“, sagt sie. „Es war nicht so eine freie Zeit, wie wir sie heute haben.“

Viele Synagogen, wie hier die Alsfelder Synagoge in der Lutherstraße, fielen der Pogromnacht zum Opfer. Foto: Geschichts- und Museumsverein Alsfeld

Ein Radio oder ein Telefon hatten sie zu dieser Zeit nicht, dafür allerdings die Tageszeitung. „Die Zeitung war alles, woraus wir informiert wurden, aber die war zur damaligen Zeit natürlich zensiert. Die berichteten nicht frei, sondern nur das, was sie berichten durften.“ So kam es, dass meine damals 9-jährige Oma am 10. November 1938 auf den gut zwei kilometerlangen Weg in Richtung Schule begab – ohne zu wissen, dass sie diesen Tag ein Leben lang nicht vergessen wird. „Wir Kinder sind wie jeden Morgen zusammen zur Schule nach Grebenau gelaufen. In der Zeitung stand nicht, was in der Nacht passiert war.“ Auch die Eltern sollen sie ganz normal zur Schule geschickt haben. Ob die zu dem Zeitpunkt bereits über die Geschehnisse der Nacht wussten, kann sie nicht mehr sagen. Die jüdische Schule und auch die Synagoge lagen in Schutt und Asche – so wie im Rest des Reichs.

„Ich weiß noch wie heute, wie geschockt ich war als ich gesehen habe, dass die Schule abgebrannt war. Niemand war dort, um uns Kinder zu empfangen. Keine Polizei, kein Lehrer, keine Erwachsenen. Niemand. Keiner erklärte uns, was passiert ist. Die Schule und die Synagoge waren abgebrannt und es wurde einfach ignoriert“, erinnert sie sich. Damals sei ihr nicht klar gewesen, was dort abgelaufen war. Sie wusste von nichts und niemand sollte drüber reden – auch wieder Zuhause soll es ihr niemand erklärt haben. „Wir waren erschrocken. Auch danach hat keiner im Dorf auch nur ein Wort darüber verloren, was passiert war. Später gab es dann ein paar Gerüchte, aber niemand traute sich laut darüber zu sprechen“, sagt sie. Dass in der Nacht die systematische Vernichtung der Juden begann und damit eins der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte, das habe sie nicht geahnt.

Am nächsten Tag war die Schule abgebrannt

Noch heute hat sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie an den Tag zurück denkt: „Ich habe mich damals gefreut, dass die Schule ausfällt. Ich habe mich gefreut und wir sind nach Hause gegangen. Wir waren Kinder, wir wussten nicht, was dort passiert ist. Wir wussten nicht, welche Ausmaße das Ganze nehmen sollte“. Der 9. November 1938, die Pogromnacht, sollte nur der Anfang sein. Und gerade deshalb wird meine Oma auch heute nicht müde die Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte gegen das Vergessen und als Mahnung für künftige Generationen.

Heute leben wir in einer anderen Zeit, sagt meine Oma. Sie glaubt nicht daran, dass sich die Geschehnisse, die Verbrechen des Naziregimes noch einmal wiederholen werden. Sie glaubt nicht dran – und sie hofft es, dass es trotz dem Einzug der AfD in den Bundestag, jener Partei, welche die deutsche Erinnerungskultur an diese furchtbare Zeit gerne ändern möchte und völkische Parolen zurück in den Reichstag bringt, auch wirklich so bleibt.

4 Gedanken zu “„Wir waren Kinder, wir wussten nicht, was dort passiert ist“

  1. Ich frage mich, was uns die „Daumen runter“ hinter Axel Pries‘ Kommentar sagen sollen. Wünschen sich die Verteiler dieser Daumen eine Wiederholung ?
    Der Artikel ist sehr berührend. Danke an Luisa Stocks Oma für das Teilen ihrer Erinnerungen.

  2. Mein Vater und meine Mutter waren zu der Zeit beide 17 Jahre alt. Ich kenne diese Erzählungen also auch bestens. Sie waren für mich immer abschreckend und für mich war immer klar: Sowas darf nie wieder passieren.
    Wenn aber eine Journalistin, die dazu noch in diesem Bericht die Enkelin der Erzähloma ist, diese Schweinerei die von Nazis angerichtet worden ist, im letzten Absatz dann mit der AfD in Verbindung bringen will, da fliegt mir die Mütze weg. Das ist allerunterste Schublade und zeigt, daß manche Schreiberlinge nur dem Mainstream hinterherlaufen und einflussreichen Personen aus Politik, Kirche und Gewerkschaften gefallen möchten.
    Pfui Teufel!

  3. Im verharmlosen von linker und rechter Gewalt sind wir Deutschen immer noch ganz groß. Die Populisten (zur Zeit eher die Rechtesradikalen) haben es mit Ihren vermeintlich einfachen Lösungen bei den Naiven heutzutage leider sehr leicht. Die Kommentare hier bei Oberhessen-live zeigen das leider immer wieder.

  4. Ein guter Artikel, der die Geschehnisse von damals nachspüren lässt – auf dass sich so etwas nicht wiederholt.

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