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Beitragsreihe zum 50-jährigen Bestehen des „Haus am Kirschberg“„Das Haus am Kirschberg war mein Glück“

LAUTERBACH (ol). 50 Jahre alt wird das Haus am Kirschberg in diesem Jahr. Eine kleine Reihe setzt sich mit der Geschichte und der Entwicklung der Einrichtung auseinander, die im Lauf der Jahrzehnte von einem Mutter-Kind-Heim zu einem wichtigen Akteur der Jugendhilfe geworden ist. Der dritte Teil beleuchtet die Neunzigerjahre aus Sicht einer ehemaligen Bewohnerin.

In der Pressemitteilung des Haus am Kirschberg heißt es, dass Nicole Nürnberger, die von 1994 bis 1998 im Haus am Kirschberg war, auf diese Zeit zurückblickt und welche Bedeutung sie für ihr weiteres Leben hatte. Die junge Frau kam mit 17 Jahren aus einer psychiatrischen Einrichtung in Herborn nach Lauterbach in die Mädchengruppe, die sich im Haus am Kirschberg bereits seit Ende der Siebzigerjahre als wesentliche Baustein der Jugendhilfe etabliert hatte.

Schon als Vierzehnjährige hatte Nicole psychische Probleme. Ihr Vater war Alkoholiker, die Mutter sehr distanziert; ein Familienleben fand kaum statt. Als Kind und Jugendliche war sie sehr auf sich gestellt, und als sie in der Schule laut über Selbstmord sprach, schaltete sich das Jugendamt ein. „Gott sei Dank“, sagt Nicole Nürnberger heute, und: „Es war nicht einfach, aber nötig. In der Psychiatrie habe ich angefangen zu existieren und gelernt, mit meinem Schmerz umzugehen.“

Zweieinhalb Jahre verbrachte sie in einer halbgeschlossenen psychiatrischen Einrichtung in Herborn, machte ihren Realschulabschluss an einer externen Schule und wollte danach eine Ausbildung zur Erzieherin machen. In Herborn traute man ihr einen eigenständigen Weg zu und suchte dafür die richtigen Begleiter. So kam sie zum Haus am Kirschberg. „Schon das Aufnahmegespräch machte mir Mut“, berichtet die 45-Jährige.

Mit dem Stigma einer psychischen Erkrankung räumt sie auf: Nicole Nürnberger. Fotos: Nicole Nürnberger

Und das Probewohnen bestätigte ihren Eindruck: Auf Augenhöhe sei man ihr begegnet, nie habe ihr hier jemand das Gefühl gegeben minderwertig oder kaputt zu sein. Und: Es gab trotz des freien und freundschaftlichen Umgangs feste Strukturen, die für die junge Frau von großer Wichtigkeit waren, denn nach zweieinhalb Jahren in der Psychiatrie hatte sie auch Angst vor der Freiheit, die sie doch wollte. „Wir wurden hier an ein eigenverantwortliches Leben herangeführt“, konstatiert sie, „es gab Regeln, aber kein übermäßiges Reglement.“ Mit dieser offenbar passenden Kombination habe sie Pünktlichkeit und Ordnung gelernt, ohne Druck.

In Lauterbach besuchte sie die Vogelsbergschule und entschied sich nach einem Praktikum in einer Kita dann doch für eine Ausbildung im Haus am Kirschberg, das damals einen großen Ausbildungsbereich für junge Menschen mit Problemen hatte. Ihre Mitschüler und die Lehrkräfte von damals seien ihr gegenüber zunächst skeptisch gewesen, erinnert sich Nicole: „Doch das hat mich angespornt, ihnen zu zeigen: Eure Vorurteile stimmen nicht.“ Ihr Lebenslauf gibt ihr heute recht.

Gefordert und umsorgt

Doch damals war es schwer: Ihre psychischen Probleme hatte Nicole ja mitgebracht. „Ich frage mich manchmal, wie ich meine Ausbildung geschafft habe, denn es ging mir oft nicht gut“, erinnert sie sich. Heute ist sie nur dankbar für die Menschen, die damals um sie waren: „Es war immer jemand für einen da, und alle waren wirklich kompetent. Die Bedeutung all dessen wird einem erst im Lauf der Jahre klar.“ Nicole Nürnberger denkt trotz der schwierigen Ausgangsposition gern an die Zeit in Lauterbach zurück: „Wir wurden gefordert, etwa beim Einkaufen für eine ganze Gruppe, aber wir wurden auch umsorgt:“

Die Geburtstags- und Weihnachtsfeiern bleiben ihr unvergesslich. Die Ferienfreizeiten, ein Urlaub in Frankreich sogar, Paddelausflüge nach Schlitz: All das habe ihr und ihren damaligen Gefährtinnen nicht nur viel Spaß gemacht, sondern ihr auch Selbstbewusstsein gegeben, sie ermutigt, an sich und ihre Fähigkeiten zu glauben: „Ich habe damals eine große Chance bekommen und sie genutzt.“ Ein Erfolg des damals neu entwickelten Haus-am-Kirschberg-Konzepts.

Ein Blick auf die Einrichtung in den 90er Jahren. Foto: Haus am Kirschberg

Ihr Leben im Haus am Kirschberg folgte ihrem Rhythmus: Sie absolvierte eine Ausbildung zur Bürokauffrau, „mit der man wirklich überall bestehen kann“, sagt Nicole immer noch. Ehrlichkeit, Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit und Kritikfähigkeit – all das habe sie während ihrer Zeit in Lauterbach gelernt. Von der Mädchengruppe zog sie in eine Außenwohnung, die noch betreut wurde. Danach bezog sie ihre eigene Wohnung.

Da war sie volljährig und bekam keine Mittel mehr vom Jugendamt. Anfangs war es für sie wichtig, dass sie sich auch in der neuen Selbstständigkeit noch ab und zu an ihre Bezugspersonen im Haus am Kirschberg wenden konnte. „So hatte ich trotz allem Zeit für mein Tempo.“ Sie ist allen, die sie damals begleitet haben, dankbar. Und sie weiß heute: „Ohne die vielen externen Unterstützer hätte uns das Haus nicht solche Angebote machen können – doch genau die Extras waren wichtig für unsere Entwicklung. Ohne Sponsoren wäre meine Geschichte so nicht möglich.“

Welche Bedeutung Sponsoren für das wirtschaftliche Wohl der Einrichtung hatten, lernte sie bereits während ihrer Ausbildung. Dort sah sich auch, dass jede einzelne Mark sinnvoll und transparent angelegt wurde. „Die Reisen und Freizeiten, die Trainings und das gute Essen: Wenn man seinen Klienten wie uns so gutes hochwertiges Essen vorsetzt, das ist eine besondere Wertschätzung“, findet Nicole noch heute. Und spendet ab und zu selbst für das Haus am Kirschberg, dem sie gerne etwas zurückgeben möchte.

Au-pair in Malibu

Nach ihrer Zeit in Lauterbach zog es die junge Frau in die Welt – und wie: Sie heuerte als Au-pair in Malibu an, direkt bei den Stars der Traumfabrik. Drei Jahre blieb sie dort, absolvierte eine Ausbildung zur Schauspielerin und kann heute noch viele Anekdoten aus den Haushalten berühmter Schauspielerinnen und Schauspieler erzählen. Auch hier habe es ihr geholfen, dass sie gelernt habe, als vermeintliche Außenseiterin an ihren Schwächen zu arbeiten. „Wenn mir das als Jugendliche jemand gesagt hätte…“ Manchmal scheint es im Gespräch so, als könne Nicole Nürnberger selbst all das nicht glauben.

Heute lebt Nicole Nürnberger mit ihrer eigenen kleinen Familie in Köln. Ihre psychische Erkrankung hat sie als Teil von sich akzeptiert: „Ich kann heute sehr gut auf mich achten.“ Nach Köln zog sie nach ihrer Rückkehr aus den USA, weil dort eine Freundin lebte. Inzwischen hat sie hier längst ihr privates Glück gefunden und viele Jahre für das Fernsehen, zuletzt den WDR, gearbeitet. Mit der Pandemie musste sie sich als freie Mitarbeiterin umorientieren und kehrt nun zu ihrem ersten Berufswunsch zurück: Die Stadt Köln bietet Quereinsteigerinnen eine Ausbildung zur Erzieherin an. Nicole freut sich drauf. Und das Haus am Kirschberg?

Happy Family: Nicole Nürnberger mit ihrem Mann Tobias und ihrem Sohn Jakob.

Noch immer hat sie, beispielsweise über die sozialen Medien, losen Kontakt zu einigen ihrer damaligen Mitbewohnerinnen, mit ein paar davon ist sie immer noch eng befreundet. Auch mit einigen Mitarbeiterinnen des Hauses am Kirschberg hält sie bis heute Kontakt. „Marina Hansel war eine meiner Ausbilderinnen und Manuela Pleterschek meine Bezugsbetreuerin – ihnen habe ich unglaublich viel zu verdanken.“ Natürlich will sie auch zum Sommerfest anlässlich des Jubiläums nach Lauterbach kommen, das ja irgendwie doch ein kleines Stück Heimat ist.

Über ihre Zeit in der Psychiatrie und im Haus am Kirschberg spricht sie offen: „Ich finde das nicht stigmatisierend, im Gegenteil: Das Thema psychische Erkrankungen muss viel mehr in die Gesellschaft. Es ist doch so: Wenn ich die Chance im Haus am Kirschberg nicht gehabt hätte, wäre ich jetzt nicht hier. Ich hätte nie gedacht, dass ich so ein Leben führen könnte, wie ich es jetzt tue. Das Haus am Kirschberg war für mich ein großes Glück.“

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