
Dr. Oliver Nass referierte an der Alexander-von-Humboldt-Schule über Chancen und Risiken der MediennutzungNiemals afk – die digitale Welt von Kindern kennen
LAUTERBACH (ol). In einem Vortrag an der Alexander-von-Humboldt-Schule in Lauterbach beleuchtete der Psychotherapeut Dr. Oliver Nass die digitale Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen. Unter dem Motto „Never afk“ erläuterte er die Mechanismen, die junge Menschen an Smartphone, Konsole und PC binden, und machte zugleich auf Risiken wie Computerspielsucht, Cybermobbing und Cyber-Grooming aufmerksam. Nass betonte die Bedeutung von klaren Regeln, medienfreien Zeiten und der Stärkung von Medienkompetenz in Elternhaus und Schule.
Konflikte mit Kindern und Jugendliche über ihre Mediennutzung stehen in den meisten Familien auf der Tagesordnung. Und nicht nur dort: Das Handyverbot an hessischen Schulen zeigt, dass die digitale Welt offenbar auch im Schulalltag die Oberhand gewonnen hatte. Hier wurde Einhalt geboten. Im Alltag außerhalb der Schule ist das nicht per Anordnung möglich. Darum gilt es, Fragen zum bewussten Umgang mit digitalen Medien zu beantworten, Unsicherheiten zu begegnen und sich klarzumachen, dass Medien auch bewusst und sinnvoll eingesetzt werden können. Mit diesen Worten stellte Florian Jost, Schulleitungsmitglied der Alexander-von-Humboldt-Schule, vor wenigen Tagen einen versierten Redner vor: Dipl.-Psych. Dr. Oliver Nass ist Leitender Psychotherapeut am Herz-Jesu-Krankenhaus in Fulda und hat sich u. a. in seiner Dissertation mit den Zusammenhängen von Computerspielsucht, Schlaf, körperlichem Befinden, Sozialkontakt und Essverhalten beschäftigt. In verschiedenen Gremien arbeitet er weiterhin intensiv an dem Thema Umgang mit Computer(spiel)sucht. Das Angebot des Lauterbacher Gymnasiums richtete sich an Lehrkräfte, Eltern und Interessierte gleichermaßen, berichtet die AvH in einer Pressemitteilung.
„Never afk“ – „never away from Keyboard = niemals weg von der Tastatur“. Dr. Oliver Nass nahm das Publikum mit auf einen rasanten Ritt durch Termini und Abgründe der digitalen Welt, gab den Eltern Tipps und verhehlte auch die Möglichkeiten nicht, die ein bewusster Umgang mit Handy und Computer bietet. Wie viele Eltern weiß auch er, dass das Handy oft die Erweiterung des Arms von Kindern und Jugendlichen ist, doch er wollte gezielt nicht bashen, sondern ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die Dosis das Gift mache. Nass zeigte die Digitale Welt als einen Raum, der schnell süchtig machen könne: FOMO – „Fear Of Missing Out“, also die Angst, etwas zu verpassen – begleite nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Kinder und Jugendlichen, die in diese Welt hineingeboren wurden. Die anwesenden Eltern und Lehrkräfte lernten die Systeme kennen, die in der Digitalen Welt dazu führen, immer dranzubleiben: Belohnungen (wie der Beifall bei den Gesundheits-Trackern) sind das eine, die Verpflichtung, bis zum nächsten Level im Spiel zu bleiben, das andere; oft verbunden mit sozialem Druck. Endgeräte dafür gibt es viele: Neben Smartphones und Desktops auch Konsolen aller Art und Generationen. Was auch immer sie tun, die Kinder haben das Gefühl, immer schauen zu müssen, was in ihrem digitalen Umfeld läuft: 1200 bis 1500 Whatsapp-Nachrichten in unterschiedlichen Gruppen pro Tag seien die Regel, erfuhren die erstaunten Zuhörer in der Aula. Das Problem sei, dass die Hirnentwicklung eines Menschen erst im Alter von sechzehn Jahren so weit sei, dass man selbst entscheiden könne, worauf man reagiert und worauf nicht. Für Kinder und Jugendliche stellt dies demnach eine große Unsicherheit dar, die sie selbst gar nicht realisieren. Wenn Eltern und Lehrer hier die Kontrollinstanzen sind, sind Konflikte vorprogrammiert.
Weitere Themen, die das Leben in und mit Digitalen Welten mit sich bringt, sind das sofortige Bewerten (anstelle von achtsamem Umgang), die Kürze von Tiktok-Beiträgen, die dazu führt, dass junge Menschen einen immer kürzere Aufmerksamkeitsspanne haben, und die Mittel, die angewandt werden, um (junge) Menschen immer am Ball zu halten („never afk“). Nass vermittelte einen Einblick in die Funktionsweise von Spielen, die gerade Eltern oft fremd ist. Man müsse verstehen, wie lange Spielsequenzen dauern, damit man wisse, wann ein Kind auch mal guten Gewissens aufhören kann, lautete ein Rat des Experten: Eltern sollen also nicht pauschal verteufeln, sondern sich mit dem auseinandersetzen, was das Kind tut. Nicht alles sei gleich Spielsucht. Diese manifestiert sich nach Nass‘ Forschungen u. a. im Ess- und Schlafverhalten: Wer abends spät noch esse, wolle nicht schlafen, sondern zocken. Dies wiederum führe dazu, dass man morgens noch müde sei und das Leben bei zunehmendem Medienkonsum aus den Fugen gerate. Es gebe Spiele, so Nass, der sich als Gamer selbst sehr gut damit auskennt, die erfordern, dass man täglich vier Stunden, am Wochenende gar acht bis zehn Stunden spiele, um etwas zu erreichen (z.B. World of Warcraft). Viele Spiele, bei denen es um „Survival of the fittest“ gehe, überforderten die Kinder – der Stress sei kaum auszuhalten. Wenn dann noch eine Mutter oder ein Vater kommt und fordert, jetzt, in dem Moment aufzuhören, könne die Situation sehr leicht eskalieren. Eltern sollten den Kindern Alternativen zu Computerspielen bieten: Echte Spiele, echte Begegnungen, echtes Leben.
Nass ging auch auf die Kosten ein, die mit den Upgrades der Spiele verbunden sind: Zehn Milliarden Euro Umsatz machte die Spieleindustrie 2023 allein in Deutschland – ein Riesenmarkt also, der seine Klienten – auch die jüngsten – bei der Stange halten will. Interessant: Das Durchschnittsalter von Gamern ist 38 Jahre, der Frauenanteil mit 48 Prozent fast gleichauf mit den Männern.
Im Verlauf des spannenden Vortrags ging der Psychotherapeut auch noch dezidierter auf Suchtverhalten ein und stellte Social-Media-Phänomene wie Ghosting, Cyber-Mobbing und Cyber-Grooming dar. Da diese eine große Gefahr für Kinder und Jugendliche bedeuten – im Extremfall die Anbahnung von realen Treffen mit der Absicht des sexuellen Übergriffs – ließ Nass zahlreiche Präventiv-Angebote da und verwies unter anderem auf die Plattformen www.innocenceindanger.de, www.klicksafe.de, www.spielbar.de (ein Portal, auf dem Eltern sich über die Inhalte von Computerspielen informieren können) oder auch www.juuuport.de.
Für Dr. Oliver Nass spielt die Mediensouveränität eine Schlüsselrolle im Umgang mit den digitalen Angeboten. Diese müsse gemeinsam mit Medienkompetenz gelehrt werden. Sie bedeute die Fähigkeit, die Kontrolle über die Mediennutzung zu bewahren. Frühzeitige Umgangsregeln in Kita, Schule und Elternhaus gehörten dazu wie die Stärkung der individuellen Kompetenz, etwa im Umgang mit der Angst etwas zu verpassen. Und – für den Psychotherapeuten ganz klar: Eltern müssen ihre Kinder auch vor Angeboten schützen und riskieren sich unbeliebt zu machen. Hilfreich seien feste Mediennutzungszeiten sowie komplett medienfreie Zeit. Darüber hinaus müssten auch Eltern ihren Medienkonsum kritisch betrachten.
Aus der Elternschaft kamen viele Rückfragen zum richtigen Umgang mit den Kindern. Es wurde deutlich, dass die Mediennutzung überall ein großes Thema ist. Die Vorschläge des Experten lauteten: Regeln aufstellen, Konsequenzen transparent darstellen und einhalten und „den Shitstorm der Kinder aushalten.“
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