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475 Jahre Wasserfestung: Das historische Spektakel in Ziegenhain lockte TausendeDie große Zeitreise unter Wolkentürmen

ZIEGENHAIN (aep). Als um kurz vor 11 Uhr der große Schutt mit heftigen Sturmböen herunterkam, da mochte man Angst bekommen um diese Veranstaltung. Aber dann wurde es am Sonntag doch noch ein großes Fest zu Ehren der Ziegenhainer Wasserfestung, deren 475-jähriges Bestehen der gleichnamige Arbeitskreis mit großem historischen Spektakel feierte. War am späten Nachmittag noch von mehr als 5000 Besuchern die Rede, so stand abends fest: Es waren fast 6500.

 

Die Menschen besuchten ein Ziegenhain, dessen Kern sich für einen Tag um ein paar Jahrhunderte zurückversetzt zu haben schien: Auf dem Paradeplatz und in den Gassen drum herum wimmelte es von Uniformen und Gewandeten, die eindeutig nicht in diese Zeit gehörten: Napoleonische und kurhessische Soldaten mit gefährlich echt anmutenden Vorderladern patroullierten im Gleichschritt über den Platz, Handwerker demonstrierten, wie einst Wagenräder oder Kerzen entstanden, selbst die Grillwurst und das Spanferkel brieten über rustikalem Holzfeuer, gedreht von Hand. Authentizität lautete das Schlagwort für das Fest in der Wasserfestung.

Von dem einst mächtigen Bauwerk ist heute ja nicht mehr viel zu erkennen. Ihre Ausmaße erkennt man am ehesten aus der Luft an den breiten Gräben, die bis zu Napoleons Heimsuchung noch doppelt so breit gewesen waren. Aber um solche Ereignisse ging es besonders bei der Veranstaltung: Historische Gruppen von außerhalb und auch heimische Vereine stellten in einer Art stehendem Festzug sowie mit Spielszenen geschichtliche Ereignisse Ziegenhains dar.

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So könnte es gewesen sein: Französische Soldaten im historischen Kugelkeller – dem letzten Schutzraum der historischen Festung.

Dazu zählten nicht nur kriegerische Geschehnisse, obwohl die den Werdegang der Festung prägten. Sondern die Darsteller erinnerten zum Beispiel auch an die Entstehung der Konfirmation, die nämlich 1539 mit der Kirchenzuchtordnung in Ziegenhain ihren Anfang nahm – also vor 475 Jahren. Im gleichen Jahr begründete Landgraf Philipp der Großmütige auch die Bürgerwehr zur Verteidigung der noch nicht vollendeten Wasserfestung.

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Zu dem historischen Spektakel gibt es auch eine Fotogalerie

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Für Ziegenhain nachhaltig wichtig war auch das Jahr 1728: Da lud der Landgraf Karl von Hessen-Kassel Schwälmer Bauern zum großen Schmaus. Es gab Salat, Bier – und die Kartoffel, die der Landgraf als Lebensmittel einführen wollte. Die Kartoffel kam nicht so gut an, aber Salat und Bier dafür umso mehr. Man führte beides bei der Kirmes ein – und veranstaltet bis heute die Salatkirmes. Davon kündete am Sonntag die große Tafel mitten auf dem Paradeplatz, an der Männer, Frauen und Kinder in Schwälmer Trachten Platz nahmen – und den verschiedenen Regengüssen zum Trotz stetig tafelten.

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Historie nachgespielt: Schwälmer Darsteller stellen dar, wie es gewesen sein könnte.

Wem die Waffen der Soldaten gefährlich echt aussahen, der hatte Recht: Es waren überwiegend echte Vorderlader aller Kaliber, die die verschiedenen Historiengruppen nach Ziegenhain mitbrachten – Nachbauten jener Gewehre und Kanonen, mit denen die Armeen einst aufeinander losgingen.

Authentizität – das ist nämlich auch das Schlagwort für die Geschichtsdarsteller, erklärt Mark Scheibe aus Frankfurt, Jurist von Beruf und nach Ziegenhain mit einem Trupp französischer „Soldaten“ gereist. Die lagerten am Sonntag in einem Garten: auf Stroh und nur notdürftig mit Planen aus Baumwolle vor Wetterunbill geschützt. Aber genau dieses Gefühl gehört dazu, erklärt er: „Wir wollen die Geschichte spürbar machen.“ Es gibt ein exaktes Vorbild: Die Männer stellen die 22. Demi-Brigade unter Napoleon nach. Es sind Grenadiere und Artilleristen, wie sie in den Jahren 1803 bis 1806 für den französischen Kaiser marschierten. Marschiert sind sie auch schon wie einst die Kaiser-Truppe, erzählt Mark Scheibe: in historischer Uniform über die Pyrenäen, also auch mit unbequem anmutenden Nagelstiefeln. Echt eben.

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Ob es so ausgesehen hat? Festungsnachbau am Paradeplatz.

So echt wie die Vorderlader, die diese aus ganz Deutschland kommenden „Soldaten“ nicht nur über den Paradeplatz schleppten, sondern auch abfeuerten. Dafür braucht man eine Genehmigung, verbunden mit einem Lehrgang und einem polizeilichen Führungszeugnis. Eine Feststellung ist Mark Scheibe dabei besonders wichtig: „Ich habe dabei in 20 Jahren noch keinen Militaristen getroffen.“ Es gehe rein um eine möglichst genaue Nachempfindung der Historie.

Das ist insgesamt mit dem großen Fest in der Festung Ziegenhain gelungen, und der Organisator Gerhard Reidt zeigt sich am Ende auch zufrieden. Der große Schutt am Vormittag und die Schauer den Tag über hielten weniger Menschen vom Besuch ab als befürchtet, erklärt er Oberhessen-live. Anhaltender nass wurde es erst am späten Nachmittag – am Ende des Spektakels. „Da durfte es regnen.“

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Man tafelt mitten auf dem Paradeplatz – und erinnert so an die Entstehung der Salatkirmes.

 

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