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Erinnerung: Als Alsfeld noch Boxer hatteDie sich für den Rausch im Ring quälten

ALSFELD (aep). An den Tag kann Jürgen Merle sich noch gut erinnern, damals, 1980, als ein Treffer ans Kinn ihn fürchterlich niederstreckte. Diese Knockout-Niederlage bedeutete nicht nur das Ende seiner Karriere als Boxer, sondern fiel auch zusammen mit dem  Niedergang der Sportart in Alsfeld – bis zur Vergessenheit. Doch Jürgen Merle erinnert sich: In Alsfeld gab es einmal richtig erfolgreiche Faustkämpfer. „Wir haben für den Sport gelebt.“

Wer weiß denn heute noch, dass vor 30, 40 Jahren Alsfelder und Vogelsberger Boxer in der 1. Bundesliga kämpften und sogar Profikarrieren anstrebten? Wer kennt noch den Trainer Dieter Lomp und seine fürs Boxtraining umfunktionierte Werkstatt? Übrig geblieben sind heute vor allem zwei Namen: Harald Künstler und Jürgen Merle, zwei Sportler gesetzten Alters, die auch schon vor großem Publikum auftraten – aber heute vor allem darum kämpfen, für ihren Sport junge Menschen in die Sporthalle in Groß-Felda zu locken. Eher vergeblich.

Das war mal anders, erzählt Jürgen Merle. Der 54-Jährige ist heute als ewiger Schwimmmeister und -sportler bekannt. Eine Schüssel voller Medaillen im Wohnzimmer erinnert an Erfolge, die er bei etlichen Meisterschaften errungen hat. Ein großes Foto an der Wand weist aber auch auf seine frühere Passion: Muhammad Ali, wie er über einen gestürzten Gegner aufragt. „Mein Idol“, grinst Merle. Aus einem dicken Album sucht er einen Zeitungsartikel heraus: vier junge Männer mit Pokalen in der Hand. „Das war 1977. Da haben wir zu viert an den Deutschen Meisterschaften teilgenommen.“ Und Pokale mit heim gebracht. 1977: Das war das beste Jahr des Vogelsberger Boxens.

Begonnen hatte aber alles sieben Jahre vorher, als Jürgen Merle mit Bruder Rainer auf dem Weg zum Schwimmbad den unbewachten Boxring in der Gerhart-Hauptmann-Schule entdeckten. Kurzerhand schnappten die Bengel sich Boxhandschuhe und droschen aufeinander ein. Ein Mann beobachtete die Jungen: Dieter Lomp. Er sagte einen Satz, der alles verändern sollte: „Ihr habt ein Kämpferherz. Ihr solltet richtig boxen lernen!“

Gegen den erklärten Widerstand der Eltern nahmen Rainer und sein jüngerer Bruder Jürgen fortan am Boxtraining vom SV 06 Alsfeld teil – heimlich. Trainer Dieter Lomp hatte damals eine ganze Riege junger Boxer unter seiner Fittiche, und er forderte von ihnen unbedingte Hingabe. „Er hat gelebt für den Sport“, erzählt Jürgen Merle – und seine Schützlinge taten es ihm nach. „Manchmal war das knüppelhart. Er hat uns auch Sonntagmorgen zum Training geladen, und wehe, man kam nicht. Dann hat er einen zu Hause abgeholt und erst richtig gescheucht.“ Fürs Training räumte Lomp, der längst nicht mehr in Alsfeld lebt, auch schon mal seine Buchdrucker-Werkstatt um: da wo heute die „Turmstube“ beheimatet ist. „Wir haben dem Mann viel zu verdanken“, erinnert sich Merle. „Es war ein väterliches Verhältnis.“

1970 gründete sich auch der Boxring Alsfeld: eine Vereinigung talentierter Boxer, die in ihrem Sport vorankommen wollten. „Wir haben zweimal die Woche trainiert und am Wochenende geboxt.“ Dazu zählten neben Jürgen und Rainer Merle zum Beispiel auch Rainer Fischer und Harald Künstler, die 1977 von den Deutschen Meisterschaften Pokale mitbrachten, für dritte Plätze, und sogar einen Junioren-Meistertitel für Harald Künstler. Der setzte in der Woche danach noch einen drauf: mit dem Gewinn der Bronzemedaille bei den Junioren-Europameisterschaften in Dublin.

Boxen-1-webJürgen Merles boxerische Laufbahn ging weiter: Für seine Bundeswehr-Sportkompanie – „Mit der Waffe hatte ich nicht viel zu tun“ – stieg er bei Militärmeisterschaften gegen Amerikaner in den Ring. Höherklassige Vereine wurden auf ihn aufmerksam: 2. Bundesliga mit dem TSV Korbach und dann 1979 und 1980 mit der TG Worms in der 1. Bundesliga.

Mit Schmunzeln erinnert der ex-Boxer sich an manche Anekdote von einst. Wie er, der stets knapp im Schwergewicht boxte, einmal bei der Bundeswehr kurzfristig zu einem Kampf im Halbschwergewicht zusagte – dafür rasend schnell abnehmen musste. Eher matt als fit stieg er in den Ring und dachte sich: „Drei Runden stehe ich nie durch. Erste Runde Sieg oder nie!“ Er gewann durch Ko in der ersten Runde. Oder wie er einmal in Braunau dem Österreicher Olaf Meier nur knapp nach Punkten unterlag, obwohl das Publikum ihn als Sieger gesehen hatte und ob des Ergebnisses buhte – und jener Meier dann gleich darauf Vize-Juniorenweltmeister wurde. Ein Schwarzweiß-Foto zeigt Jürgen Merle lang ausgestreckt im Ring liegend: „Auch das gab’s. Ein Leberhaken. Die Schmerzen kommen erst Sekunden später, aber dann geht nichts mehr.“ Er stand wieder auf und boxte weiter.

Der gerade mal 20-Jährige lernte die großen Boxer der Republik kennen und boxte auch vor 3000 oder 3500 Zuschauern. Er lernte den Rausch der Rampe kennen: „Du stehst da oben und alles grölt deinen Namen, ein Wahnsinnsgefühl! Du bist voll Adrenalin, dann kommt der Gong, und dann hörst du nichts mehr.“ Jener heftige Niederschlag 1980 beendete aber die Laufbahn des noch jungen Talentes, weil die Schäden im Kopf bei weiteren Treffern Schlimmeres befürchten ließen. Schweren Herzens hängte Merle die Boxhandschuhe an den Nagel – auch seiner jungen Familie zuliebe. Und mit den folgenden Jahren folgte der Niedergang der Alsfelder Boxkultur Mitte der Achtziger löste der Boxring sich auf.

Dabei würden die alten Haudegen Künstler und Merle gerne wieder mehr Jugendliche fürs Boxen gewinnen (für Interessenten die Mobil-Nummer von Harald Künstler: 0160-96810382). Nur selten noch lassen sich junge Leute auf die Boxwelt ein: „Viele denken, es geht darum: Handschuh an und auf die Nas‘! Aber man muss mit dem Kopf bei diesem Sport dabei sein. Man muss voll fit sein!“ Die meisten Jugendlichen seien zudem nicht mehr bereit, bis zur Schmerzgrenze zu trainieren – wenn sie überhaupt noch dürfen. Dabei wirbt Merle fürs Boxen: „Boxen ist ein intelligenter Sport. Das Training ist unheimlich gut für Ausdauer und Beweglichkeit.“ Und außerdem: „Wenn man sich am Sandsack abarbeitet – das baut unheimlich Aggressionspotenzial ab.“

 

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