Interview zum 30. Geburtstag des AZN Naturerlebnishauses Heideberg e.V.„Apfelsaft machen ist maximal unterschätzt“
KIRTORF (ol). Seit drei Jahrzehnten prägt das AZN Naturerlebnishaus Heideberg in Kirtorf die Umweltbildung in der Region – mit Exkursionen, Projekten an Schulen, Kindergeburtstagen und zahlreichen Veranstaltungen. Was 1995 mit Dolf Böhms Vision vom „Unterricht draußen“ begann, ist heute ein professionelles Bildungszentrum mit über 100 Veranstaltungen pro Jahr und starken Partnern in Hessen. Zum Jubiläum ziehen Leiter Dr. Martin Jatho und sein Team Bilanz: von den Anfängen beim Apfelsaftkeltern bis zur Klimabildungslandschaft Vogelsberg. Ein Wunsch bleibt – ein winterfestes, größeres Haus für die Zukunft.
Für die Menschen in der Region, die sich für ihre Umwelt interessieren, für die Natur und deren Schutz, ist das AZN eine Institution: Unter dem Dach des Vereins AZN Naturerlebnishaus Heideberg e.V. finden Exkursionen statt, Apfelernten samt Saftkeltern, Kindergeburtstage, Mobile Umweltbildung und vieles mehr. Dreißig Jahre wird diese über die Region hinaus bekannte Einrichtung nun alt – drei Jahrzehnte voller Veränderungen, sich wandelnder Herausforderungen und immer neuer Aufgaben.
Doch schon lange vor dem offiziellen Gründungsjahr 1995 nahm das AZN seine Anfänge, wie dieses in der Pressemitteilung berichtet: Der Grundschullehrer Adolf „Dolf“ Böhm war der Meinung, dass Kinder Natur nur in der Natur begreifen und verstehen können. Mit Unterstützung der Stadt Kirtorf, der Kreisverwaltung und der örtlichen NABU-Gruppe gründete er das Ausbildungszentrum der Naturschutzjugend (AZN) mit seinem Standort am stillgelegten Basaltsteinbruch, wo das Naturerlebnishaus heute noch angesiedelt ist.
Aus persönlicher Motivation beackern seither viele engagierte Persönlichkeiten aus den Bereichen Bildung, Naturschutz, Forst und Gemeinde das Feld der Zukunft. „Die Menschen und ihre Haltung sind das Herz dieses im Vogelsberg so wichtigen Players für Aufklärung und Selbstwirksamkeit im Umweltschutz. Ein Gemeinsamhandeln für einen gesunden Lebensraum ist es, was Grenzen überwinden lässt“, beschreibt Jessika von Kiparski, die als Sekretärin das jüngste Teammitglied ist.
Heute ist Dr. Martin Jatho das Gesicht des AZN, seit knapp zwanzig Jahren ist er dessen Leiter, ebenfalls seit fast genau dieser Zeit ist Bettina Dören mit im Boot. Sie wissen viel zu erzählen über die Entwicklung dieser sehr besonderen Institution: „Wir waren die ersten, die mit ihren Inhalten zu Umwelt und Naturschutz in die Schulen gegangen sind“, sagt Martin Jatho nicht ohne Stolz. „Die Kinder durften mit uns rausgehen, selbst experimentieren und auch Fehler machen. Es war lebendiger Unterricht, der eine andere Neugier und Aufmerksamkeit geweckt hat. Unterricht wird durch uns zum Lokaltermin.“
Eine Idee, der das AZN seit seiner Gründung treugeblieben ist: Mit der WaldKlimaTour und dem Schuljahr der Nachhaltigkeit haben sie neue Formate gefunden, um mit Schulen zu kooperieren und Kinder (meistens) zu begeistern. 1995 gestartet mit sechs Schulveranstaltungen, bieten Jatho und sein Team – neben ihm und Dören noch Dr. Alexandra Botzat, Jessika von Kiparski, Jan Christian Niemeier, Michael Sprenger und Margarita Lange – heute knapp hundert Veranstaltungen in den Schulen des Vogelsbergkreises an. „Wir sind tatsächlich ein wichtiger Dienstleister auf dem Bildungssektor“, betont Alexandra Botzat, und dennoch: Das AZN scheffelt keine Reichtümer, im Gegenteil: Es lebt von einer jährlichen Zuwendung des Vogelsbergkreises, Teilnahmegebühren aus Veranstaltungen, Mitgliedsbeiträge des Fördervereins, Spenden sowie Förderungen und Beauftragungen des Hessischen Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Letztere schwanken stark, da sie von der jeweiligen Besetzung und Couleur der Ministerien abhängen. So liegt es auf der Hand, dass von allen Mitarbeitenden viel Einsatz und Leidenschaft verlangt wird, die ein normales berufliches Maß meist übersteigen.
Doch die Mitarbeitenden bleiben dran – sie sind überzeugt, dass „die Klima- und Naturbildung schon in Schule von großer Bedeutung für die Zukunftsgestaltung ist.“ Und nicht nur das: „Erlebnisse in der freien Natur stärken die Persönlichkeit, da man auch Unwägbarkeiten bezwingen muss. Sie wirken sich positiv auf die Resilienz aus und ganz abgesehen davon machen sie einfach großen Spaß“, sagt Martin Jatho. Dass Kinder heutzutage kaum noch ohne Anleitung oder ohne Grund einfach so im Wald und auf den Wiesen unterwegs sind, macht ihm Sorge. „Die Kinder fragen nach einem Vormittag am Bach, ob sie nachmittags auch wieder raus dürfen – als ob das nicht selbstverständlich wäre“, so eine Erfahrung aus dem Unterricht. Umso größer ist sein Antrieb, gerade Kindern die Natur und das Leben mit ihr zu vermitteln. Die Kreativität des Umweltpädagogen und seines rührigen Teams sind sprichwörtlich: Gemeinsam haben sie u.a. die Lernwerkstatt entwickelt und hessenweite Standards in der Umweltbildung gesetzt.
Als AZN-Gründer Dolf Böhm gemeinsam mit seinen Mitstreitern Walter Kress, Gabi Dübbelde und Traudel Brandstädter die ersten Angebote machte, war das Keltern von Apfelsaft der große Renner – und ist es bis heute: „Apfelsaft machen ist maximal unterschätzt“, sagt Martin Jatho. „Es hat eine große persönliche und selbstwirksame Komponente.“ Wer jemals in Kirtorf oder anderswo das leckere Getränk aus heimischen Äpfeln selbst hergestellt hat, weiß, was der Experte meint.
Doch längst ist Umweltbildung kein Thema mehr, das sich auf Kinder und Jugendliche in Schulen beschränkt: Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) geht alle an und ist ein großes Element auch in der Erwachsenenbildung. Die 17 Ziele der Vereinten Nationen (SDGs) sind Ansätze Nachhaltigkeit für jedes Alter begreiflich zu machen. So hat das zuständige Ministerium den BNE-Pakt aufgelegt, in dessen Rahmen das AZN die WaldKlimaTour entwickelt hat. Gemeinsam mit dem klimafairein konnte das AZN sich im vergangenen Jahr erfolgreich um den Auftrag des Hessischen Landwirtschafts- und Umweltministeriums bewerben und die Klimabildungslandschaft Vogelsberg ins Leben rufen. Ein Meilenstein für das AZN, auch in Sachen Öffentlichkeit: „Wir werden gesehen und können mit anderen Akteuren viel bewegen.“
Auch die eigenen Veranstaltungen wie jüngst der „Bodensalon“ mit externen Referenten machen deutlich: Der „Schulunterricht ohne Kreide“ von AZN-Gründer Dolf Böhm ist längst in der Welt von Vernetzung auf vielen Ebenen, Social Media, Events und anderen Angeboten angekommen. Zum Glück, denn in den dreißig Jahren seines Bestehens haben Umweltbildung und Klimaschutz an Bedeutung gewonnen und werden – auch wenn noch viel zu tun ist – in allen gesellschaftlichen Bereichen wahrgenommen.
Zum Erfolg gehören auch Kooperationen mit verschiedenen Bereichen: HessenForst ist ein wichtiger Partner für das AZN, die Kommunen, die Volkshochschule und die Max-Eyth-Schule sowie Umweltschutzorganisationen wie der BUND und die Arbeitsgemeinschaft Natur und Umwelt in Hessen (ANU), deren Mitbegründer wiederum das AZN ist. Auch Beratungszentrum für Umweltschulen ist das AZN inzwischen geworden: Seine jahrelange Beharrlichkeit und Expertise ist bekannt und sorgt für einen guten Ruf. Das Schuljahr der Nachhaltigkeit ist mittlerweile feste Ergänzung des Lehrplans, das von Schülern und Lehrkräften dankbar angenommen wird.
Bettina Dören blickt auf das Team: Sieben Menschen sind inzwischen hier beschäftigt – sie alle eint der Wunsch, Umweltbildung in die Region zu tragen, die auch noch Spaß machen soll. „Dass wir uns dabei so gut verstehen, ist ein großer Schatz, sagt die Umweltpädagogin. Flache Hierarchien, gegenseitige Wertschätzung und Unterstützung sowie ein Arbeitsfeld, das relevant ist. Dörens Fazit: „Dolf wäre stolz auf uns.“ Sie fühlen sich alle wohl am Heideberg und hätten doch einen Geburtstagswunsch: Das Haus am stillgelegten Steinbruch ist weder wetterfest noch groß genug für die vielen Dinge, die sich für die verschiedenen schulischen und außerschulischen Aufgaben angesammelt haben. Von Arbeitsplätzen für die Mitarbeitenden ganz zu schweigen. Bettina Dören: „Ein winterfestes Büro mit ausreichend Platz wäre schön.“ Auch eine Stärkung und Verjüngung des Vereins AZN haben sie hier auf ihrem Wunschzettel.
Die inhaltliche Zukunft des AZN sehen sowohl Martin Jatho als auch Alexandra Botzat und ihre Kolleginnen und Kollegen in einer Stärkung der BNE: „BNE ist hochpolitisch“, sagt Jatho. „Sie ist eine Haltung den Menschen und der Mitwelt gegenüber.“ Auch die Frage, ob Wohlstand immer nur materiell konnotiert werden müsse oder auch eine intakte Natur zu haben zum Wohlstand führt, bringt er auf den Tisch.
Dreißig Jahre nach seiner Gründung ist das AZN also keineswegs in die Jahre gekommen: Es ist mit den Herausforderungen gewachsen, stellt sich der Gegenwart und der Zukunft, nutzt die zahlreichen Möglichkeiten zur Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit. Es wird gemeinsam mit allen verbundenen Akteuren ein wichtiger Player in der Region bleiben. Doch eines soll bei allem Wandel und in den modernen Zeiten bleiben: Apfelsaft wird es immer geben. Zum Beispiel am Apfelfest zum Geburtstag des AZN am Samstag, dem 27. September.
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