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Angequatscht bei Studie-Party: Versicherungsvertreter geht auf NachwuchsjagdBauernfang oder Karriere „mit geilen Frauen“?

REGION/ERFURT. Wer als Student angetüdelt durch die Kneipe torkelt, landet im Normalfall mit ner süßen Kommilitonin in der Kiste – oder allein vorm WG-Klo. Andere, anomale Möglichkeit: Man steht kurz nach der Studie-Party in einer Finanzagentur, bekommt ein fragwürdiges Jobangebot und wird auf ein klischeehaftes Versicherungsvertreter-Besäufnis eingeladen. „Geile Frauen“ sind auch da, garantiert der Chef. Klingt doch nach ner seriösen Karriechance – oder zumindest einer abgedrehten Geschichte.

Es ist Freitagabend, kurz vor 20 Uhr. Ich sitze gemeinsam mit meinem Vater auf unserem Hof und genieße meine Pizza. Mein Handy hätte geklingelt, ein junger Mann sei dran, sagt meine Mutter und bringt mir mein Telefon. Verdammt. Ich dachte, der Typ würde aufgeben, wenn ich nicht auf seine Anrufe und SMS reagiere. Das war wohl ein Trugschluss. Der Kerl am Telefon, nennen wir ihn mal Sven, ist hartnäckig.

Ob ich ihn noch kennen würde, wir hätten uns am Mittwoch in der E-Burg, einer Erfurter Studentenkneipe, unterhalten. „So? Davon weiß ich gar nichts mehr“, sag ich und lüge dabei. Im Hinterkopf weiß ich sehr wohl noch die Umrisse unseres kleinen Gesprächs. Ich ruhte mich gerade an einem der Tische in dem Gewölbekeller aus, als sich jemand zu mir setzte.

Irgendwas mit Versicherung

Nebenjob, Versicherung, Geld verdienen – solche Schlagworte sind wohl gefallen. Und da der böse Alkohol den Menschen gutgläubig macht und Studenten bekanntlich nicht die reichsten Menschen der Welt sind, gab ich Sven meine Handynummer. Wir vereinbarten noch am Tisch ein Treffen für den nächsten Morgen – doch ich blieb lieber liegen und schlief meinen Rausch aus. Das ist der Grund, warum Sven jetzt wieder am Telefon ist. Ob wir uns nicht doch noch treffen wollten, fragt er. Ich beschließe, mich auf das Experiment einzulassen.

Dienstagmorgen, 10,04 Uhr am Domplatz-Süd in Erfurt, die Sonne strahlt. Sven kommt auf mich zu, in der einen Hand einen Pappkaffebecher, in der anderen eine Bäckertüte. Der dunkle Anzug passt dem etwa 1,75 Meter großem Mitte 20-Jährigen nicht ganz optimal, das Jackett schlackert im Wind. Wir steigen gemeinsam in die Straßenbahn, Linie vier, Richtung Flughafen. Zeit, mich mal schlau zu machen. „Was ist das eigentlich für ein Laden, für den du arbeitest?“. Seine Firma gehe aktiv gegen Versicherungsbetrug vor, hieß es immer nur am Telefon. Das klang natürlich aufregend, nach Gerechtigkeit, nach der guten Sache. In der Straßenbahn stellt sich langsam heraus: Sven ist kein Robin Hood der Moderne, sondern lediglich Versicherungsvertreter.

Seine Kollegen und er würden ihren Kunden zeigen, wo sie in Sachen Geldanlagen und Versicherungen bislang übers Ohr gehauen wurden, um ihnen dann bessere Produkte zu verkaufen. Aha. Ob es eigentlich normal sei, dass seine Firma ihren Nachwuchs nachts um eins aus einer Meute besoffener Studenten heraus rekrutiere, frage ich. Der Normalfall sei das nicht, sagt Sven– aber er persönlich habe dort schon oft Erfolg gehabt. Ich bin wohl der lebende Beweis, dass diese Taktik nicht die dümmste ist.

„Juri, Applaus für Juri“

Wir sind da. Ein Bürokomplex am Rande Erfurts ist unser Ziel. Eigentlich treffen sich heute nur die hauptberuflichen Mitarbeiter. Aber Sven hat mich beim seinem Chef angekündigt. Nennen wir den Chef mal Horst. Das Du ist okay, so macht man das in der Branche. Horst, ein Mann um die 50 mit großer, runder Nase und etwas zu viel Bauch, ist gerade voll aufgedreht, als wir in die Sitzung platzen. Etwa zehn Leute, darunter eine junge Frau, der Rest Männer überwiegend unter 30 mit großen Uhren an den Handgelenken, sitzen zusammen am Konferenztisch. „Ah, ja, du bist der Neue. Wie ist dein Name?“, ruft Horst wild gestikulierend durch den Raum. „Juri“, antworte ich zurückhaltend. „Juri, Applaus für Juri, komm her, setzt dich zu uns. Wer sich am Dienstag morgen so früh zu uns traut, hat einen Applaus verdient“, tönt Horst über den Tisch. Unter Beifall nehme ich neben ihm Platz.

Während Horst, der übrigens sagt, die Bundesrepublik sei kein Staat, sondern eine von den USA geführte GmbH, und der nach eigener Aussage schon mal mit dem Verfassungsschutz „zu tun hatte“, während dieser Typ also seine Mannschaft davor warnt, neben der ganzen Arbeit nicht ihr Privatleben zu vergessen, lasse ich meinen Blick durch den Konferenzraum schweifen. Auf einem Sideboard stehen haufenweise Pokale: Widmungen ähnlich wie „Quartalssieger – die meisten Verkäufe“ sind auf die Sockel eingraviert.

Göker lässt grüßen

Neben diesen heiligen Gralen der Versicherungswelt hängt ein Poster, das  firmeninterne Wettbewerbe anpreist. Bonusscheck, Luxusuhr, Kreuzfahrt – hier findet jeder den richtigen Anreiz zu verkaufen. Spätestens bei den auf dem Poster abgedruckten Fotos der Mega-Events in Messehallen, bei denen die Firma ihre Besten und sich selbst frenetisch feiert, fallen einem als Oberhessen zwei Männer ein: Der Filmemacher Klaus Stern und seine mehrfach ausgezeichnete Doku über den Kasseler Versicherungsunternehmer Mehmet Göker, dessen Mitarbeiter sich auch schon mal auf ähnlichen Feten das Firmenlogo auf den Unterarm tätowieren ließen.

Nachdem die Mannschaft für die nächste Woche eingeschworen ist, kommt Horst endlich zu dem wichtigsten Part des heutigen Meetings, wie er selbst ankündigt. Es geht um die Frage, ob er nun ein oder zwei „Partybusse“ für den Weg zum großen Quartalstreffen ordern soll. Ein paar Plätze wären noch frei. Horst, der zur Klärung dieser Frage extra aufgestanden ist und um den Konferenztisch stapft, schaut mich plötzlich an. „Juri, hast du nicht Bock, richtig geil zu feiern und Party zu machen? Geile Frauen sind auch da. Party ohne Ende. Das is doch was? Ich schreib dich einfach mal mit auf“. Sagt’s und pinselt meinen Namen an die Flipchart.

Richtig Zeit zu widersprechen habe ich nicht. Ich fühle mich auch ehrlich gesagt ein wenig überrumpelt. Das muss man der Branche ja lassen: Die Meetings hier bergen ein weit aus höheres Überraschungs- und Verstörungspotenzial als alle Redaktionskonferenzen auf der Welt zusammen.

Eine Tapete aus Erfolg

Kurze Zeit später sitze ich in Horsts Büro. Dort, wo andere Schreibtischhengste riesige abstrakte Kunstwerke hängen haben, hat Horst die Wand mit seinem Erfolg tapeziert. Nahezu die ganze, mindestens drei Meter hohe Fläche ist mit Schecks und Gutschriften zugepflastert. Ob ich etwas dagegen hätte, 400 bis 800 Euro im Monat nebenbei zu verdienen, fragt er mich. Mein Job sei die Datenerfassung: Bögen abtippen, in denen potenzielle Kunden ihren Versicherungsstatus beschreiben. Einfache Arbeit, vom Sofa aus machbar. Nach vier Stunden Crashkurs-Einführung in die Software könnte es sofort losgehen – sauberes Führungszeugnis und Schufa-Auskunft vorausgesetzt.

Wie lange ich für 800 Euro arbeiten müsste, wie genau abgerechnet wird – all das sei kompliziert. Das glaub ich ihm sogar. Egal, die Uhr tickt, ich muss zur Uni. Das kann man später klären. Wenn überhaupt. „Ich fahr dich“, sagt Horst. Ich bin echt spät dran – und nehme das Angebot deswegen an. Ein beeindruckender Geländewagen bayerischen Fabrikats setzt mich vor der Uni ab. Wenn ich drei Jahre für ihn hauptberuflich arbeiten würde, könnte ich mir auch so ein Ding leisten, sagt Horst.

Doch daraus wird nichts werden. Nach meiner Vorlesung hocke ich mich vor den Rechner und recherchiere im Netz über die Firma. Man findet Positives und Negatives – wie bei jedem Unternehmen. Die IHK hat nichts zu meckern, auch Stiftung Finanztest hat den Laden auf keiner schwarzen Liste. Doch ein spezieller Blogeintrag beendet meine Versicherungskarriere dann doch noch, bevor sie angefangen hat.

Dort steht: An den Chrashkurs-Abenden lerne man zwar die Software kennen, aber die Daten, die man eingibt, muss man sich selbst besorgen. Im Klartext: Gegen Ende des Kurses wird man aufgefordert, „ganz unverbindlich“ Adressen und Telefonnummern von Familie und Freunden mitzubringen und die Rechner damit zu füttern. Nur aus Übungszwecken, versteht sich. Oder auch nicht.

Sorry Horst, so wird das leider nichts mit uns. Dabei hätte ich deine „geilen Frauen“ wirklich gerne mal kennen gelernt.

von Juri Auel – mehr über den Autor 

 

 

 

 

 

 

 

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