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SERIE: Sagen Sie mal! – Der Journalist Roland Heinrich über Journalismus heute„Auf der Strecke bleibt die Distanz zum Thema“

ALSFELD. Es gibt Menschen in der Region, die man irgendwie kennt, Menschen, die für Ansichten und Einsichten stehen – Menschen, die man schon immer mal was fragen wollte. Oberhessen-live tut das in einer neuen Serie: “Sagen Sie mal…” Als Fünfter in der Reihe gibt Roland Heinrich Einblicke. Der 66-Jährige war 25 Jahre lang Leiter der Lokalredaktion bei der Oberhessischen Zeitung, bevor er 2012 in Ruhestand ging – und heute beim Freiwilligenverein in Alsfeld aktiv  ist. Der gebürtige Pfälzer ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne.

Sagen Sie mal, Herr Heinrich!

Juckt es Sie manchmal noch in den Fingern, wenn Sie die Zeitungen der Region lesen? „Da würde ich auch gerne noch einmal drüber schreiben!“ Oder: „Das hätte ich aber anders geschrieben?“

Wenn nach 40 Berufsjahren die Reflexe in so kurzer Zeit schon völlig verkümmert wären, müsste ich mir im nachhinein Gedanken über meine seinerzeitige Berufswahl machen. Ja, ab und an juckt es natürlich noch, aber es gehört zur Wahrheit, dass es immer seltener juckt. Ich beginne mein Leserdasein zu genießen.

Zum “Abtrainieren”, wie die Sportler sagen würden, habe ich seither ja außerdem zwei, dreimal im Monat Gelegenheit, über Gerichtsverhandlungen zu schreiben, und einmal im Monat darf ich seit dem vergangenen Jahr im “Vulkan” einen Krimi besprechen. Das reicht.

Und was das Umschreiben betrifft: Nein, der Finger hat mich schon zu Berufszeiten relativ selten gejuckt. Ich glaube nicht, dass es für journalistische Geschichten einen einzigen Königsweg gibt. Da führen viele Wege nach Rom.

Nach Jahrzehnten als Journalist mit mehr als 40 Stunden Arbeit in der Woche: War das ein Schock, plötzlich nichts mehr zu tun zu haben?

Ganz eindeutig nein. Es war eine Umstellung, kein Schock. Eben noch voll im Arbeitsalltag, jetzt das im Überfluss, was man jahrelang oft genug vermisst hat: Freizeit. Nicht unbedingt für den Garten. Der ist geblieben, was er immer war, Pflicht, nicht Kür. Aber selbst in völlig unproduktiven Phasen: Die Freude darüber, sich nie wieder Gedanken machen zu müssen, wie man Sommer-, Weihnachts- und Osterferien thematisch überlebt und das Blatt sinnvoll füllt, wenn politisch, gesellschaftlich und kulturell wochenlang tote Hose herrscht, überwiegt jene kurzen Anwandlungen, in denen man der Ansicht ist, sich solchen Anforderungen eigentlich noch länger hätte aussetzen können.

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In dieser Reihe äußerten sich bereits Henner Eurich, Michael Riese, Elisabeth Hillebrand und Dr. Bernd Liller.

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Und nun? In wie vielen Vereinen machen Sie die Öffentlichkeitsarbeit?

Ich habe mich während meiner Redaktionsjahre mit einer kurzen Ausnahme im Verkehrsverein konsequent aus allen Vereins- und Organisationsverpflichtungen herausgehalten. Jetzt ist die Zeit, vor allem aber die Lust da, sich zu engagieren. Das tue ich in zwei Projekten: den Kulturtagen, an deren Organisation ich über ein Jahr mitgearbeitet habe, und im Freiwilligenzentrum. Falls dort darüber hinaus Presseartikel oder -arbeit anfällt sage ich selbstverständlich nicht nein.

In den vielen Jahren, die sie bei Zeitungen tätig waren, hat sich die Zeitungstechnik schon gewaltig geändert: vom Blei- zum Fotosatz, zur Digitalisierung – und heute gibt es ganz neue Medien, damit ein gewaltig gestiegenes Veröffentlichungstempo. Wie sehen Sie diese Entwicklung: Ist das Fortschritt für den Journalismus oder nur eine Verkomplizierung?

Wer je den verzweifelten Versuch gemacht hat, einen Bleisatzartikel zu kürzen, weil er zu lang geraten ist, freut sich natürlich über jeden technischen Fortschritt. Heute können Journalisten umfangreicher, schneller, effektiver arbeiten. Die Redaktionsarbeit ist viel leichter geworden. Ob das inhaltlich auch immer ein Segen ist?

Auf der Strecke bleibt bei dem Drang und Zwang, immer schneller sein zu wollen oder zu müssen, häufig die Möglichkeit, Distanz zum Thema zu gewinnen, um dem Leser/Hörer/User verständlich zu machen, was da gerade passiert. Ob Haushaltsverabschiedung in Alsfeld oder Bürgerkrieg in Syrien – wie oft gibt es zwar rasch Zahlen oder Bilder und wie selten dabei verständliche Erklärungen, um damit etwas anfangen zu können.

Gedruckte Zeitungen sind ja schon ein paar Mal totgesagt worden. Und jetzt haben sie mit den Internet-Medien noch einmal große Konkurrenz bekommen. Glauben Sie, dass es in 20 Jahren noch Nachrichten in Printform geben wird?

Hätte ich prophetische Gaben, würde ich wahrscheinlich anfangen, Lotto zu spielen. Glücklicherweise ist die Frage auf 20 Jahre begrenzt und glücklicherweise werde ich gefragt, was ich glaube. Zugegeben, das Tempo der Veränderungen der Medienlandschaft der vergangenen 20 Jahre ist rapide, und lässt vermuten, was noch alles kommen wird. Aber ja, ich glaube, dass Print auch in 20 Jahren noch existiert, Ich hoffe zumindest, recht zu behalten, damit alle, die mit mir hoffen, beim Lesen auch weiterhin nicht auf einen rechteckigen Bildschirm starren müssen, sondern wie bisher blättern können.

Sie haben als Berichterstatter auch ganze Generationen von Politikern im Vogelsberg kommen und gehen sehen, die Entwicklung der Region verfolgt. Wenn Sie vorausschauen: Macht Ihnen die aktuelle Entwicklung auf dem Land – Bevölkerungsschwund, wachsende finanzielle Knappheit – Angst?

Sorge selbstverständlich ja, Angst nein. Da ländliche Räume wie der Vogelsberg zwar entleert, aber nicht leer werden, werden Politik, Gesetze, Richtlinien, Normen, Verkehrsformen, Vorschriften etc. auf Dauer nicht umhin kommen, den gegebenem Bedingungen Rechnung zu tragen, es werden sich veränderte Rahmenbedingungen entwickeln, entwickeln müssen, aber es wird weiter-, nicht untergehen.

Wenn Sie aktuelle Diskussionen verfolgen: Kann Sie noch ein politischer Vertreter beeindrucken oder haben Sie das alles schon dreimal erlebt?

So alt bin ja nun auch nicht. Zur Frage, nur ein Aspekt: Gerade hier im Kreis fällt mir seit Jahren eine Entwicklung auf, die es früher in dieser Form nicht gab. Auf den Bürgermeisterstühlen nehmen immer häufiger Frauen und Männer Platz, die nicht die klassische Verwaltungsausbildung hinter sich haben, sondern ganz andere berufliche Hintergründe, beispielsweise akademische Ausbildungen oder Tätigkeiten im Finanzsektor mitbringen. Das bringt neue Sichtweisen und vor allem neue Lösungsansätze bei Problemen in die lokale Diskussionen.

Sind Sie eigentlich in einem Social-Network im Internet zu finden?

Nein.

Rückblickend: Was war Ihre liebste Geschichte, die Sie als Journalist geschrieben haben und welche hätten Sie gerne geschrieben und sind nie dazu gekommen?

Eine liebste Geschichte habe ich eigentlich nicht. Was ich gerne geschrieben habe, waren Kommentare, ein bisschen ironisch und ohne moralischen Zeigefinger, die überflüssigste anatomische Ausstattung von Journalisten.

Nie geschrieben? Im Großen die Geschichte einer Abi-Klasse, die ich gerne über zehn Jahre verfolgt hätte. Was wurde aus den Träumen, Hoffungen und Vorstellungen, wer wurde wirklich, was er einmal werden wollte, und was wurde wirklich aus ihnen? Und im Kleinen: ein Artikel über den Burgmauerweg, bei dem ich mich bis auf den heutigen Tag wundere, dass angesichts der für mich unübersichtlichen Situation an beiden Enden so wenig Unfälle passieren.

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