Gesellschaft0

Gedenken an die Pogromnacht am 9. November 1938„Es war ein Mensch wie wir, ein Mensch, der leben wollte“

ALSFELD (akr). Der 9. November 1938 ist einer der dunkelsten Tage der deutschen Geschichte. Mehr als 1.400 Synagogen standen in Flammen, tausende jüdische Geschäfte, Wohnhäuser und Friedhöfe wurden zerstört, jüdische Bürger misshandelt und ermordet. Die Erinnerungen an die Reichspogromnacht sind noch immer lebendig und die Opfer, die Namen, die Menschen, keineswegs vergessen.

Das wurde an diesem Mittwoch wieder einmal deutlich, als sich über 50 Menschen zum gemeinsamen Gedenken dort versammelten, wo einst die Synagoge in Alsfeld brannte. „Gedenken wollen wir hier zusammen. Gedenken ist immer konkret, wenn es wirklich Gedenken sein soll“, eröffnete Pfarrer Peter Remy seine Ansprache. Deshalb erinnerte er zu Beginn auch konkret an diese schrecklichen Ereignisse, die an diesem Mittwoch, vor genau 84 Jahren, geschahen.

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 brannten in ganz Deutschland zirka 1.400 Synagogen, auch hier in Alsfeld brannte das jüdische Gotteshaus im Innenraum. Gegen 21.15 Uhr, so erzählte es Remy, stürmte eine johlende Menge die Synagoge, ein „wunderschönes und imposantes Gebäude“ und verwüstete dort alles, was sie in die Hände bekam. Sie warf die Fensterscheiben ein und setzten den Innenraum in Brand.

„Die Brandstifter und die Täter waren nicht nur, so wie wir es heute reflexartig sagen, Nazis. Das klingt nämlich immer so, als wären es irgendwelche Fremden gewesen, die von irgendwo hergekommen sind. Nein, die Täter, die Brandstifter waren Menschen aus der Mitte der Bevölkerung“, betonte er. Auch hier in Alsfeld seien Einheimische darunter gewesen. „Die meisten dieser Täter waren mit Sicherheit, das sage ich auch als Pfarrer bewusst, getaufte Christen“, so Remy.

Pfarrer Peter Remy.

Noch mehr Alsfelder standen dort, wo man sich an diesem Abend zum Gedenken eingefunden hatte, erinnerte Remy – sie sahen zu, was dort passierte, in der Nacht, die später nur spöttisch den Namen „Kristallnacht“ bekam, „als wäre nur Glas zu Bruch gegangen“. Remy erinnerte daran, wie die Alsfelder Feuerwehr angewiesen war, nicht zu löschen, sondern nur die angrenzenden Häuser zu schützen. „Ein Feuerwehrmann wollte dennoch in die Synagoge, um zu helfen. Er wurde mit gezogener Pistole davon abgehalten.“

Später folgte noch ein Raubzug durch die Stadt, bei dem die Fenster von jüdischen Wohnhäusern eingeworfen und Geschäfte verwüstet wurden. In der Hersfelder Straße sperrten Nazis die jüdische Männer der Stadt in einen Keller und sprachen zynisch von „Schutzhaft“. 1938 lebten von den einst 220 noch rund 100 jüdischen Einwohner in Alsfeld, drei Jahre später habe sich die Stadt damit gepriesen, „judenrein“ zu sein.

Über 50 Menschen nahmen am Pogromgedenken teil.

Remy betonte, dass es zu einfach sei, wenn man sich jetzt nur über diese schrecklichen Ereignisse, die Nazis von damals, empöre. „So einfach, so schmerzfrei ist das wirkliche Gedenken nicht zu haben. Wir sind ja keine Zuschauer“, erklärte er – so wie auch die Menschen, die damals hier standen, keine waren, sondern Bürger, die eine Mitverantwortung tragen, für das, was in unserem Gemeinwesen geschieht. „Damals war das Ungleich schwerer, einzuschreiten“, betonte er.

Keine Mitbürger, sondern Bürger

Der Antisemitismus sei nicht nur in den Köpfen der Nazis beheimatet. Antisemitismus sei eine „geistige Umweltverschmutzung“, zitierte der Pfarrer. Auch die Gedanken ganz normaler Menschen seien bis heute von diesem „Ungeist“ vergiftet und diese „Fratze des Antisemitismus“ verberge sich manches mal auch hinter Masken, die ein ganz anderes Gesicht zeigen, sei es ein engagiertes oder ein freundliches Gesicht. Auch unsere Sprache verrate oftmals antisemitische Denkmuster. „Juden sind keine Mitbürger, sondern Bürger“, betonte er. So wie wir auch nicht von ausländischen „Mitbürgern“ reden sollten, sondern von Bürgern, die einen Migrationshintergrund haben.

Musikalisch umrahmt wurde das Gedenken von der show and brass band.

„Ich habe immer daran geglaubt, dass das Gegenteil von Liebe nicht Hass ist, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Glaube ist nicht Überheblichkeit, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Hoffnung ist nicht Verzweiflung, es ist Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit ist nicht der Anfang eines Prozesses, es ist das Ende eines Prozesses“, zitierten anschließend Schüler der Geschwister-Scholl-Schule den Holocaust-Überlebenden und Nobelpreisträger Elie Wiesel.

Im Unterricht hatten sich die Schüler einen Film zur Reichspogromnacht angeschaut, dabei sei ihnen etwas ganz besonders in Erinnerung geblieben: Die Bilder und das Geräusch heruntergelassener Jalousien, als die Synagogen brannten. „Die Menschen wollten nicht sehen, was passierte, sie wollten die Grausamkeit nicht in ihr Leben lassen. Sie spürten Entsetzen und Machtlosigkeit, Hilflosigkeit und Angst“, betonten die Schüler.

Es habe kein Entrinnen aus diesem Unrecht gegeben, auch nicht durch heruntergelassene Jalousien und verbarrikadierte Häuser. „Wir wissen nicht, wie wir gehandelt hätten, aber wir hoffen, dass wir nicht auf heruntergezogene Jalousien blicken, wenn uns Unrecht geschieht, in Not sind und Hilfe brauchen“, sagten sie, ehe anschließend Bürgermeister Stephan Paule das Wort übernahm.

Der 9. November in der deutschen Geschichte.

Der 9. November sei ein Schicksalstag, der immer wieder in der deutschen Geschichte auftauche. Paule erinnerte daran, wie am 9. November 1918 die Republik ausgerufen und die Monarchie abgeschafft wurde und nur fünf Jahre später, 1923, die Nationalsozialisten versuchten, genau diese junge Republik wieder zu beseitigen. Als weiteres Beispiel nannte er den Fall der Mauer, die Ost- und Westdeutschland getrennt hatte.

Bürgermeister Stephan Paule.

„Wir sehen, dass dieser 9. November an vielen Stellen immer wieder daran erinnert, was alles Gutes und Schlimmes passiert ist, welche Verbrechen begangen wurden und welche guten politische Entscheidungen getroffen wurden.“ Er erinnere uns aber auch den Kampf für die Demokratie, für das Recht der Menschen mitzureden und mitzubestimmen. Allen Generationen, die heute hier sind, gelte die Verantwortung, Augen vor Unrecht nicht zu verschließen. Die Demokratie auch in Zukunft zu bewahren, liege auf unseren Schultern, betonte der Rathauschef.

„Kein Name wird von Gott vergessen“

Zum Schluss der Zeremonie verlasen die Schülerinnen und Schüler der Geschwister-Scholl-Schule die 49 Namen bekannten Namen von Alsfelderinnen und Alsfeldern, die über einen längeren Zeitraum hinweg von den Nazis deportiert, aus ihrer Heimat vertrieben worden, in „Fabriken des Todes“ verschleppt worden, die von Menschen errichtet worden waren, um andere Menschen systematisch zu töten, nur weil sie jüdisch waren, sprach der Pfarrer.

An der Gedenkstätte der ehemaligen Synagoge wurden die Steine niedergelegt und den Menschen gedacht.

„Kein Name wird von Gott vergessen“, betonte er – kein Name von damals und all der Opfer, die es bis heute gegeben hat. Kein Name der Täter und auch kein Name derer, die damals Widerstand geleistet haben. „Es waren wenige, aber es gab sie, was hatten diese Menschen für einen Mut und es gab sie auch hier in Alsfeld“, betonte Remy. Deshalb war es ihm auch wichtig, dass die Namen so ausgesprochen werden, dass jeder für sich zur Geltung kommt.

Anschließend teilten die Jugendlichen Steine mit den Namen und dem Alter der Opfer an die Teilnehmer des Gedenkens aus, die die weißen Kiesel am Gedenkstein in der Lutherstraße niederlegten. Dabei sollten die Teilnehmenden, die einen Stein in der Hand hielten, versuchen, an diesen Menschen zu denken, auch wenn man ihn gar nicht kannte. „Es war ein Mensch wie wir, ein Mensch, der leben wollte“, rief der Pfarrer in Erinnerung. Doch genau das sei diesem Menschen unmöglich gemacht worden.

Schreibe einen Kommentar

Bitte logge Dich ein, um als registrierter Leser zu kommentieren.

Einloggen Anonym kommentieren