Exkursion führte in die Gedenkstätte Speier und weitere Erinnerungsorte der einstigen jüdischen GemeindeOberhessischer Geschichtsverein erkundet Spuren jüdischen Lebens in Angenrod
ANGENROD (ol). Der Oberhessische Geschichtsverein Gießen (OHG) besuchte mit einer Exkursionsgruppe die „Gedenkstätte Speier“ in Angenrod und erhielt intensive Einblicke in die Geschichte der jüdischen Bevölkerung des Ortes. Fördervereinsvorsitzender Joachim Legatis führte die Teilnehmer durch das aufwendig sanierte Haus Speier, von dem 1942 die letzten acht Juden Angenrods deportiert wurden. Ergänzt wurde der Rundgang durch Stationen an der ehemaligen Synagoge und am jüdischen Friedhof. Die Exkursion verdeutlichte, wie wichtig das Engagement des Fördervereins für die Bewahrung jüdischer Geschichte und Erinnerungskultur im Vogelsberg ist.
Angedacht war sie schon früher, jetzt konnte sie auch realisiert werden: die Exkursion des „Oberhessischen Geschichtsvereins Gießen“ (OHG) auf den Spuren der Geschichte der Angenröder Juden mit der Führung in der „Gedenkstätte Speier Angenrod“ als Schwerpunkt, das berichtet Lokalhistoriker Ingfried Stahl in einer Pressemitteilung .
Joachim Legatis, Vorsitzender des 2014 gegründeten Fördervereins, hieß kürzlich die in privaten PKWs aus Gießen angereisten zehn Exkursionsteilnehmer, durchwegs ausgewiesen sehr geschichtsinteressierte und kompetente Personen, willkommen.
Um das in der Nachkriegszeit noch bewohnte, dann leerstehende und zunehmend dem Verfall preisgegebene um 1847 erbaute Gebäude zu erhalten hatte der Förderverein in 2015 eine erste Notsicherung des Wohngebäudes vorgenommen. Es ist ein zweigeschossiges und dreibündiges Fachwerkwohnhaus mit ehemaligen Ställen im Keller, also ein vertikales Wohnstallhaus. Nachfolgend wurde das Dach komplett neu aufgebaut. Die Fassadeninstandsetzung folgte dann ein Jahr später. Unter fachlicher Anleitung wirkten auch afghanische Asylbewerber bei der Sanierung des Bauwerks tatkräftig mit: „ganz im Sinne des respektvollen Miteinanders“, wie es bei „Wissenschaft.Hessen.de“ zu lesen ist. Die Finanzierung des Gedenkstättenprojekts erfolgte durch Spenden und Eigenleistung des Vereins im Verbund mit öffentlichen Zuschüssen.
Maßgeblicher Initiator und Protagonist der Erhaltung und Sanierung des Hauses Speier, aus dem am 7. September 1942 die Deportation der letzten acht in Angenrod verbliebenen Menschen jüdischen Glaubens erfolgte, war der ehemalige Direktor (1991 – 1997) der Alsfelder Albert Schweitzer-Schule Konrad Rüssel. Rüssel erhielt 2021 von Bürgermeister Stephan Paule für seine vielfältigen und ehrenamtlichen Tätigkeiten, speziell auch für die Gedenkstätte, die höchste Auszeichnung der Stadt Alsfeld, den Wappenteller, verbunden mit der goldenen Anstecknadel.
Rüssel, auch Vorstandsmitglied des Vereins, hatte die Bauleitung für die Sanierung des Hauses Speier übernommen. Von 2015 bis 2019 war er an drei bis fünf Tagen pro Woche mit seinen Helfern befasst, Schutt aus dem vor dem Zusammenbruch stehenden Gebäude zu räumen, die Fassade auszubessern, die Zimmerdecken zu rekonstruieren und Fenster einzubauen.
Für die Gedenkstätte war es nach Auffassung der Beteiligten vom Förderverein ein Anliegen, hier zu zeigen, dass etwas zusammengebrochen ist, nämlich die Beseitigung der jüdischen Tradition in Angenrod. Angenrod hat insgesamt 57 Opfer der Shoah zu betrauern. Das „Haus Speier“, direkt an der B 62 gelegen, konnte somit als „eines der letzten Zeugnisse der einst lebendigen und bedeutenden jüdischen Gemeinde in Angenrod bewahrt“ werden.
Hohe Anerkennung für ihre engagierte ehrenamtliche Arbeit wurden den Fördervereinsmitgliedern unter anderem durch Auszeichnung mit dem Ehrenamtspreis der Hessischen Staatskanzlei zuteil. Im Haus Speier, dem Angenröder „Ghetto-Haus“, wurde seit September 2021 eine Gedenkstätte mit einer informativen und interessanten Ausstellung über das Vogelsberger Landjudentum eingerichtet. In dem straßenseitigen Teil wurden die eingebrochenen Decken und abgeschabten Wände, der Grundintention der Restauratoren entsprechend, so belassen.
Die Exkursionsteilnehmer wurden bei gutem Wetter zunächst von Joachim Legatis vor der Treppe zum Hauseingang an den dort am 29. November 2022 von Gunter Demnig ausgelegten sechs Stolpersteinen über die Geschichte des Hauses Speier und die Schicksale der in diesem Haus noch selbstbestimmt wohnenden Familienangehörigen Speier informiert.
Das Haus der Familie Speier sei, so Legatis, entsprechend den Grundbucheintragungen mit Isaak und Betty Speier ausschließlich im Besitz der Familie Speier gewesen, also in der NS-Zeit nicht, wie bei den zahlreichen anderen Angenröder Häusern mit jüdischen Eigentümern erfolgt, zwangsarisiert worden. In den Monaten vor der Deportation in letztlich die Vernichtungslager wurden hier die letzten in Angenrod verbliebenen Angenröder jüdischer Konfession „zusammengepfercht“, wie es später Angenrods langjähriger Bürgermeister und dann Ortsvorsteher Willi Müller (16. April 1916 – 02. Juni 1990) den Behörden mitteilte.
Die Angehörigen der Familie Speier, denen hier mit den Stolpersteinen gedacht wird, sind: Vater Leopold Speier (1875 – 1944), Mutter Johanna Speier geborene Weisenbach, gebürtig in Leihgestern (1898 – 1944), Tochter Liselotte Speier (1933 – 1942) und Sohn Alfred Speier (1927 – 1944). Auch für den aus Frankfurt deportierten Willi Speier (1922 – ermordet im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, Todesdatum nicht bekannt) – er befand sich damals in der Mainmetropole in Ausbildung – liegt ein Stolperstein aus, zudem noch für den 1924 in Angenrod geborenen Sohn Ludwig Speier, der 2007, also 82-jährig, in New York verstarb, also nicht Opfer der Shoah wurde.
Zu Ludwig Speier, dem es gelang, durch Emigration aus Basel, wo er bei einem Bäcker beschäftigt war, nach New York sein Leben zu retten, bemerkte der Fördervereinsvorsitzende, dass diesen die Tatsache, dass sich seine Familie nicht wie auch andere Angenröder jüdische Familien durch Emigration habe retten können, zeitlebens schwer traumatisiert habe. Er habe in New York zwar existentiell gut leben können, sei aber de facto ein gebrochener Mann gewesen.
Während im Erdgeschoss der Angenröder Gedenkstätte die spezielle Geschichte der jüdischen Landbevölkerung, der „rural Jews“, präsentiert ist – auch hier und weiter bei den Exkursionsstationen brachten sich die ausnehmend interessierten Besucher immer wieder mit Nachfragen ein –, gelangten dann die Gießener Exkursionsteilnehmer über die mit prägnanten menschenverachtenden Nazi-Parolen „dekorierte“ steile Treppe ins Obergeschoss.
Im Obergeschoss mit seinem Vortragssaal, der auch bei diversen öffentlichen Veranstaltungen wie Lesungen und Konzerte genutzt wird, konnten sich dann die Gäste aus Mittelhessen sofort digital an den ausgelegten Tablets über die Geschichte der Angenröder und der hiesigen Landjuden – auch mit Video-Interviews und zahlreichen Bildern – ausgiebig informieren. Zwei Teilnehmer wurden von Joachim Legatis durch face to face-Komunikation informiert, die übrigen acht waren sehr engagiert interaktiv-digital an den Tablets unterwegs. Die Außenanlage der Gedenkstätte ist mit Blick auf die religiöse jüdische Tradition in Form einer „Laubhütte“ angelegt. Angenrods jüdische Bevölkerung war jüdisch-orthodox gläubig und gehörte zum Provinz-Rabinnat Gießen.
Nach der Führung mit Besichtigung der Gedenkstätte, gingen dann die Besucher in Begleitung des Fördervereins-Vorsitzenden zu Fuß weiter durch Angenrod: zunächst zum Gedenkplatz für die ehemalige 1797 erbaute und 1961 niedergelegte repräsentative Fachwerk-Synagoge in der Judengasse, dem historischen „Klein-Jerusalem“.
Nach langen Jahren Wartezeit und sicher im Verbund auch mit der ab 2000 durch einen Lokalhistoriker dezidiert aufgearbeiteten Geschichte der Angenröder jüdischen Bevölkerung wurde hier im Oktober 2018 eine würdevolle Gedenkstätte eingerichtet: mit sieben unterschiedlich hohen Vogelsberger Basalt-Stelen, der jüdischen Menora, dem siebenarmigen Leuchter, nachempfunden, und mit der hier angebrachten großformatigen Bronzegedenktafel mit Reliefabbildung der Synagoge. Die durch Spenden finanzierte Bronzegedenktafel hat allerdings im Lauf dieser Jahre ganz erheblich Patina angesetzt – sicher ein Anlass, hier demnächst Verschönerungsmaßnahmen speziell mit Blick auf die Lesbarkeit der Inschriften und der Erkennung der Reliefdarstellungen einzuleiten.
Abschluss-Station der knapp dreistündigen Angenrod-Exkursion des OHG war dann der jüdische Gemeinschaftsfriedhof Angenrods am westlichen Ortsausgang, eines Sammelfriedhofs von jüdischen Verstorbenen aus nicht nur Angenrod, sondern auch aus Ober-Gleen, Romrod, Leusel, Alsfeld, Neukirchen und Ober-Breidenbach. Es sind hier noch um die 207 Grabmale vorhanden. Um zu ihm zu gelangen, mussten die Besucher den derzeit nur schlecht begehbaren Bauabschnitt im Rahmen der B 62-Erneuerung in Kauf nehmen.
Das älteste Grab auf dem in der unseligen Nazi-Zeit massiv reduzierten Angenröder jüdischen Friedhof ist das von Haune Moses Rothschild (1775 – 1842) ganz am westlichen Friedhofsrand. Haune Moses Rothschild war einer der ersten Angenröder Schutzjuden, das heißt, er hatte für den ihm durch die Angenröder Herrschaft der von Wehrda genannt Noding gewährten Schutz gesonderte Abgaben zu entrichten.
Vereinsvorsitzender Legatis wies bei seinem Rundgang auf dem jüdischen Begräbnisareal, nachdem man zunächst das Doppelgrab von Isaak (1844 – 1921) und Betty Speier geborene Bacharach (1849 – 1925) im Gedenken besucht hatte, insbesondere auf verschiedene noch gut erhaltene Grabmale mit Reliefdarstellungen hin wie mit abgebildeten Messern und zwei Kelchen als Symbol für den jüdischen Beschneider, den „Mohel“, segnenden Händen der Kohanim, von Nachkommen des Priesterstammes, und auch auf ein Eisernes Kreuz, die Verbundenheit des gestorbenen Juden mit dem Deutschtum im Ersten Weltkrieg symbolisierend. Auch deutsch-typisches Eichenlaub ist als Relief vertreten.
Legatis wies auch darauf hin, dass insgesamt fünf Angenröder Israeliten im Ersten Weltkrieg für Deutschland, das damalige Kaiserreich, gefallen seien. Ihnen wird durch Inschriften auf der Gedenktafel für die Gefallenen der Kriege auf dem Evangelischen Friedhof (Getürms) nachhaltig gedacht. Als Zeichen der Ehrerbietung den jüdischen Verstorbenen gegenüber hatten Legatis und auch die Exkursionsteilnehmer eine Kopfbedeckung aufgelegt, die „Kippa“.
Bereits am Friedhofseingang hatten die Teilnehmer auch die am schmiedeeisernen Gittertor angebrachte sehenswerte Gedenkplatte in Augenschein nehmen können: „Gestiftet am hundertjährigen Jubiläumstage der hiesigen Synagoge von Frau Regine Brill New Jork, Tochter des Meier Höchster I. u. dessen Ehefrau Karoline und zum Andenken an ihre hier ruhende sel. Mutter der israel. Gemeinde Angenrod, gewidmet am 27. Februar 1897.“
Fotos: Ingfried Stahl
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