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Zusammenfassung der zweiten "Demokratie hautnah"-Talkrunde„Wir müssen die Menschen integrieren – auch aus Eigennutz“

VOGELSBERG (ls). Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, viel Bewegung auf der Balkanroute und steigende Asylbewerber-Zahlen: Während einige schon von einem zweiten 2015 sprechen, sind viele Kommunen überfordert – dabei steht mit der Integration der Menschen die größte Aufgabe noch bevor. Wie der Vogelsberg diese Aufgabe meistert und wo die Integration reibungsloser laufen könnte? Hier gibt es die Zusammenfassung der ersten „Demokratie hautnah“-Talkrunde.

Es war ein Thema, das aktueller nicht hätte sein können, insbesondere mit Blick auch zwei Notunterkünfte für geflüchtete Menschen, die in diesem Jahr in Alsfeld entstanden sind. Vor welche Herausforderungen stellt die Integration einen Landkreis wie den Vogelsberg und dessen Helfer, wollte Moderator und Erster Kreisbeigeordneter Jens Mischak von den anwesenden Gästen wissen – und die hatten dazu einiges zu sagen.

„Die Flüchtlingszahlen steigen seit dem Sommer an“, erklärte Dominik Zutz, Regierungsoberrat des Regierungspräsidiums Gießen (RP). Im Februar seien es zunächst noch die enormen Zuströme von Menschen aus der Ukraine gewesen, die Zuflucht gesucht hätten, mittlerweile seien es viele Menschen aus Syrien oder Afghanistan.

Zum Vergleich: Im Juli seien es etwas über 3.000 Flüchtlinge gewesen, die in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen – also dem Standort in Gießen – ankamen, im Oktober seien es über 8.000 gewesen.

Flüchtlingszustrom in globalen Kontext gesetzt

Zutz muss es wissen, denn er ist stellvertretender Dezernatsleiter in der Abteilung Flüchtlingsangelegenheiten, Erstaufnahmeeinrichtung und Integration beim RP und war als Leiter für Flüchtlingsangelegenheiten in diesem Jahr besonders gefordert. Wie der Zustrom nun weiter gehe, könne man nicht prognostizieren. Möglicherweise komme nun der Winter-Effekt, in dem es mehr Kälteflüchtlinge gebe, möglicherweise ebbe der Zustrom aber auch ähnlich wie in 2015 ab. „Wir wissen, dass diese Bewegungen in Wellen ablaufen“, sagte Zutz.

Schon damals habe man gewusst, dass mit der Flüchtlingskrise – ein Wort, das Zutz nicht mag – auch eine Integrationskrise komme. Deshalb habe man mit der Integration schon in der Erstaufnahmeeinrichtung begonnen: Dort gab es Beschulung für die Kinder, Sprachkurse, Wertevermittlung, Sportangebote und auch psychologische Betreuung. Zur Wahrheit gehörte aber auch, dass es Menschen gebe, die sich nicht integrieren wollen.

Die Runde des zweiten „Demokratie hautnah“-Talks. Anders als angekündigt, konnte der Vorsitzende der islamischen Gemeinde Adem Maden krankheitsbedingt nicht teilnehmen.

Ralf Müller vom Freiwilligenmanagement Flüchtlingshilfe des Evangelischen Dekanats setzte die von Zutz genannten Zahlen in einen globalen Kontext: 103 Millionen Menschen seien weltweit auf der Flucht. Dazu müsse man wissen, dass 70 Prozent davon Binnenflüchtlinge seien oder Zuflucht in Nachbarländern suchten . „Jemand, der seine Heimat verlässt – und die wenigsten Menschen möchten ihre Heimat verlassen – der sucht in der Nähe, also in den Nachbarländern, Zuflucht“, erklärt er.

Syrien beispielsweise, das Land, aus dem viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen, sei eines der größten Aufnahmeländer von Flüchtlingen. Österreich, von den Einwohnerzahlen deutlich kleiner als Deutschland, nehme beispielsweise deutlich mehr Flüchtlinge auf als Deutschland. Die Türkei, die von den Einwohnerzahlen vergleichbar mit Deutschland sei, nehme doppelt so viele Flüchtlinge auf. „Eigentlich kommt also nur ein Kleckerbetrag bei uns an“, erklärte Müller.

Zutz: Deutschland ist stark belastet, aber nicht überlastet

Dem stimmte Zutz zu und erklärte, dass Deutschland eigentlich nicht höchstbelastet ist, er glaube allerdings, dass sich die Bundespolitik schwer damit tue, nachhaltige Lösungen zu finden. Auch speziell der Vogelsberg werde nicht stärker belastet als andere Kommunen – wenn auch die Zuweisungen an alle Landkreise leicht erhöht wurden. Geregelt wird die Anzahl der Zuweisungen anhand des Königsteiner Schlüssels, der sowohl Größe, Einwohnerzahlen und weitere Parameter berücksichtigt. Alles in allem sei Deutschland stark belastet, aber nicht überlastet.

Gerade dann sei es wichtig, dass die Menschen gut integriert werden, erklärte die Vogelsberger Integrationsbeauftragte Elisabeth Hillebrand und zitierte aus einem Zeit-Artikel, wonach Deutschland seit Jahren schlecht integriere. Man sei gut beraten, wenn man die Menschen bei ihrem Weg begleite und ihnen den Weg weise und ihnen auch helfe, Arbeit zu finden. Seit Jahren herrsche in Deutschland Fachkräftemangel und da seien Menschen, die man anlernen könne.

„Wir müssen integrieren – auch aus Eigennutz“, plädierte sie. Die Ausbildung hier sei ihrer Meinung nach ein wesentlicher Teil der Integration, das habe sie selbst bei einer Familie aus der Ukraine erlebt. Dadurch konnten die Menschen Deutsch lernen und sich auch in Gemeinschaften integrieren. Die Kompetenzen, die die Menschen erwerben, könne man auf dem Arbeitsmarkt hier gut gebrauchen.

Ein Problem: Die Perspektivlosigkeit über Jahre

Dass das aber gar nicht so einfach ist, machte Christian Hendrichs klar, der 15 Jahre lang Vorsitzender des hessischen Flüchtlingsrates war und einige Menschen nach ihrer Ankunft in Deutschland begleitete. Eine der Haupthürden sei, dass den Menschen sehr lang keine Perspektive gegeben werde, ob sie bleiben dürfen oder nicht. Oftmals ziehe sich das über Jahre hin und her. 80 Prozent der Afghanen dürften beispielsweise in Deutschland bleiben, bis sich das allerdings herausstellt, würden oft vier bis fünf Jahre vergehen. „Wenn man als Mensch nicht weiß, ob man in dem Land bleiben darf, dann gelingt die Integration nicht“, sagte er.

Christian Hendrichs war 15 Jahre lang Vorsitzender des hessischen Flüchtlingsrates.

Hendrichs sieht im Chancen-Aufenthaltsrecht einen maßgeblichen Punkt. Dadurch hätten die Menschen ein Jahr lang Zeit, sich um einen Arbeitsplatz zu kümmern, die Sprachkenntnisse aufzubauen, ihre Identität zu klären und vieles auf den Weg zu bringen, was ihnen vorher nicht möglich war. Aus seiner Sicht gibt es aber noch ein ganz anderes Problem: Bei vielen Dingen bräuchten die geflüchteten Menschen eine engmaschige Betreuung, was durch die Ehrenamtlichen so meist nicht leistbar sei.

Viel passiere schon auf der nachbarschaftlichen Ebene, erzählte Müller aus seinen Erfahrungen, doch in den Freiwilligen-Strukturen sei die Frustration insbesondere wegen der bürokratischen Hürden hoch. Hier müsse eine bessere Vernetzung her, die man vor Corona noch mit dem Konzept der Runden Tische hatte. In der Pandemie hätten aber viele Freiwillige, die schon kontinuierlich seit 2015 dabei waren, die Chance genutzt, auszusteigen. „Ehrenamt macht man immer nur auf Zeit“, erklärt Müller. Viele seien schon seit 2015 kontinuierlich dabei gewesen

Auch brauche man als Freiwilliger eine hohe Frustrationsschwelle, denn die geflüchteten Menschen kennen Zivilgesellschaften nicht und wüssten und verstehen häufig nicht, dass die Leute sich ehrenamtlich für sie einsetzen. „Man bekommt sehr häufig wenig Dankbarkeit. Darauf allein kann man nicht setzen“, erzählte Müller.

Da müssten einige Strukturen, die die Vernetzung zwischen Hauptamt und Ehrenamt bilden, wieder hoch gefahren werden, forderte auch Hendrichs. „Da braucht es ein stärkeres Zusammenspiel. Wenn das Ehrenamtler festgefahren sind in Rechtssituationen und man dann nicht mehrweiter kommt, dann ist das Ehrenamt schnell am Ende“, ergänzte er.

Wunsch: Den Menschen als Mensch begegnen

Im Vogelsberg klappt das aus Sicht von Elisabeth Hillebrand sehr gut. Bei den Wir-Vielfaltszentren würde genau das gemacht: Koordinieren und Ehrenamt, Geflüchtete, Hauptamt und Verwaltung zusammenbringen. Sie würde sich wünschen, dass die Leute beruflich integriert werden. Doch dass das duale Ausbildungssystem eine Problem ist, erklärte Müller: „Die Menschen wollen schnell Geld verdienen, um es nach Hause zu schicken. Deshalb sind viele von ihnen hier gekommen: Um Geld zu verdienen und die Familie zu unterstützen.“

Er wünsche sich ein institutionelles Umdenken zu einem modernen Freiwilligenmanagement, das DRK habe das bereits gemacht. Dort würden nicht mehr Menschen für spezielle Aufgaben gesucht, sondern erst einmal der Mensch gesucht, der dann dort eingesetzt wird, wo er sich engagieren will. So könne man die Freiwilligen halten und motivieren. Für die geflüchteten Menschen selbst wünsche er sich eine individuelle Betrachtung der einzelnen Lebenslagen.

Während die einen hier ankommen, sich sofort sehr sicher fühlen und dann den Kopf frei haben, sich zu integrieren, hängen viele andere Flüchtling noch mit den Gedanken in ihrer Heimat, seien traumatisiert und könnten sich deshalb schlechter integrieren, bestätigte auch Zutz. Langfristig sei es wichtig, Geduld zu haben und die Menschen mit ihren Schicksalen individuell zu betrachten. Für eben diese Einzelfälle wünsche er sich eine besser Übergabe von der Erstaufnahme an die Landkreise. Da sehe er noch Verbesserungsbedarf.

Dominik Zutz, Regierungsoberrat des RP Gießen.

Für Christian Hendrichs stand die Auflösung des Arbeitsverbots für Geflüchtete im Vordergrund. Das Beste wäre seiner Meinung nach, wenn das aufgelöst werden würde, denn Arbeit sei ein wesentlicher Faktor von Integration. „Ich glaube diese neuen Menschen mit ihrer anderen Art können eine Bereicherung sein, wenn man bereit ist zu sagen, dass man hinnimmt, dass jemand anders ist und trotzdem ein Mensch ist“, sagte Hendrichs. Ein richtiger Austausch könne nur stattfinden, wenn es gelinge sich als Menschen zu begegnen – und man nicht den Afghanen oder Syrer sehe, sondern Ahmet oder Mohammed.

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