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SERIE: Sagen Sie mal! – Der unruhige Rentner Dr. Bernd Liller übers Altsein und JugendAuch Enten füttern ohne schlechtes Gewissen

LAUTERBACH. Es gibt Menschen in der Region, die man irgendwie kennt, Menschen, die für Ansichten und Einsichten stehen – Menschen, die man schon immer mal was fragen wollte. Oberhessen-live tut das in einer neuen Serie: “Sagen Sie mal…” Vierter in der Reihe ist der Lauterbacher Dr. Bernd Liller: Rentner in Unruhestand. Bis 2006 war der 68-Jährige in der Helios-Klinik Oberwald Grebenhain Leiter der Anästhesie-Intensiv, ist seit Jahren Mitglied des Seniorenbeirats, war auch dessen Vorsitzender, und ist Initiator verschiedener Projekte. Er ist verheiratet, hat zwei Söhne und drei Enkelkinder.

 

Sagen Sie mal, Herr Liller!
Rentner, so sagt man, haben keine Zeit. Kann es sein, dass Sie mit all‘ Ihren Aufgaben in der Hinsicht ein Prachtexemplar sind? Oder gehen Sie auch mal Enten füttern?

Gefühlsmäßig habe auch ich wenig Zeit. Da mir das aber immer seltsamer vorkam, sozusagen als allgemeines Rentnerphänomen, habe ich überlegt, was an dem Gefühl real ist. Es ist einfach, dass man nicht mehr gezwungen ist, seinen Tageslauf straff zu organisieren, man aber dennoch mancherlei erledigt haben möchte. Somit ist die Zahl der verfügbaren Stunden eingeschränkt, die wichtigen und auch freiwilligen Pflichten zur Verfügung steht. Seitdem ich das für mich so sagen kann, gehe ich auch mal „Enten füttern“, ohne ein schlechtes „Ich-habe-keine-Zeit-Gewissen“ zu haben. Vermutlich geht es anderen Senioren ähnlich wie mir.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Bild der „Alten“ grundlegend geändert. Viele 60-Jährige strotzen noch vor Vitalität. Was würden Sie sagen: Ab wann ist man alt?

Nun, die strotzende Vitalität mag bei vielen Menschen vorhanden sein, die nicht wirklich körperlich schwer arbeiten mussten und darüber hinaus noch von schweren und belastenden Krankheiten verschont blieben. Das ist aber nicht wirklich selbstverständlich. Man sollte für solche Rentnervitalität wirklich tief dankbar sein. Ich kenne genug Menschen, die sich „kaputt gearbeitet“ haben. Sich alt zu fühlen, hängt eher damit zusammen, wie man seine eigene Situation beurteilt. Wer jeden Tag von sich sagt, es sei „früher“ mit ihm besser gewesen, der wird sich eher alt fühlen, als derjenige, der seine aktuelle Situation und Befindlichkeit gut akzeptieren kann und damit zufrieden ist. Eine richtige Grenze in Jahren gibt es nicht für Senioren.

Oder anderes gefragt: Senioren sollen heutzutage hier Sport machen, sich dort aktiv engagieren. Ab wann darf man einfach alt sein und einfach die Tage genießen, ohne ständig aktiv sein zu müssen?

Das öffentliche Aktivsein, das Verbessern der persönlichen Kondition und Befindlichkeit ist für den Alternden eine gute Methode, eben sich nicht so alt zu fühlen. Wer nur noch passiv daher lebt, der wird wohl kaum mit seinem Seelenzustand zufrieden sein. Irgendeine Aufgabe, wie man so sagt, ist immer gut zu haben. Und wenn es das neue Sortieren von Sammlungsstücken ist oder das Lesen von bisher nicht in die Hand genommenen Büchern. Persönlich mache ich relativ viel körperliche Fitnessaktionen, obwohl ich als Jugendlicher und berufstätiger Mann eine sportliche Null war. Das regelmäßige Trainieren hilft mir jetzt, die doch schon auftretenden Alterungserscheinungen in Koordination und Muskelanforderungen besser zu bewältigen.

Sie sind unter anderem im Lauterbacher Seniorenbeirat aktiv, waren da sogar mal Vorsitzender. Wie ist Ihre Erfahrung: Wird ein solches Gremium als Vertretung für Senioren in der Altersgruppe tatsächlich wahrgenommen?

Die Senioren selbst nehmen das Gremium als solches schon wichtig. Das zeigt sich nicht zuletzt an der relativ hohen Wahlbeteiligung in den Urwahlen per Brief. Wenn ich recht erinnere, war die Wahlbeteiligung der Wahlberechtigten über 60 höher, als bei der jetzigen Europawahl. Wenn man dann noch einrechnet, dass viele sehr betagte Senioren wegen Einschränkungen in der Auffassungsgabe gar nicht mehr wählen können, ist bei den sogenannten aktiven Alten das Wählen wichtig gewesen. Unsere Aktionen in meiner Ägide, und auch jetzt, wurden positiv von den Meinungsbildnern begleitet, ja wir konnten sogar manche Dinge verwirklichen, die generationsübergreifend wichtig sind.

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Bisher in dieser Reihe: Henner Eurich, Michael Riese und Elisabeth Hillebrand

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Ich denke da zum Beispiel an die Immobiliendatenbank, die mit Hilfe des städtischen IT-Experten und meiner Ideenhilfe auf die Beine gestellt wurde und jetzt allen nach Lauterbach ziehenden Bürgern zeigt, wo Wohnraum und Geschäftsräume im Städtchen frei sind. Das hat dann was mit Stadtentwicklung zu tun. Auch den Boden zu bereiten für eine andere Denke im Wohnen von alten Menschen, war und ist dem Seniorenbeirat ein echtes Anliegen. Mittlerweile ist es bei Investoren und Kommunen angekommen, dass das Herrichten von Altbauten oder Bauen von Neubauten im barrierefreien Stil für Jung und Alt wichtig sind. Lauterbach hat da einige gute Objekte vorzuzeigen, die von Privatinvestoren gestaltet wurden. Die Ideengabe im Rahmen des Stadtumbau West ist auch in dieser Richtung zu sehen. Worin der Seniorenbeirat nicht so aktiv ist, sind die vergnügungstechnischen Dinge, wie Kaffeefahrten, Ausflüge und Zusammenkünfte. Da hält er sich zurück, das wird schon von den freigemeinnützigen Organisationen gut gestaltet.

Was sind eigentlich die häufigsten Anliegen, die an Sie als Seniorenbeiratsmitglied herangetragen werden? Was bedrückt die Alten?

Fangen wir bei der letzten Frage an: die Vereinsamung der Alten ist ein großes Problem. Zu oft stirbt der Lebenspartner, und ja, auch Altersscheidungen machen sich schon bemerkbar. Da wohnt dann ein einsamer Partner/In in seiner Wohnung oder Immobilie und ist alleine, die freundschaftlichen Bande sind oft mit dem Abgang des Partners auch geschrumpft. Es sind ja die Frauen, die letztendlich übrig bleiben, und die haben es mit den Alltagsdingen dann oft nicht einfach.

Das fängt an bei den praktisch-handwerklichen Dingen in Haus und Hof und endet bei dem Papierkram mit den Banken und Behörden. Viele haben auch keine Fahrgelegenheit mehr, da ist dann das tägliche Bewegen von den Ortsteilen her schon ein Riesenproblem. Einkaufen, Kontakte zu Dienstleistern und so weiter sind einfach schwierig. Die Seniorenhilfe Maar-Lauterbach ist da , Gott sei Dank, vorbildlich tätig und hilft, wo es brennt. Leider können die auch nicht Daueraufgaben übernehmen. Angehörige, Nachbarn und Freunde müssen schon helfen können. Wenn es die nicht gibt, bleibt oft nur das Umsiedeln in eine Alteneinrichtung. Dieser Schritt wird naturgemäß immer sehr spät genommen, und ist dann um so schwerer zu ertragen.

Unsere vor sieben Jahren gemachte Umfrage hat eindeutig gezeigt, dass die Älteren ein Wohnen in Nähe von Dienstleistern, Gaststätten und Einkaufsmöglichkeiten vorziehen würden. Auch wären sie im Alter schon noch bereit, sogar von den Ortsteilen in den Stadtkern umzusiedeln, um eben diese Qualität des Wohnens möglichst lange erhalten zu können. Diese Umfrage ist übrigens bei Veröffentlichung auf eine rege Resonanz bei den Entscheidern und Meinungsbildnern gestoßen. Die Stadt hat die Umfrage in Auftrag gegeben, unsere Führungsriege des Seniorenbeirates hat sie ausgearbeitet und vorangetrieben. Heute ist schon Vieles, was in der Umfrage noch Wunsch war, umgesetzt.

Ein weiteres Traumprojekt ist meinerseits, dass mit Hilfe der Stadt , ein Quartiersbetreuer-System eingerichtet wird. Das gibt es schon anderen Orts. Hierbei kümmert sich eine autorisierte Person um das Herausfinden von Problemhaushalten, deren Einbindung in das allgemeine Tagesgeschehen, Beratung in Dingen des Zusammenlebens und der Behördenschwierigkeiten, zusammenbringen von nachbarlich wohnenden Gleichgesinnten und so weiter. Da würde sich ein weites Feld für das Zusammenbringen von Jung und Alt ergeben. Per Saldo könnte so eine Quartiersbetreuung die Lebensqualität der Bürger/Innen im Quartier deutlich anheben. Wo man das startet, ist gleich, Hauptsache es wird nachhaltig gemacht und nicht nur als Eintagsfliege. Da würde ich mir die Unterstützung der Kommune wünschen, die die Schulungen der Quartiersbetreuer tragen könnte und deren Legitimation zum Aufsuchen der Haushalte ermöglichte. Freiwillige würde man schon dafür finden. Ideal wäre natürlich die Begleitung durch einen professionellen Sozialarbeiter.

Man spricht heute von der Schnelllebigkeit der Zeit – von einem Tempo, bei dem Alte nicht mehr mithalten können. Müssen sie das eigentlich? Oder dürfen Senioren sich zurücklehnen und sagen: Hetzt Ihr Euch mal, das geht mich nichts mehr an?

Das geht jetzt ins Philosophische, denn es ist letztendlich eine innere Einstellung, ob man sich gehetzt fühlt oder nicht. Wenn ich allerdings sehe, wie heute sogar ältere Erwachsene mit stierem Blick auf ihr Smartphone starren und für sonst nichts mehr ansprechbar sind, dann habe ich so meine Bedenken, ob das für uns Alte wirklich gut ist. Die Auge-zu-Auge-Kommunikation der Menschen leidet massiv unter dem Geglotze auf die kleinen Bildschirme. Den Jugendlichen bekommt das eigentlich auch nicht, aber die werden es schon noch merken. Es ist nicht nötig, immer und überall verfügbar zu sein, für Niemanden. Insofern bilden Junge und Alte da keine Unterschiede im gesellschaftlichen Schnelllebigkeits-Kataster. Sich mal genüßlich zurücklehnen, beobachten und alles an sich vorbei strömen lassen, das ist ein Stück Lebensqualität, das sich jeder, auch der Alte, ab und zu mal gönnen sollte.

Früher galt die alte Generation als Maßstab für die Jungen. Heute, so scheint es, ist die ewige Jugend der Maßstab für alles. Was meinen Sie: Wo können junge Leute heute noch von ihren Großeltern lernen?

Da möchte ich nicht den Schulmeister spielen. Ich bin in den 68ern aufgewachsen, habe aber aufgrund meines Medizinstudiums überhaupt keine Zeit gehabt, mich auf der Revolte-Szene zu engagieren. Dennoch bedauere ich es heute, nicht ab und an mal gegen bestehende Missstände demonstriert zu haben. Missstände in der Gesellschaft müssen immer beim Namen genannt werden dürfen, auf friedliche und demokratische Weise in die Gremien getragen und dort dann behandelt werden. Schweigen schafft Leiden, Beispiele dafür gibt es viele, wie jeder weiß, der an unserer kleinen und großen Welt noch interessiert ist.

Ich kann junge Menschen nur ermutigen, so sich zu benehmen, wie sie es von anderen auch erwarten. Ferner sollte ein lebenslanger Hunger nach neuem Wissen und Fertigkeiten gepflegt werden, nur das gibt dem Individuum die Chance der Teilhabe auf längere Sicht. Ich habe das so früher nie erzählt bekommen, habe es aber dennoch umgesetzt und empfehle es daher weiter. Meinen beiden Söhnen habe ich das mitgegeben, und die pflanzen es schon in die Köpfchen der Enkelkinder. Erwachsenwerden ist ein schmerzhafter, dennoch schöner Prozess, und das kann die ältere Generation der jüngeren nicht abnehmen, sie soll es auch nicht versuchen. Lernwillige Junge werden die Ohren dann aufsperren, wenn von den Alten was heruntertropft, das dem Intellekt der Jugend plausibel erscheint. Und das ist dann schon sehr viel, was wir Alten den Jungen geben können. Aufzwingen kann und soll man nichts.

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