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Interview mit Kanzleramtschef Dr. Helge Braun zur aktuellen Corona-Lage und den Chancen des Vogelsbergs„Bei all den vielen Benachteiligungen, die der ländliche Raum sonst immer wahrnimmt, hat er in einer Pandemie einige Vorteile“

ExklusivVOGELSBERG/BERLIN (ls). Als Chef des Kanzleramts weiß der Gießener CDU-Abgeordnete Dr. Helge Braun über vieles Bescheid. Doch als Mediziner ist die rechte Hand der Kanzlerin in der Corona-Krise besonders in den Fokus gerückt. Im Interview mit Oberhessen-live erklärt er nun, was er als Arzt und Politiker von den Öffnungen hält, wann die letzte Corona-Regel fällt – und welchen Vorteil der Vogelsberg in der Pandemie hat.

Oberhessen-live: Geht es dem Arzt Dr. Helge Braun mit der Öffnung, die der Politiker vertritt, zu schnell?

Dr. Helge Braun: Wir haben in den letzten zwei Wochen durch den ersten Öffnungsschritt gesehen, dass es möglich ist, gewisse Öffnungen zu ermöglichen und gleichzeitig die Infektionszahlen weiter zu senken. Das hat uns ermutigt, jetzt das Signal zu geben, dass Schulen und Kindergärten schrittweise wieder öffnen können, damit wir die Betreuungssituation verbessern und die Kinder wieder gemeinsam lernen dürfen.

Die neuen Öffnungsschritte werden jetzt von den einzelnen Bundesländern vorgenommen, weil es viele länderspezifische Besonderheiten gibt, so dass die Lockerungsstrategien in den einzelnen Ländern unterschiedlich aussehen können. Wir achten allerdings weiterhin genau auf regionale Ausbrüche und auf die Gesamtentwicklung der Zahlen, damit wir das verhindern, was wir alle nicht haben wollen: eine zweite Welle.

Der Arzt und der Politiker Helge Braun stehen also gleichermaßen hinter den Öffnungen?

Mich gibt es nur einmal, ich verantworte in der Politik nichts, was ich vor dem Hintergrund meiner medizinischen Kenntnis nicht akzeptieren könnte. Aktuell sind die Infektionszahlen so niedrig, dass die am Mittwoch mit den Ministerpräsidenten vereinbarten Öffnungen möglich sind. Die weiteren Schritte der Länder dürfen natürlich nicht zu forsch erfolgen und der besprochene Notfallmechanismus für besonders betroffene Regionen muss konsequent umgesetzt werden.

Damit meinen Sie die Regelung, dass 50 Neuinfektionen innerhalb von sieben Tagen in einem Kreis dazu führen können, dass die Lockerungen lokal zurückgenommen werden. Sie selbst haben sich für eine Grenze von 35 Neuinfektionen ausgesprochen. Warum?

35 Fälle pro 100.000 Einwohner in einer Woche sind ein Infektionsgeschehen, mit dem der Gesundheitsdienst eines Landkreises noch zurechtkommen sollte – so viel Personal sollte auch vorgehalten werden. Wenn diese Zahl aber überschritten wird, dann hilft das Land und danach bei mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in einer Woche auch der Bund bei der Kontaktnachverfolgung und beim Testen, damit es nicht zu einem noch größeren Ausbruch kommt.

Es geht nicht darum, jemanden schlecht aussehen zu lassen, sondern es geht darum, dass wenn irgendwo die Infektionszahlen hoch sind, alle mithelfen, um sie zu reduzieren, damit es nicht zu einem übergreifenden Ausbruch in andere Regionen kommt und auch damit diese Region möglichst schnell wieder zum Normalzustand zurückkehren kann.

Im Vogelsberg liegen wir mit sieben aktiven Fällen glücklicherweise recht niedrig. Insgesamt gab es überhaupt nur 121 bestätigte Fälle. Wie müssen wir uns hier vor Ort jetzt verhalten, um so gut es nur geht da durchzukommen? Haben Sie einen persönlichen Rat – vielleicht auch an Landrat Görig?

Jeder einzelne von uns muss sich, solange wir noch keinen Impfstoff haben, immer überlegen, wie er sein Ansteckungsrisiko minimiert. Deshalb geht es im Alltagsleben manchmal weniger darum, wie die genaue Vorschrift lautet, sondern man muss sich überlegen, wie sich das Virus überträgt – und das tut es, wenn man sich nahe kommt. Deshalb ist die schrittweise Rückkehr zu einem relativ normalen Leben möglich, aber es bleibt die Grundregel, dass man Abstand hält und nicht zu viele unterschiedliche, nahe Kontakte hat. Denn viele unterschiedliche Kontakte führen im Endeffekt zu einem höheren Ansteckungsrisiko. Das gilt insbesondere natürlich, wenn man in eine Region fährt, in der die Infektionszahlen höher sind.

Trügerische Stille

Glauben Sie, dass gerade die Weite des ländlichen Raumes, wie hier im Vogelsberg, ein Vorteil in Hinblick auf niedrige Infektionszahlen ist?

Absolut. In den ländlichen Räumen ist Abstand halten und dennoch einen hohen Freizeitwert haben viel eher gegeben. Auch wenn man manche Angebote natürlich auch dort nicht nutzen kann: Die Aufenthaltsqualität im ländlichen Raum ist einfach höher und die Infektionszahlen oft niedriger. Die Einschränkungen werden dort auch ganz anders wahrgenommen, als wenn man beispielsweise sehr dicht in einer Großstadt wohnt. Bei all den vielen Benachteiligungen, die der ländliche Raum sonst immer wahrnimmt, hat er in einer Pandemie einige Vorteile.

Die Menschen dürfen wieder reisen. Der Vogelsberg ist ein Tourismusgebiet. Wie holen wir die Gäste auch in der Krise wieder zu uns, ohne dass sie und die Vogelsberger Angst haben müssen vor dem Virus?

In dieser Sache werden jetzt von den Tourismusministern entsprechende Konzepte zu Hygiene, Abstand und anderen Regeln ausgearbeitet. Die müssen genau eingehalten werden. Das wird eine große Aufgabe für jeden einzelnen, der Übernachtungen anbietet. Wenn mehr Reiseverkehr aus anderen Regionen mit mehr Infektionsgeschehen stattfindet und Menschen aus diesen Regionen in den Vogelsberg kommen, der so niedrige Zahlen hat, dann erhöht sich statistisch das Risiko. Deshalb ist es besonders notwendig auf Abstand und andere Regeln zu achten und ein gutes Hygienekonzept zu haben – und sich daran auch wirklich zu halten. Dann ist die individuelle Gefahr gering.

Auch ohne Angst kann man also reisen beziehungsweise Gäste im Vogelsberg empfangen?

Angst ist in einer Pandemie kein guter Ratgeber. Wir müssen lernen, mit der Pandemie zu leben. Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass wir mit den überregionalen Reisen noch ein bisschen länger warten, weil es für die Verteilung der Pandemie eine große Rolle spielt, aber wenn man die Reisetätigkeit aufnimmt, dann mit Hygienekonzept. 

Jedes Unternehmen braucht ein solches Konzept, jede öffentliche Einrichtung braucht eines und jeder muss für sich selbst überlegen: Auf welche Kontakte kann ich möglicherweise verzichten? Manchmal ist ja auch ein Anruf oder aber eine Unterhaltung über die Straße hinweg auch ganz schön und reicht für den Moment aus.

Blick auf den Reichstag aus dem Berliner Kanzleramt.

Blick auf den Reichstag aus dem Berliner Kanzleramt.

Durch Äußerungen von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und Grünen-Politiker Boris Palmer hat die Öffentlichkeit eine sehr zugespitzte Frage die letzten Tage diskutiert, die wir an Sie hiermit weitergeben: Muss Deutschland den Tod einiger Alter in Kauf nehmen, damit der Wohlstand für Alle nicht stirbt?

Nein, ich glaube, in einer solchen Pandemie gibt es immer Abwägungsfragen. Wir können nicht ein ganzes Jahr lang in völliger Ruhe verharren und warten, bis ein Impfstoff da ist. Auf der anderen Seite glaube ich, dass wir in einer so hochzivilisierten Gesellschaft leben – uns stehen Masken, Handschuhe und Desinfektionsmittel zur Verfügung. Wir wissen sehr gut Bescheid und können Abstandskonzepte umsetzen. Das heißt: Das Ziel muss nicht sein, Infektionen und Tote in Kauf zu nehmen, sondern unser Ziel muss es sein, so kluge Konzepte zu machen, dass Ansteckungen möglichst nicht erfolgen.

Dieser Gedanke, der zum Beginn der Epidemie manchmal geäußert wurde, dass sich vielleicht schnell viele Menschen infizieren und wir dann alle immun sind und gut durchkommen, also die sogenannte Herdenimmunität, das wird nicht funktionieren. Das würde bedeuten, dass wir über eineinhalb Jahre tägliche Neuinfektionen von 73.000 Menschen bräuchten, um nur die Hälfte unserer Bevölkerung zu infizieren. Die Zahl der schweren Verläufe würde unser Gesundheitssystem rasch überlasten und auch die Gesellschaft so verunsichern, dass auch das Wirtschafts- und Sozialleben massiv leiden würden – das kann nicht unser Ansatz sein.

Wir müssen deshalb vorsichtig und schrittweise in ein Zusammenleben übergehen, bei dem die Wirtschaft läuft, bei dem wir Sozialkontakte haben und bei dem wir solange weiterhin dennoch Abstand halten.

Ein Blick in die Glaskugel: Wann fällt die allerletzte Corona-Regel in Deutschland?

Wenn ein Impfstoff für alle zur Verfügung steht.

Ein Gedanke zu “„Bei all den vielen Benachteiligungen, die der ländliche Raum sonst immer wahrnimmt, hat er in einer Pandemie einige Vorteile“

  1. Bei dem Blick in die Glaskugel, hat Hr. Braun aber nicht gesehen, dass es noch einige Jahre dauern kann, bis ein Impfstoff zugelassen wird. Oder geht es mit Bill Gates schneller ?

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