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Teil zwei der OL-Serie übers Amtsgericht - ein Termin beim NachlassgerichtWo der Tod zum Verwaltungsvorgang wird

ALSFELD. Wer in der Region rund um Alsfeld stirbt, der hat gute Chancen, auf dem Tisch von Marlies Semmler zu landen. Nicht persönlich, aber als Akte. Semmler ist Rechtspflegerin beim Alsfelder Amtsgericht – oder genauer, beim Nachlassgericht. Hinter jedem Verwaltungsvorgang, den sie bearbeitet, steckt ein toter Mensch mit eigener, manchmal tragischer Geschichte. Aber wieviel Zeit bleibt im Alltag einer Behörde, sich darüber Gedanken zu machen? Eine Begegnung.

Es war eine Nachricht, die die ganze Region erschütterte. Im Oktober vergangenen Jahres kamen bei einem schweren Unfall zwischen Lauterbach und Schlitz zwei junge Menschen ums Leben. Ermittler fanden heraus, dass ein 34-Jähriger Mann wohl auf einem Parkplatz mit seinem Auto gewendet hatte, um anschließend mit Absicht frontal in den Wagen einer 27-Jährigen Frau zu rasen, mit der er zuvor eine Beziehung hatte. Die Staatsanwaltschaft stellte ihr Verfahren relativ rasch ein, weil kein „Fremdverschulden einer lebenden Person“ vorliege, wie es damals hieß.

Wenige Wochen nach dem Ereignis kamen die Angehörigen beider Verstorbenen zu unterschiedlichen Zeiten bei Marlies Semmler im ersten Stock des Alsfelder Amtsgerichts vorbei. Den Papierkram erledigen, der nach allen Todesfällen ansteht, egal wie tragisch sie sind. Die deutsche Bürokratie – sie kennt was das angeht keine Pietät und keine Ausnahmen. „Das ist einer der Fälle, den man natürlich so schnell nicht wieder vergisst“, sagt Semmler.

Marlies Semmler an ihrem Schreibtisch.

Seit 20 Jahren arbeitet sie beim Alsfelder Amtsgericht, seit zehn Jahren ist sie für Betreuungs- und Todesfälle zuständig. Sie sei überrascht, sagt die 57-Jährige mit einfühlsamer Stimme, wie gefasst die Menschen in der Regel sind, wenn sie vor ihr in ihrem Büro sitzen. Die erste Phase der Trauer ist bei den meisten dann bereits überwunden. Im Schnitt vier bis sechs Wochen nach dem Tod eines Angehörigen steht der Termin beim Amtsgericht an. Oft, um eine Erbschaft auszuschlagen. Für den Akt einer bloßen Testamentseröffnung muss niemand persönlich vor Gericht oder beim Notar erscheinen und zuhören, wie der letzte Wille eines entfernten Verwandten laut verlesen wird. Soetwas gebe es nur im Fernsehen, sagt Semmler. In Wirklichkeit bekommen die Familien einfach Post, wo drinsteht, was sie erben.

Bei den beiden jungen Unfalltoten war der Umgang mit den Hinterbliebenen auch für die erfahrende Rechtspflegerin etwas außergewöhnliches. Die Familie der jungen Frau habe nicht nur Trauer, sondern auch Wut verspürt, erzählt Semmler, die selbst drei erwachsene Kinder und ein Enkelkind hat. Im Gedächtnis geblieben ist ihr auch ein Fall aus Herbstein. Dort fand man die Leiche eines jungen Mannes, der sich in einer Scheune erhängt hatte. Der Mann hatte den Hof bereits von seinen Eltern überschrieben bekommen. Die hatten nun nicht nur den Tod ihres Kindes zu verkraften, sondern mussten sich auch erneut überlegen, was mit ihrem Hof geschehen sollte. Ein Umstand, der der Familie viel Kraft kostete.

Linktipp
Lesen Sie hier die erste Folge der Serie übers Alsfelder Amtsgericht. Ein Interview mit zwei Richtern über Gerechtigkeit und das Gefühl, jemanden zu verurteilen.

Egal welche Emotionen die Hinterbliebenen in ihr Büro mitbringen, Semmler versucht, sich nicht davon anstecken zu lassen. Nicht aus Herzlosigkeit, wie sie sagt. Sie würde es schlicht unpassend finden, als Mitarbeiterin eines Gerichts gemeinsam mit Angehörigen zu weinen – oder gar die Wut über andere Menschen zu teilen, die vielleicht für den Tod des Verstorbenen verantwortlich sind. Immer wieder kommt es vor, dass Angehörige ihre Trauer verarbeiten, indem sie Geschichten über ihre Liebsten erzählen. Wenn es droht auszuufern, sagt Semmler, gibt sie höflich zu verstehen, dass sie solche Details nichts angehen. Spazieren gehen oder eine Runde mit dem E-Bike fahren hilft ihr, die Schicksale nach Feierabend im Gericht zu lassen und abzuschalten.

Selber lesen lassen ist besser

Um die Belastung für beide Seiten so gering wie möglich zu halten, hat Semmler sich einen Trick zurechtgelegt. Wenn Dokumente unterzeichnet werden müssen, geht sie aus dem Raum, um nötige Kopien anzufertigen. Sie verzichtet bewusst darauf, den Namen oder das Sterbedatum unnötiger Weise laut vorzulesen. Ihre Erfahrung zeigt, dass die Menschen einfacher damit zurechtkommen, wenn sie in einer ruhigen Minute die Papiere selbst durchlesen und unterschreiben. Wenn der Verlust ,den sie durchlitten haben, nicht noch einmal verkündet wird, sozusagen.

Obwohl der Tod in Semmlers Arbeitswelt oft nur der Grund eines neuen Verwaltungsvorgangs mit entsprechendem Aktenzeichen ist, bleiben der Rechtspflegerin gesellschaftliche Veränderungen durch ihre Arbeit nicht verborgen. So würden Erbschaften heute wesentlich häufiger als früher ausgeschlagen, weil entweder nichts oder nur Schulden zu erben seien, sagt sie. „Das ist besonders häufig bei Menschen aus der ehemaligen DDR der Fall. Da besteht oftmals keinerlei Kontakt mehr zu Verwandten, die in der Region dort noch leben.“

Zwei Schlüssel öffnen einen der drei feuerfesten Safes, in denen etliche Testamente lagern.

Auch sei die Anzahl der Kinder, die sich für die Beerdigung ihrer Eltern nicht zuständig fühlen, spürbar angestiegen. „Doch das geht nicht. Die Kosten für das Begräbnis werden nur von staatlicher Seite übernommen, wenn es sich die Hinterbliebenen nachweislich nicht leisten können“, sagt sie.

Wird einem Standesamt im Einzugsgebiet des Alsfelder Amtsgericht ein Todesfall gemeldet, so landet über die Ortsgerichte eine Akte mit einer sogenannten Sterbefallanzeige auf Semmlers Schreibtisch. Oder dem ihres Kollegen Horst Deisenroth. Die beiden prüfen in einem zentralen Register in Berlin, ob der Verstorbene in einem der drei feuerfesten Safes nebenan ein Testament hinterlegt hat, ermitteln, welcher Angehörige Anspruch auf welchen Erbanteil hat und sichern mitunter den Nachlass – das heißt, sie bestellen zum Beispiel einen Nachlasspfleger, der Versicherungen kündigt und Konten verwaltet.

Betreuung durch Fremde nimmt zu

Semmler hat neben Todesfällen aber noch einen zweiten Zuständigkeitsbereich – den der gesetzlichen Betreuungen. Wer Hilfe im Alltag benötigt, kann einen gesetzlichen Betreuer zur Seite gestellt bekommen. „Das hat nichts damit zu tun, dass jemand verrückt ist“, erklärt sie. Psychisch Kranke können genau so einen Betreuer bekommen wie Menschen, die an Demenz leiden oder aus sonstigen Gründen Hilfe bei Erledigungen auf Ämtern, Banken und dergleichen benötigen. Nur in Extremfällen bekommen die Betreuer dabei soviel Befugnisse, dass sie ihre Klienten überstimmen und ihnen zum Beispiel verbieten können, etwas bestimmtes zu kaufen.

Zwar können auch Bekannte oder Verwandte von Personen sich als deren gesetzliche Betreuer eintragen lassen, doch die Zahl der Fälle, in denen die Aufgaben von professionellen Betreuern übernommen werden, sei rapide angestiegen. „Immer mehr Menschen haben niemanden, der sich um sie kümmert, wenn sie alt sind“, sagt Semmler.

Sie selbst hat ihre Erfahrung zum Anlass genommen, für den Ernstfall vorzusorgen. Eine Vorsorgevollmacht und ein Testament regeln alles, was zu regeln ist, sollte ihr etwas schlimmes zustoßen. Es sei vielleicht unangenehm darüber zu reden, sagt sie, dennoch empfehle sie das jedem – auch bereits jungen Menschen. „Damit kann man nicht nur uns im Amtsgericht, sondern auch der eigenen Familie viel Ärger und Sorgen ersparen“.

Marlies Semmler (hinten rechts) mit ihren Kolleginnen Ina Fröhlich (vorne) und Elke Hassenpflug.

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