Ordentlich Diskussionsbedarf zum Entwurf des Regionalplans im Vogelsberger Kreistag„Eigentlich gehört aus unserer Sicht das gesamte Ding in die Tonne“
WARTENBERG (akr). Auch in der ersten Sitzung des Vogelsberger Kreistags im neuen Jahr durften sie nicht fehlen, die hitzigen Diskussionen. Dieses Mal stand der Entwurf des Regionalplans Mittelhessen im Fokus der Debatte. Zu diesem gingen die Meinungen der Fraktionen nämlich ziemlich auseinander. Während Dietmar Schnell, Fraktionschef der Linken/Klimaliste den Entwurf annähernd als „Totalausfall“ bezeichnete, waren die Freien Wähler beispielsweise der Meinung, dass es seit 30 Jahren kaum einen so kommunalfreundlichen Entwurf in Mittelhessen gegeben habe.
Doch zunächst erstmal eine Erklärung, was ein Regionalplan überhaupt ist. Der Regionalplan ist das Bindeglied zwischen der großräumigen Raumordnung und Landesplanung sowie der kommunalen Bauleitplanung. Er legt sozusagen die räumlichen und strukturellen Entwicklungen in der Region als raumplanerisches Gesamtkonzept fest.
Dabei gibt er Antworten auf beispielsweise folgende Fragen: Wo können künftig Baugebiete für Industrie und Gewerbe ermöglicht werden? Wo darf eine größere Anzahl Wohnhäuser entstehen? Wo hat der Hochwasserschutz Vorrang? Welche Flächen stehen für den Abbau von Rohstoffen zur Verfügung?
Der Regionalplan Mittelhessen, hierunter fällt der Vogelsbergkreis, wird etwa alle zehn Jahre neu aufgestellt, um die Ziele und Grundsätze festzulegen, und zwar wiederum für die nächsten rund zehn Jahre. Wird der Plan geändert oder neu aufgestellt, so erarbeitet das zuständige Regierungspräsidium, in unserem Fall das Regierungspräsidium Gießen, zunächst einen Entwurf. Dieser wird einen Monat lang bei Planänderung und mindestens zwei Monate bei Neuaufstellung oder Fortschreibung öffentlich ausgelegt.
Noch bis zum heutigen 11. März konnte – neben Kommunen und Behörden – auch die Öffentlichkeit die Unterlagen einsehen und Anregungen für die Entwicklung der Region Mittelhessen geben. Die Öffentlichkeit – das sind in diesem Fall Unternehmen, Naturschutzvereinigungen und andere Verbände oder auch einzelne Bürger. Sprich: Während der Offenlage des Entwurfs hat man die Möglichkeit, beim Regierungspräsidium eine Stellungnahme zur Planung abzugeben.
Koalition: Entwurf muss überarbeitet werden
Drei Anträge drehten sich in der ersten Kreistagssitzung 2022 am Donnerstag um Stellungnahmen zum Entwurf des Regionalplans Mittelhessen, angefangen mit dem der CDU/SPD-Koalition. Momentan wird durch die einzelnen Fachämter der Kreisverwaltung eine Stellungnahme zur Offenlage des Regionalplans Mittelhessen erarbeitet, die durch den Kreisausschuss beschlossen wird.
Der Entwurf des Regionalplans.
„In Ergänzung hierzu sollte der Vogelsberger Kreistag einige grundlegende Aspekte politisch beleuchten, die für eine weitere positive Entwicklung des Vogelsbergkreises und der 19 Städte und Gemeinden notwendig sind“, heißt es in der Vorbemerkung des Antrags. Der Regionalplan komme sehr gerne sperrig daher, sei aber für die weiteren Entwicklungen unserer Region von zentraler Bedeutung, erklärte Patrick Krug von der SPD. Aus Sicht der CDU und SPD bleibe dieser Entwurf hinter den eigenen Ansprüchen zurück und bedarf daher dringend einer Überarbeitung.
Das Problem beginne schon mit einer zentralen Planungsgrundlage, nämlich der Entwicklung der Bevölkerungszahlen. So prognostiziere der derzeitige Entwurf für den Vogelsbergkreis einen Bevölkerungsrückgang von 10,4 Prozent bis 2035. Grundlage dieser Prognose seien Schätzungen der Hessen Agentur aus dem Jahr 2019. „Zahlen aus einer Zeit vor Corona, einer gefühlt ganz anderen Welt“, so Krug. Die Zahlen würden auch die positiven Entwicklungen der letzten Jahre ausblenden. Sie müssten also noch einmal kritisch überprüft werden.
Das laut Koalition zweite zentrale Problem des Entwurfs: Er würde das Spannungsverhältnis zwischen Ökologie auf der einen Seite und ökonomischer Entwicklung auf der anderen in Mittelhessen zulasten des Vogelsbergkreises ausnutzen. Krug erklärte, dass der Vogelsbergkreis einen großen Beitrag zum Natur- und Umweltschutz leiste, gerade auch im Bereich Klimaschutz und Energiewende.
Hier dürfe man auch nicht stehen bleiben, müsse den Klimawandel weiter bekämpfen. Aber effektiver Klimaschutz bedeute nicht, dass man wirtschaftliche Entwicklungspotentiale liegen lassen soll. Der Entwurf des Regionalplans trage dem jedoch derzeit nicht in ausreichendem Maße Rechnung, was insbesondere bei der Entwicklung von Gewerbeflächen gelte.
„Die im Planentwurf auf Grundlage der im Jahr 2019 erfolgten Konzepterstellung festgeschrieben Gewerbeflächen werden vielerorts langfristig nicht ausreichen, um auf eine gestiegene Nachfrage nach Gewerbeflächen im ländlichen Raum angemessen reagieren zu können“, heißt es in der Stellungnahme der Koalition zum Regionalplan.
Ornik: „Ich glaube nicht, dass das die Zukunft des Vogelsbergkreises sein soll“
Wenn der Vogelsberg und auch die Region Mittelhessen eine Chance auf künftige Entwicklung haben sollen, müssten sie sich unter anderem dem Thema Flächenverbrauch stellen, betonte Grünen-Chef Udo Ornik. Das sei nämlich in der Vergangenheit vernachlässigt worden, wenn man sich beispielsweise Ausgleichmaßnahmen anschaue. Es würde quasi als „lästiges Beiwerk“ behandelt werden, was nicht sein dürfe.
Die Grünen seien auch der Meinung, dass sich der Vogelsbergkreis entwickeln müsse. Ornik glaubt aber, dass es ein Fehler sei, zu denken, dass die Entwicklung darin bestehe, beispielsweise alles mit Logistikzentren „zuzumachen“, nur weil wir ein Mittelpunkt in Deutschland sind. „Ich glaube nicht, dass das die Zukunft des Vogelsbergkreises sein soll“, betonte er. Der Vogelsbergkreis habe die Möglichkeit, sich endogen zu entwickeln, mit den Kräften, die hier anwesend seien – auch die Ansiedlung von außerhalb soll möglich sein, aber überall Logistikzentren ansiedeln zu lassen, das bringe nicht viel, koste Geld und würde mittelfristig auch nicht so viele Arbeitsplätze schaffen.
Den Kreistags-Grünen zufolge soll der Flächenverbrauch im Entwurf des Regionalplans Mittelhessen auf Netto-Null zugunsten des Naturschutzes, des ökologischen Landbaus und eines konzentrierten und effizienten Städtebaus reduziert werden. Erreicht werden solle das unter anderem damit, dass Industrie-, Gewerbegebiete und Logistikzentren nur bei entsprechend verfügbarerer Verkehrsinfrastruktur mit Bahn beziehungsweise ÖPNV zugelassen werden, heißt es in der Stellungnahme, die die Grünen in den Kreistag einbrachten.
„Sie machen immer noch die gleichen Fehler“, richtete FDP-Fraktionsvorsitzender Mario Döweling seine Worte in Richtung der Grünen. Fehler insofern, dass die Grünen immer versuchen würden, eine Wertigkeit einzubringen, Gewerbe zwischen gut und böse zu unterscheiden – und ganz böse sei für die Grünen das Logistikgewerbe. Döweling betonte, dass man hier im Vogelsberg jegliche Art von Gewerbe brauche. „Wir brauchen gewerbliche Entwicklung, nicht nur die endogene. Wir wollen nicht im eigenen Saft schmoren, wir brauchen auch Impulse von außen“, betonte der FDP-Chef.
Mario Döweling.
Schnell: Entwurf annähernd ein „Totalausfall“
Klare Worte fand Dietmar Schnell, Fraktionsvorsitzender der Linken/Klimaliste. „Eigentlich gehört aus unserer Sicht das gesamte Ding in die Tonne“, betonte er. Der Regionalplanentwurf sei annähernd ein „Totalausfall“ und die Koalition aus CDU und SPD würde es noch schlimmer machen, nicht nur beim Thema Klimaschutz. „Der Bodenfraß geht im Grunde genommen ungebremst weiter“, betonte Schnell. Die Linken würden zwar begrüßen, dass der Entwurf Obergrenzen für die Ausweisung von Gewerbegebieten enthält, die ausgewiesenen neuen Flächen seien aber dennoch zu groß.
So heißt es in der Stellungnahme der Linken/Klimaliste: Für den Vogelsbergkreis sind laut Planentwurf 131 Hektar (das sind 1,3 Millionen Quadratmeter) Gewerbefläche für die Kommunen für die kommenden zwölf Jahre neu in der Planung. Zu diesen 131 Hektar kämen noch Flächen von 44 Hektar des Gewerbegebiets „Am weißen Weg“ in Alsfeld und möglicherweise 26 Hektar für das interkommunale Gewerbegebiet in Reuters hinzu.
Die Flächen in Reuters sollten gänzlich aus der Planung genommen werden, findet die Fraktion. Vor Ort seien die Skepsis und Ablehnung gegen eine Gewerbefläche groß. „Auf der Alsfelder Fläche ‚Am weißen Weg‘ sollen auf 44 ha nach jetziger Planung
vornehmlich Logistikunternehmen ansiedeln. Im Regionalplan sollte die Fläche auf
22 Hektar halbiert werden. Für die Ansiedlung nachhaltiger Unternehmen und gegebenenfalls mit Raum für Agri-PV-Anlagen wäre das ausreichend.“
Dietmar Schnell.
Die Freien Wähler vertraten die Meinung, dass es seit 30 Jahren kaum einen so kommunalfreundlichen Entwurf in Mittelhessen gegeben habe, insbesondere auch für kleinere Kommunen. Im Vogelsbergkreis seien 132 Hektar Wohnsiedlungsfläche vorgesehen, „das ist eine Größenordnung, die es nicht zu kritisieren gibt“, betonte Wicke. Seiner Fraktion zufolge können die vorhandenen Siedlungs- und Erweiterungsflächen für den Vogelsberg als zukunftsfähig eingestuft werden. Wicke betonte, dass sie die Anträge der Koalition, der Grünen und der Linken/Klimaliste für teils verfehlt und teils selbst verantwortet halten und sie alle drei ablehnen werden.
CDU-Fraktionsvorsitzender Stephan Paule betonte, dass es wichtig sei, dass sich der Vogelsberg auf seine Potentiale und Möglichkeiten besinne. „Auch zukünftig wird der Vogelsberg moderne, nachhaltige Wohn- und Gewerbegebäude errichten müssen“, so Paule – und eben nicht nur den Bestand halten. Man werde auch weiterhin einen bedeutenden Beitrag zum Wirtschaftswachstum und zur technologischen Transformation in Hessen und in Deutschland leisten müssen. „Hürden, die diese Entwicklung behindern, dürfen nicht verstärkt werden, sie müssen weiterhin möglichst niedrig gehalten werden“, betonte der CDU-Chef.
Wenn der Kreis eine Entwicklung nehmen wolle, die sich in den letzten zehn Jahren positiv gestaltet hat, dann müsse es auch Entwicklungsmöglichkeiten jenseits von beispielsweise Naturschutz geben, erklärte Landrat Manfred Görig, der den Satz mit der „endogenen“ Entwicklung nicht mehr hören könne, weil er diesen vor 25 Jahren schon gehört habe. Das sei am Ende nicht der Punkt, mit dem man Arbeitsplätze in die Region hole. Manch einer würde es in den 25 Jahren außerdem nicht mal schaffen, fünf Hektar mit Gewerbe bebauen zu lassen.
„Wir müssen das, was uns jetzt aufgeschrieben ist auch verteidigen, sonst werden wir am Ende des Tages gar nichts kriegen“, betonte er. Wenn wir unsere Chancen nicht nutzen würden, dann würden uns die Oberzentren am Ende „platt machen“. „Die nehmen uns so schon nicht ernst und wenn wir gar nichts tun, nehmen die uns noch weniger ernst“, betonte er. Wenn der Kreis es nicht hinbekomme, mit den Mitteln, die er hat, die Infrastruktur zu erhalten, dann könne man irgendwann um den Vogelsberg einen Zaun machen, „und dann sind wir das Naturschutzgebiet Vogelsberg“, so Görig.
Etwa eine Stunde lang diskutierten die Parlamentarier über den Entwurf des Regionalplans und die drei vorgelegten Stellungnahmen, ehe es schließlich an die Abstimmung ging. Für den Antrag der Linken/Klimaliste stimmten sieben Kreistagsmitglieder, 46 stimmten dagegen. Auch der Antrag der Grünen wurde abgelehnt, wohin gegen der Koalitions-Antrag bei 39 Ja-Stimmen, elf Nein-Stimmen sowie drei Enthaltungen angenommen wurde.
Man würde sich dem angemahnten Besinnen der Besonnenen auf die Potentiale und Möglichkeiten des Vogelsbergkreises ja liebend gern anschließen. Aber wo bitteschön sind denn die zukunftsweisenden Ideen? Man sitzt da und wartet auf ansiedlungswillige Betriebe und bauwillige Zuzügler, deren Ansiedlungs- und Zuzugsbereitschaft man durch unglücklich verhaspelte Image-Kampagnen triggert. Wie schon vor 20 Jahren. Derweil verstärkt sich die Tendenz, dass die verkehrsmäßig bevorzugten Randgebiete sich zwar relativ zügig entwickeln, das „zentrale Hochland“ aber weiterhin stagniert. So werden wohl immer mehr dezentral gelegene Vogelsbergstädte zu Grundversorgungs- bzw. Unter- und Kleinzentren veröden. Wer sich selbst helfen kann, hilft sich selbst. Der Rest der Bevölkerung dämmert dem demografischen Niedergang entgegen und versucht, die eigene Verelendung vor der öffentlichen Aufmerksamkeit zu verbergen. Denn man möchte auf den geliebten Vogelsberg ja nur nichts kommen lassen.