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Kolumne "Langes Wochenende"Von Nutz und Frommen des Banalen im Alltagsleben

REGION. OL-Kolumnist Ulrich Lange geht der Satirefähigkeit der Vogelsberger auf den Grund – und rechnet nach, warum es in Russland gar nicht so schlimm ist, wenn man so lange pennt, bis das fünfte Lichtlein brennt.

Der Vogelsbürger sitzt beim Biere

Und tadelt bierernst die Satire

Weil wer dies Stilmittel benutze

Doch nur das eigene Nest beschmutze

Wo man doch wisse, dass Satire

Schon deshalb selten funktioniere

Weil diese mangels Spaßbehörde

Im Zweifel missverstanden werde.

 

Ja, der Satiriker grast im Vogelsberg nicht gerade auf den saftigsten Wiesen. Natürlich lacht auch der Vogelsberger oft und gern, jedoch vermeidet er dabei die Ironie und das Doppeldeutige. Denn in der Enge der zumeist dezentral gelegenen Dörfer halten sich durch Missverständnisse ausgelöste Feindschaften im worst wie im „Ahle Wörscht-Case mitunter Jahrhunderte lang. Darum vermeidet man auch ein klares Ja oder Nein und scholzt sich so durch. Wer sich noch Hoffnung auf einen positiven Bescheid macht, wetzt zumindest während des schon heraufziehenden Konflikts noch nicht die Klinge.

Gerade ist der dritte Advent vorbei. Da erscheint bereits die dritte Ausgabe von „Langes Wochenende“! Und das trotz der oben beschriebenen Satire-Allergie der Eingeborenen. Das kann kein Zufall sein. Keinfan K. Einohr fragt dennoch hinterhältig: „Gibt es jetzt jeden Advent eine so ungereimte und unsatirische Kolumne wie Langes Wochenende?“ Da wird jetzt aber auch mal gescholzt! Nimm das, Keinohr! Präzise und genau auf den Punkt, ganz nach Art des trojanischen Olaf mit den roten Socken:

„Und wenn die fünfte Kerze brennt,

dann hast du Weihnachten verpennt.“

Womit ich nicht nur den Fragesteller ausgescholzt, sondern die Frage noch zusätzlich verbaer-bockt habe (geklautes Zitat, keine Quellenangabe). So umgeht man die Fallen missgünstiger Kommentatoren. Weder werden die eingeflochtenen unfreundlichen Bewertungen versehentlich wiederholt und bestätigt, noch darf sich der heimtückische Fragesteller rühmen, im Falle eines Ja Anhaltspunkte für ein rasches Ende der satirischen Wochenrückblicke gefunden zu haben oder im Fall eines Nein den Gesprächspartner auf die Zahl „Vier“ fest nageln beziehungsweise dies zu einem Aufhänger für den Vorwurf machen zu können, man befinde sich hier aufgrund der Festlegung auf maximal vier Adventssonntage in einem Minenfeld zwischen Widerspruch und Inkonsequenz. Tja Freunde und Feinde, an dieser Verteidigungslinie wäre auch ein Markus Lanz mit seiner unangenehm insistierenden Fragetechnik abgeprallt.

Quelle des Zitats mit der fünften Kerze und dem verpennten Weihnachtsfest ist übrigens eine weitere OL-Kolumne, deren erste Ausgabe am 10.12.2021 unter dem Titel „Was sagt Ida zu...“ erschienen ist und in der OL-Leserin Ida Lautenschläger sich alle 14 Tage über die kleinen Dinge des Alltags äußern wird. Dies jedenfalls entnehme ich ihrem Stoßseufzer beim Thema Befüllung selbstgebastelter Adventskalender: „Viele Gedanken. Viel Kleinkram. Viel zu viel ausgegeben.“ Laut Vorankündigung soll die Kolumne sich um eine ganz persönliche Sicht auf Redewendungen, Bräuche und Feste ranken. Mal ganz was Neues. Zwinkeremoji.

Trotz der zu unterstellenden Satire-Vermeidung kommt die Kolumnistin in ihrem Adventsgedicht nicht ohne eine gewisse Ironie aus. Allerdings ist gegen die implizierte Tatsachenbehauptung einzuwenden, dass im Angesicht einer fünften Adventskerze nicht zwangsläufig das Weihnachtsfest bereits verschlafen wurde. Zumindest wer – wie Kolumnistin Ida – in Kasachstan geboren ist, dort seine Kindheit verbracht hat und vielleicht das Fest in diesem Kulturkreis feiert, hat die behaupteten Konsequenzen eines „5. Advent“ nicht zu befürchten. Denn (O-Ton Ida): “In Russland feiert man das russisch-orthodoxe Weihnachtsfest 13 Tage nach dem deutschen Weihnachtsfest, also am 6. Januar. Die Weihnachtsgeschenke bringt dort Väterchen Frost und seine Enkelin Snegurotschka; allerdings an Silvester.“ Tja. Die fünfte Kerze – plötzlich nicht mehr ganz so witzig:

„Und wenn die fünfte Kerze brennt,

hast du noch lange nichts verpennt.

Sylvester, wenn die Böller krachen

Hört man frohes Kinderlachen

Väterchen Frost nebst Enkelin

Legen dir Geschenke hin

Am 6. Januar trinkt Snegurotschka

Mit allen drei Königen sehr viel Vodschka

Apropos kleine Dinge des Alltags, Familienidyll, strahlende Kinderaugen, Geschenke etc.pp: Die Älteren unter uns werden sich noch des Jojos erinnern, das der Anfänger vielleicht gerade ein paar Mal ungelenk auf und ab gleiten lassen konnte, während der Worldchampion oder Star internationaler Wettbewerbe beziehungsweise Showveranstaltungen damit virtuoseste Kunststücke vollführte. Schon Kinder im Vorschulalter wurden hierdurch zu gefeierten Medienstars und Multimillionären, ja gerieten gar in die Rolle des Ernährers ihrer Familien. Als weitere Beispiele nenne ich die Gattung der Fidget Spinner-Artisten oder die der Becherstapler, über deren Künste auch OL in den vergangenen Jahren gelegentlich berichtet hat. Beweisfoto: hier.

Geschenketechnisch bewegen wir uns immer weiter weg von Apfel, Nuss und Mandelkern und hin zu Gegenständen von monströser Nutzlosigkeit und Banalität. Selbst deren meisterlicher Gebrauch kann kaum mehr im Sinne von Meisterschaft interpretiert werden, sondern bestenfalls noch zu manischem Missbrauch mit anschließendem Therapiebedarf (ver-)führen, was der Begeisterung des Publikums sowie wahren Verkaufsexplosionen im Vertrieb allerdings keinerlei Abbruch tut. Schon der Humorist Loriot hat diese Entwicklung voraus geahnt und sich in einem seiner Sketche dieses Phänomens in geradezu prophetischer Weise angenommen, indem er den „Familienoriginalbenutzer“ ersann, dessen originaler Nutzen sich darin erschöpfte, dass er zur allfälligen Originalbenutzung einfach so im familiären Wohnmilieu herum stand („Stehrumsel“). Siehe hier.

Heutzutage beanspruchen moderne Varianten des Familienoriginalbenutzers wie selbst-verständlich einen Platz in der Mitte unserer Gesellschaft und drängen gerade aktuell wieder – vorbei an den geschlossenen Verkaufsständen traditioneller Weihnachtsmärkte – als neueste Spielzeugtrends auf die von Versendern befeuerten weihnachtlichen Gabentische. Dies dokumentierte schon einen Tag nach Nikolaus der stets trendsensible Westdeutsche Rundfunk, ab Zählerstand 00:47:10.

Es geht hier um ein so genanntes „Pop It“, also ein Gerät, das denjenigen zur Befriedigung elementarer innerer Bedürfnisse verhilft, die in ihrer Kindheit gern Knallerbsen abgerissen und anschließend gleich zertreten haben. Und die noch heute nicht widerstehen können, bei Eintreffen der Sendungen von Lieferdiensten die erbsengroßen Einschlüsse von Luftpolsterfolien unter Gejohle einzeln einzudrücken. Erstaunlicherweise wird hierdurch nicht nur Therapiebedarf (Achtung Suchtgefahr!) geschaffen. Ähnlich wie schon beim Fidget Spinner wird im Gegenteil eine gewisse Eignung als therapeutisches Hilfsmittel behauptet (zum Beispiel bei motorischer Unruhe oder ADS/ADHS, siehe hier.)

Wie nun finden wir nach derlei ernüchternden Betrachtungen den Weg zurück in eine Welt, wie Ida Lautenschläger sie beschreibt? Philosophie wäre gut, vielleicht die eines Friedrich Nietzsche, dieses Knecht Ruprecht unter den Philosophen. Bei dem heißt es: „Im echten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen. Auf, ihr Frauen, so entdeckt mir doch das Kind im Manne!“ Könnte eine Brücke bilden zu dem OL-Beitrag „Liebenswertes Leben auf dem Dorf„, führt jetzt aber vielleicht doch eher in eine falsche Richtung. „Advent, Advent, ein Glühwein brennt“, titelt dagegen mit etwas ungelenkem Humor und unter Anknüpfung an die oben bereits zitierte Advents-Persiflage ein PR-Beitrag von OL für eine „Glühweinabend“ genannte Variante des Indoor-Weihnachtsmarkts im Alsfelder „hôtel villa raab“. Aber mal abgesehen davon, dass brennender Glühwein keine harmlose Belustigung darstellt, sondern in die Liste ernsthafter Gefahrenmomente gehört, bei der die gastronomische Belegschaft auf hoffentlich vorhandene Notfallpläne zurückgreifen müsste, entzündet sich hier nur gleich wieder eine lokalpatriotische Neiddiskussion. Kernfrage: Warum dürfen d-i-e das, während anderswo die Marktbuden geschlossen gehalten werden mussten?

Nun, wie auch immer. Ein letzter Gedankensprung führt uns zu einem Fundstück aus meinem analogen Zettelkasten (vielleicht demnächst eine neue Rubrik meiner Kolumne?) Gemeint ist der sogenannte „Vogelsbergsong“, von dem die Kreisverwaltung lange Zeit überzeugt war, dass die einheimische Bevölkerung spontane Ausbrüche von überwältigender Heimatverbundenheit erlebe, wo immer dieser – nicht selten im Rahmen „Flashmob“ genannter Massenauftriebe vor Supermärkten – zu Gehör gebracht werde. Doch wie passt dies mit der inzwischen natürlich bereits historischen Fakenews folgenden Inhalts zusammen?

>> Lauterbach, 16.05.13 | Das ist eine schöne Idee, um unseren Song ‚Wir sind Vogelsberg‘ noch lebendiger zu machen“, kommentiert Kreispressesprecher Erich Ruhl. Der Song wird am Mittwoch, 29. Mai, ab 12 Uhr von vielen jungen Leuten spontan getanzt. << Wie bitte?

Finde den Fehler! Ich möchte hier anregen, nach dem Vorbild des in Tourismus-Kreisen äußerst beliebten Vulkan-Abiturs (mit Kühe melken, Melkschemel-Weitwurf und dergleichen) einen li-la-lustigen Vogelsberger Intelligenztest aufzulegen, in den diese Frage prominent aufzunehmen wäre.

So. Schluss jetzt! Doch soll diese Kolumne nicht ausklingen, ohne der Fangemeinde ein Kabinettsstückchen meines Hasen-Limerick-Zyklus mit auf den Weg zu geben. Auch darin geht es im Grunde um die kleinen Freuden des Alltags. Mit existenziellem Bezug zu Lebenssinn und Lebenserfolg im Großen wie im Kleinen.

Ein Hase aus Iserlohn an der Lenne

Sandte, damit er im Lotto gewönne

Viele Gebete zu Gott

Und erntet‘ nur Spott

Weil er nie einen Tippschein sich gönne.

Damit schließt sich der Kreis. Und es erschießt sich der Greis. Scherz!

Bis nächstes Langes Wochenende

Ein Gedanke zu “Von Nutz und Frommen des Banalen im Alltagsleben

  1. Vielleicht sollte einmal aufgeklärt werden, welches possierliche Tierchen auf der linken Schulter des Kolumnisten sitzt. Es handelt sich um einen sog. „Mull“ (Nacktmull), der nicht nur als Wundertier gilt, sondern als Symbol- oder Wappentier mit Bedacht gewählt wurde. Bekanntlich lautet eine alte Bezeichnung für Ulrichstein „Mullstaa“, Noch heute ist für Ulrichstein der Name „Mullstaa“ in Gebrauch, was allerdings weder – wie auf alten Stichen von Ulrichstein – als „Mü(h)lstein“ zu übersetzen ist (siehe https://file2.hpage.com/014299/95/bilder/ulrichstein_genannt_muehlstein.jpg), noch auf den sagenhaften Hirtenjungen Ulrich Mull zurückgeht, der ein ihm unverhofft zufallendes Vermögen in der Errichtung der Ulrichsteiner Burg investiert haben soll, die er dann nach sich selbst benannte. Mullstaa ist die oberhessische Verballhornung des mittelhochdeutschen Molestine (mol, mole = Eidechse, stine = Steine).

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