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Interview mit Hausärztin Susanne Sommer über den Ärzte-Protest„Sie werden beim Facharzt wieder wesentlich länger auf Termine warten“

MÜCKE (akr). Normalerweise hat die Praxis von Hausärztin Susanne Sommer in Ruppertenrod Mittwochs geöffnet. An diesem Mittwoch jedoch nicht – aus Protest. Das Fass sei „übergelaufen“, sagt die Ärztin. Ein Gespräch über fehlende Wertschätzung, steigende Kosten, wirtschaftliche Unsicherheit, und Folgen für Patienten.

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen blieben an diesem Mittwoch in ganz Deutschland viele Hausarztpraxen aus Protest geschlossen – auch im Vogelsbergkreis. Susanne Sommer, Hausärztin aus Mücke und Vorsitzende des Bezirks Vogelsberg des Hausarztverbandes Hessen, erzählt im Interview mit Oberhessen-live, warum sie an der Aktion teilnimmt, welche Folgen die Sparpläne der Bundesregierung haben und was sich ihrer Meinung nach dringend ändern müsste.

Oberhessen-live: Überall in Deutschland blieben Hausarztpraxen aus Protest am Mittwoch geschlossen – auch Ihre. Warum? 

Susanne Sommer: Die Gründe sind sehr vielfältig. Dass die Neupatientenregelung kürzlich im Bundestag gekippt wurde, hat das Fass zum Überlaufen gebracht.

Neupatientenregelung – was ist das?

Diese Regelung wurde vor erst vor drei Jahren mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz eingeführt. Sie sah vor, dass jeder Arzt, der einen Patienten neu aufnimmt oder nach zwei Jahren erstmals wieder behandelt, diese Behandlung komplett bezahlt bekommt. Für die Fachärzte ist die Abschaffung dieser Regelung ein großes Thema, weil sie nun ab einer gewissen Patientenzahl wieder abgestaffelt werden. Das bedeutet: Sie bekommen ab einer festgelegten Patientenzahl nicht mehr 100 Prozent bezahlt, sondern nur noch 70 Prozent.

Das wäre so, als würde ein Schreiner die letzten 14 Tage pro Quartal umsonst Fenster einbauen. Das würde auch keiner machen. Sprich: Die Praxen arbeiten mehr, haben mehr Stress, aber bekommen nicht das volle Geld dafür. Das ist einfach nicht attraktiv, das muss man so sagen. Deshalb hat man auch diese Neupatientenregelung eingeführt, dass jeder Patient, der neu in einer Praxis ist, zu 100 Prozent entlohnt, also voll bezahlt wird.

Welche Folgen hat die Streichung der Regelung für die Patienten und Ärzte?

Für Patienten hat die Streichung der Regelung eine große Bedeutung: Sie werden beim Facharzt wieder wesentlich länger auf Termine warten –länger als ein halbes Jahr. In der Breite wird das eine spürbar schlechtere Versorgung bedeuten. Hinzu kommt, dass auch die Dichte an Hausärzten deutlich abnimmt in den nächsten Jahren. Patienten werden bis zu 30 Kilometer fahren müssen, wenn nicht sogar mehr. Bis zu 49 Kilometer bis zum Hausarzt zu fahren ist übrigens laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung zumutbar. Auf Facharztebene heißt das auch, dass die Kollegen keine Sondertermine und Sonderschichten mehr anbieten, um die Patienten zu versorgen.

Und was ist mit fachärztlichen Notfällen?

Wenn wir einen Notfall haben, werden wir das auf kollegialer Ebene sicherlich lösen können. Aber die normale Versorgung, wenn jemand beispielsweise mit Knieschmerzen kommt und einen Termin beim Orthopäden braucht: Das wird dauern, bis man einen Termin bekommt.

Doch die Neupatientenregelung ist nicht das einzige Problem. Oder?

Auf der Ausgabenseite werden wir behandelt wie ein Wirtschaftsunternehmen. Wir tragen das volle Risiko, wir müssen mit allem haushalten. Auf der Einnahmenseite werden wir aber komplett gegängelt und das wird immer schlimmer. Wenn man uns jetzt keinen Inflationsausgleich gewährt, dann ist irgendwann Schluss. Dann können die Universitäten noch so viele tolle Projekte auf die Beine stellen oder das Land Hessen versuchen, junge Mediziner aufs Land zu holen – es wird nicht funktionieren.

Wir sitzen nach jeder Sprechstunde mindesten ein bis zwei weitere Stunden über Papierbergen.

Sich als Arzt oder Ärztin niederzulassen, kann man jungen Menschen heute nicht mehr zumuten. Hinzu kommt die bürokratische Überfrachtung sämtlicher Abläufe in der Praxis mit zum Teil vollkommen unsinnigen Vorgaben: Wir sitzen nach jeder Sprechstunde mindesten ein bis zwei weitere Stunden über Papierbergen. Außerdem haften wir immer mit unserem Privatvermögen: Ärzte müssen Strafe zahlen, wenn sie zu viel Krankengymnastik oder zu viel teure Medikamente verordnen.

Das ist einfach so ein Wust geworden. Politik und Krankenkassen sind auf dem besten Weg dahin, das System kaputt zu sparen. Es sind einfach viele Dinge in letzter Zeit passiert. ‚Wer macht dieses Gesundheitssystem?‘ fragt man sich.

Das klingt, als hätte sich eine Menge angestaut – was ist denn das größte Problem Ihrer Meinung nach?

Ich kann gar kein größtes Problem benennen. Es ist diese Anhäufung von vielen kleinen Dingen, die da gerade passiert sind – und dass in einer Zeit, in der wir als Mediziner sehr beschäftigt waren, die Pandemie mit in den Griff zu bekommen. In dieser Zeit sind viele Gesetze entstanden, bei denen ich mich frage: Sieht man eigentlich nicht, was hier geleistet wird? Das hat nichts mit Wertschätzung zu tun, die fehlt auf bundespolitischer Ebene. Und dann das mit der Neupatientenregelung, das ist nun einfach zu viel.

Was genau wünschen Sie sich von der Politik?

Wir wünschen uns von der Politik Wertschätzung. Dass eine Digitalisierung, die eingeführt wird, auch ausgereift ist. Wir wünschen uns auch, dass bei uns ein Inflationsausgleich stattfindet, dass man mit uns spricht, und zwar auf der Ebene: „Was braucht ihr?“

Die Inflation macht also auch vor Arztpraxen keinen Halt.

Wir sind ein Wirtschaftsbetrieb. Alles, was man braucht in der Firma – vom Kugelschreiber bis zum Heizöl, das kaufen wir genauso ein, wie ein anderer Wirtschaftsunternehmer. Strom, Papier, Heizung, Verbandsmaterial, Sprit fürs Praxisauto, das zahlen alles wir.

Es ist nicht der erste Streik – bereits vor etwa einem Monat blieben zahlreiche Praxen geschlossen. Wie haben eigentlich die Patienten reagiert?

Sehr positiv. Sie haben verstanden, worum es uns geht, und fanden es gut, dass wir das machen. Die Patienten wertschätzen uns. Die wissen, dass wir für sie da sind, wenn sie in Not sind. Sie stehen hinter uns.

Vogelsberger Arztpraxen am Mittwoch geschlossen

Und wie ist die Stimmung in Ihren beiden Praxen?

Es ist schon sehr angespannt. Wir sind alle ziemlich erschöpft von über zwei Jahren Pandemie. Hinzu kommen noch die Patientenzahlen, die auf uns zu rollen, immer freundlich, immer nett sein, und manchmal sind die Menschen gar nicht nett zu uns, weil sie beispielsweise telefonisch nicht bei uns durchkommen. Wir sind erschöpft, weil es wirklich eine anstrengende Zeit ist und wenn man dann in dieser Zeit nicht die Wertschätzung erfährt, ist es noch problematischer. In meiner Praxis habe ich ein tolles Team und wir versuchen, die Situation zu stemmen und das Beste daraus zu machen.

Was sind denn die größten Herausforderungen, die Sie in Ihrer Praxis und in Ihrem Beruf als niedergelassene Medizinerin bewältigen müssen?

Wirtschaftlich zu arbeiten und parallel dazu ausreichend Zeit für die Patientenversorgung zu haben.

In Ihrer Pressemitteilung schrieben Sie: „Der Mangel an Hausärztinnen und Hausärzten wird sich noch verstärken.“ Wieso befürchten sie das?

Der Beruf wird aus den genannten Gründen – überbordende Bürokratie, wirtschaftliche Unsicherheit und die drohende persönliche Haftung – immer weniger attraktiv. Man merkt, dass junge Menschen immer mehr in Bereiche abwandern, die nicht direkt mit der Patientenversorgung zu tun haben, beispielsweise der Medizinische Dienst oder Krankenkassenbereiche. Hinzu kommt, dass Kollegen, die jetzt in Ruhestand gehen, eine andere Arbeitsweise haben, als die, die jetzt kommen. Die jüngeren Kollegen wollen lieber in Gemeinschaftspraxen und nicht alleine arbeiten. Deshalb ist uns es wichtig, dass wir für die jungen Menschen Rahmenbedingungen schaffen, damit sie anständig arbeiten können und auch bin dem Beruf bleiben.

Wie könnten Lösungen denn Ihrer Meinung nach aussehen?

Wichtig ist es, dass man jetzt mal von Seiten der Politik dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen auf die Füße tritt und sagt: Jetzt ist mal gut. Natürlich muss ein Inflationsausgleich her, natürlich dürfen Mediziner nicht mit ihrem Privatvermögen für ihre Patienten haften. Das geht einfach nicht und man muss sich da auch mal ein bisschen einmischen.

Parallel dazu müssen wir Arbeitsbedingungen schaffen, in der die junge Generationen arbeiten will: Gemeinschaftspraxen, verschiedene Arbeitsmodelle passend für die junge Generation und die Möglichkeit, Familie und Beruf gut zu vereinbaren. Gerade in Gemeinschaftspraxen hat man mehr Flexibilität, wenn man beispielsweise mal nicht arbeiten kann.

Wie ernst schätzen Sie die ganze Lage ein?

Ich glaube, dass die Lage ernst ist, aber wenn man jetzt reagiert, kann man es durchaus noch in gute Bahnen lenken kann.

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