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Studenten auf „Landpartie“ in der Hausarztpraxis – Eine Aktion gegen den ÄrztemangelDer Zehnkämpfer unter den Medizinern

VOGELSBERGKREIS (kiri). „Sind Sie unser neuer Arzt?“ Nicht nur einmal wurde Nicolas Bevis euphorisch diese Frage gestellt, voller Hoffnung und Zuversicht, dass in ihm ein „Retter“ der medizinischen Versorgung naht. Doch er musste enttäuschen. Denn er ist nicht der lang ersehnte „Neue“ oder „Nachfolger“. Er ist lediglich auf „Landpartie“ im Vogelsberg.

Nicolas Bevis schnuppert in die Hausarztpraxis von Dr. Rudolf Weiß – weil es zu seinem Studium als zweiwöchiges Praktikum dazugehört. Genauso wie das Blockseminar, zu dem sich Bevis und seine Kommilitoninnen jetzt in der Alsfelder Hausarztpraxis Jochen Müller trafen. In dem Seminar wurde den Studenten noch einmal bewusst: Hausärzte sind die Zehnkämpfer unter den Medizinern.

„Man baut eine wesentlich engere Bindung zu Patienten auf“

Nicolas Bevis ist Student der Humanmedizin an der Marburger Universität, wie auch Jacqueline Kondziela und Ilona Rüsch. Alle vier befinden sich gerade im neunten Semester, in dem die „Landpartie“ inzwischen fester Bestandteil der Ausbildung ist. Denn die zwei Wochen sind ein Pflichtpraktikum des Medizinstudiums und dienen der Orientierung und der praktischen Wissensvermittlung. Ein Glücksfall für die Region, denn, so stellt Jaqueline Kondziela, die in der Hausärztliche Gemeinschaftspraxis Kirtorf ihr Praktikum macht, überrascht fest: „Auf dem Land ist es viel besser als in der Stadt – man baut eine wesentlich engere Bindung zu Patienten auf und die Tätigkeit ist um einiges vielseitiger, es geht von der Dermatologie bis zur Chirurgie. Und vor allem: Viele Kinder, das finde ich toll!“

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Landluft schnuppert Jacqueline Kondziela nicht nur in der Praxis von Dr. Michael Buff, sondern auch in der Freizeit: Dort darf sie sich beim Traktorfahren ausprobieren.

Das Projekt „Landpartie“ ist eine Kooperation der Universität Marburg, Abteilung Allgemeinmedizin, Präventive und Rehabilitative Medizin, dem Kompetenzzentrum Allgemeinmedizin und dem Weiterbildungsverbund des Vogelsbergkreises mit dem Ziel, angehenden Medizinern ein realistisches Bild vom Beruf des Hausarztes zu vermitteln und den Studierenden eine Landarztpraxis im Vogelsbergkreis mit seinen Vorzügen näher zu bringen und – so die Intention des Kreises – auch schmackhaft zu machen.

Übernahme von Organisation sowie Fahrt- und Übernachtungskosten.

Dabei unterstützt der Weiterbildungsverbund des Vogelsbergkreises die Studenten durch die Übernahme von Organisation sowie Fahrt- und Übernachtungskosten.
Betreut werden die angehenden Mediziner während ihrer Vogelsberger Zeit von den akademischen Lehrpraxen und von Professorin Dr. Erika Baum, die den Lehrstuhl für Allgemeinmedizin an der Uni Marburg innehat. Sie hielt jetzt auch das Seminar in Alsfeld, in dem es hauptsächlich um Themen „Chronisch Kranker“ ging: Komplexe Anamnese, Arzneimitteltherapie und Pharmakotherapie.

Damit lieferte die Dozentin zusätzliches theoretisches Wissen, zu den jüngst gemachten Praxiserfahrungen im täglichen Alltag im Hausarztdasein, und machte den angehenden Medizinern ein weiteres Mal klar, dass es im Alltag eines Allgemeinmediziners nicht nur um Heilung, sondern auch oftmals um der Erhalt von Lebensqualität sowie symptomatische oder palliative Behandlungen gehe.

„In den Praxen bringen wir den Studenten das allgemeinmedizinische Handeln näher“, erläutert Gastgeber Jochen Müller. „Denn das Handeln eines Hausarztes unterscheidet sich doch wesentlich von dem von Klinikärzten.“ Langzeitbetreuung und Hausbesuche – bei denen neben der Medizin auch der soziale Aspekt eine wichtige Rolle spiele – seinen klare Unterschiede. Aber auch den Verlauf einer Erkrankung richtig einzuschätzen, bevor er gefährlich wird, sei wichtig und extrem oft gefragt. „Ein Chroniker kann beispielsweise trotzdem ein akuter Notfall sein – einfach erläutert: Ein Patient mit chronischen Darmproblemen kann sich erneut mit Bauchschmerzen in der Praxis vorstellen und plötzlich unter einer akute Blinddarmentzündung leiden, bei der sofort eine Operation notwendig ist. Unsere Aufgabe ist es, so etwas sofort zu erkennen und entsprechend zu handeln.“

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Gruppenbild der Studenten mit Professor Dr. Erika Baum.

„Toreromedizin“ und „Bergführermedizin“

Professorin Baum beleuchtete in der dreistündigen Schulung die Allgemeinmedizin in niedergelassenen Praxen von einer anderen Seite. Sie sprach von der „Toreromedizin“ und der „Bergführermedizin“ – zwei Rollen für den Arzt, zwischen denen er ständig hin und her wechselt – je nach den individuellen Erwartungen und Bedürfnissen der Patienten. Während der „Torero“ in der Akutmedizin gefragt ist – Platzwunden müssen genäht, Beinbrüche genagelt, Erkältungen oder Hexenschüsse behandelt werden – hat der Bergführer die schwere Aufgabe mit Patienten zusammenzuarbeiten, die oftmals nicht dankbar und schnell wieder gesund, glücklich und zufrieden sind. Im Gegenteil: Chronische Patienten sind oft unzufrieden, desillusioniert und frustriert. Deshalb sei dort nicht nur medizinische, sondern vor allem auch auf kommunikativer und sozialer Ebene mehr Engagement des Arztes notwendig.

„Die Basis einer guten medizinischen Betreuung eines chronisch Kranken ist die komplexe Anamnese“, ermahnt Baum. „Oftmals haben diese Patienten nicht nur eine Erkrankung sondern gleich mehrere – dort müssen wir Allgemeinmediziner sehr genau hinhören, hinsehen und kommunizieren.“ Und das haben die Studenten – nicht nur in ihrer Zeit in den Lehrpraxen, sondern auch bei der Fortbildung in der sie neben den Rollen der Patienten auch etwas über den Einsatz von unterschiedlichen Medikamente und Wirkungsweise erfahren haben, die DMP (Disease Management Programme) für Kreislauferkrankungen, Diabetes, COPD oder Asthma kennenlernten und etwas über Gesprächsführung lernten.

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