Zwei Vogelsberger Pflegemütter im GesprächBei Anruf plötzlich Familie
VOGELSBERG (akr). Von jetzt auf gleich ein fremdes Kind bei sich aufnehmen, ohne zu wissen für wie lang. Diese Situation haben die 45-jährige Kathrin und die 71-jährige Renate schon viele Male erlebt. Die beiden Frauen arbeiten nämlich bereits seit Jahren als Pflegemütter. Ein Gespräch über das Leben als Familie auf Zeit.
Gerade einmal acht Monate alt war Dennis, als seine Pflegemutter Renate den kleinen Jungen bei sich aufnahm. Sein Vater war plötzlich verstorben, seine leibliche Mutter konnte sich aus gesundheitlichen Gründen nicht selbst um ihn kümmern. „Ich bin freitags angerufen worden, ob ich ihn für ein paar Wochen nehmen könnte. Montagnachmittag wurde er dann gebracht – und ist geblieben“, erinnert sich die 71-jährige Renate mit einem Lächeln im Gesicht zurück. Mittlerweile ist Dennis 26.
Dennis und Renate heißen eigentlich anders. So wie alle Personen in diesem Text, die nicht in offizieller Funktion auftreten und bei dem Gespräch im Kreishaus mit anwesend sind. Die verfremdeten Namen sollen die Familien schützen.
Dass Renate nicht seine leibliche Mutter ist, hat Dennis immer gewusst. „Wir haben daraus kein Geheimnis gemacht“, erzählt sie. „Ich habe mich immer wohl gefühlt, es war immer meine Familie“, ergänzt der 26-Jährige und schaut dabei seiner Pflegemutter in die Augen. Zu seiner leiblichen Mutter hat Dennis keinen Kontakt mehr. Anfangs hat sie ihn noch regelmäßig besucht, doch im Laufe der Zeit traf Dennis selbst die Entscheidung, dass er sie nicht mehr sehen möchte. „Der Bezug hat einfach gefehlt“, erzählt er. Für ihn war Renate immer seine Mutter und auch die 71-Jährige liebt ihn so, wie sie auch ihre leiblichen Kinder liebt. Die sind Mittlerweile 48, 45 und 42 Jahre alt. „Für sie ist Dennis auch heute noch der kleine Bruder“, lächelt sie.
Dennis ist nicht ihr erstes Pflegekind. Um über 100 Kinder hat sich die 71-Jährige in all den 32 Jahren als Pflegemutter bereits gekümmert. „Die Kinder halten mich jung“, sagt sie, und wirkt glücklich dabei. Angefangen als Tagesmutter, wechselte sie schließlich in die Bereitschaftspflege und nahm mit Dennis vor rund 26 Jahren ihr erstes Kind in Dauerpflege auf.
Vor 13 Jahren kam dann noch Lisa dazu. Drei Wochen war sie alt, ein Frühchen, als sie bei Renate einzog, weil ihre Mutter mit der ganzen Situation überfordert war. Auch ihr leiblicher Vater, der zunächst nichts von Lisa wusste, hätte sich nicht angemessen um seine Tochter kümmern können, wie er selbst entschied. Zu ihrer leiblichen Mutter hat die 13-Jährige keinen Kontakt mehr, ihren Vater sieht sie alle paar Wochen.
Warum Kinder zu Pflegekindern werden
Überforderung der Eltern ist nur eine mögliche Ursache, weshalb Kinder in die Obhut von Pflegefamilien kommen. Vernachlässigung, (psychische) Erkrankungen der Eltern, Misshandlung, Gefängnis- oder Krankenhausaufenthalte der Eltern, Krisensituationen – es gibt viele verschiedene Gründe und Lebensumstände, in denen Eltern vorübergehend oder auch längerfristig die Verantwortung für ihr Kind nicht selbst übernehmen können.
Insgesamt leben im Vogelsberg aktuell etwa 95 Kinder, inklusive der Kinder in Bereitschaftspflegestellen, in insgesamt 80 Pflegefamilien, wovon sechs Bereitschaftspflegestellen sind. Bereitschaftspflegestellen sind Pflegefamilien, die Kinder kurzfristig, sprich von jetzt auf gleich, für einen begrenzten Zeitraum aufnehmen, erklärt Jugendamts-Leiterin Dagmar Scherer. Es kann sich um wenige Tage handeln oder aber um mehrere Monate.
Dagmar Scherer (Leiterin Jugendamt), Susan Jusseaume und Annabell Stehling von der Fachstelle Pflegekinderwesen.
Die Unterbringung in einer Bereitschaftspflegestelle erfolgt häufig ohne das Einverständnis der Eltern. „Inobhutnahme aufgrund einer vorangegangenen Kindeswohlgefährdung“ ist der kühle, technische Begriff für diesen einschneidenden, für alle Seiten oftmals alles andere als leichten Schritt. Während das Kind in der Bereitschaftspflege lebt, erfolgt die Perspektivklärung. Noch so ein Wort aus dem Beamtendeutsch. Bei der Perspektivklärung wird geschaut, ob beziehungsweise unter welchen Bedingungen das Kind in seine Familie zurückkehren kann oder ob das Kind dauerhaft in einer Pflegefamilie untergebracht werden soll.
„Es ist ein langer Prozess“, weiß Susan Jusseaume von der Fachstelle Pflegekinderwesen. Aber auch in der Dauerpflege ist eine Rückführung in die Familie nicht ausgeschlossen. Das Sorgerecht verbleibt übrigens in der Regel bei den Eltern, mit denen dann aber Vereinbarungen getroffen werden. Gerade bei weitreichenden Entscheidungen, wie beispielsweise medizinischen Eingriffen, Wahl der Schule oder der Konfession sind die leiblichen Eltern miteinzubeziehen. Auch in der Dauerpflege haben Kinder Kontakt zu den Eltern, sofern die Kinder oder Eltern das wollen. „Für die Persönlichkeitsentwicklung ist es einfach wichtig zu wissen, wo man herkommt“, erklärt Stehling.
„Wir haben in all den Jahren die Beobachtung gemacht, dass sich Eltern erst nicht vorstellen können, dass ihr Kind woanders lebt. Wenn sie dann aber die Pflegestelle kennengelernt haben, sich eingestehen müssen, ihrem Kind so ein Leben nicht bieten zu können, ist es für sie in Ordnung, sofern sie den Kontakt zum Kind nicht verlieren“, erzählt Jugendamt-Leiterin Dagmar Scherer.
Anonymität wahren
Das ist aber natürlich nicht immer der Fall. Wenn Kinder von jetzt auf gleich aus einer Familie geholt werden, weil das Wohl des Kindes gefährdet ist, gibt es selbstverständlich Eltern, die „massiv auftreten und sich dagegen wehren“, erklärt Annabell Stehling von der Fachstelle Pflegekinderwesen. Deshalb legt das Jugendamt großen Wert darauf, dass die Pflegeeltern auch in diesem Text anonym bleiben, damit es nicht zu ungebetenem Besuch kommt.
Damit musste die 45-jährige Kathrin bislang zum Glück keine Erfahrungen machen. Sie arbeitet seit 2018 gemeinsam mit ihrer Familie als Bereitschafts-Pflegemutter für den Vogelsbergkreis – und zwar als Typ A. Das heißt, dass sie rund um die Uhr zur Verfügung steht, ein Kind aufzunehmen.
„Es kommt ein Anruf und man hat in 15 Minuten Zuwachs“, sagt sie und lächelt. Oft haben die Kinder bei der Aufnahme nur das dabei, was sie an Kleidung am Körper tragen. Kathrin ist aber auf alles bestens vorbereitet: Kinderkleidung in unterschiedlichen Größen, Spielsachen, Bettchen, Kinderwagen, Wickelkommode, Windeln und noch viel mehr – die 45-Jährige ist jederzeit dafür gerüstet, innerhalb kürzester Zeit Kinder bei sich aufzunehmen.
„Ich komme immer ins Schwitzen, wenn ich sie bettfertig mache, aber da wird nicht geweint oder ‚Theater‘ gemacht, weil sie wieder nach Hause wollen“, erzählt Kathrin. Das sei bislang nur bei einem Kind vorgekommen. Oft hätten die Kinder keine wirkliche Bindung an ihr Elternhaus, sondern vielmehr das Gefühl, dort zu stören, erklärt die Jugendamts-Leiterin. „Manche fragen dann auch, ob sie nicht bei mir bleiben könnten. Ich muss das dann verneinen, das ist schon sehr schwer“, erzählt Kathrin.
Während Renate Kindern unterschiedlichsten Alters ein Zuhause geschenkt hat, sind bei Kathrin die Kinder nicht älter als sechs – „Kinder bis zur Einschulung, das war meine Bedingung“, erklärt sie, denn durch die Schulpflicht hätte es sonst auch seien können, dass das Kind beispielsweise quer durch den ganzen Vogelberg in die Schule gefahren werden müsste. „Man kann sie schließlich nicht einfach ummelden“, sagt sie.
Zur Deckung des Lebensunterhaltes des Kindes und zur Anerkennung des erzieherischen Aufwandes wird ein Pflegegeld gezahlt. „Wer es wegen des Geldes machen will, sollte es lassen – wenn, dann macht man es mit Herzblut“, betont die Pflegemutter.
Für Kathrin stand von Anfang an fest, nicht in der Dauer- sondern in der Bereitschaftspflege zu arbeiten. „So helfe ich mehreren Kindern in großer Not“, erklärt sie – auch wenn es ihr keineswegs leichtfällt, ein kleines Baby, das mehrere Monate bei ihr gelebt hat, wieder gehen zu lassen. „Da kommt man schon ins Wanken, aber wir haben uns dafür entschieden, außerdem bin ich auch nicht mehr die Jüngste“, erklärt sie. „Wir halten das für eine sehr reflektierte Haltung“, merkt Stehling an.
Über den Schmerz des Abschieds
Insgesamt 50 Kindern hat Kathrin bereits ein liebevolles Zuhause geschenkt. „Manche waren nur drei Tage da, manche zwei Wochen, der Längste sogar eineinhalb Jahre – da haben wir schon sehr getrauert, als er dann in eine Dauerpflegefamilie kam“, erzählt die 45-Jährige. Und als sie daran denkt, dass schon in wenigen Tagen wieder ein Abschied naht, kann sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. „Man gewöhnt sich einfach nicht daran. Auch wenn man es weiß, tut es weh“, gibt sie zu.
Dem kann die 71-jährige Renate nur zustimmen. „Ob man es einen Tag weiß oder acht Tage, die Abschiede waren immer furchtbar“, erzählt sie und erinnert sich daran zurück, wie sich Kinder an ihr festgeklammert haben oder ihre Sachen wieder ausgepackt haben, weil sie nicht von ihr wegwollten – „es tut sehr weh, gerade nach so längerer Zeit“. Seit sie vor 13 Jahren Lisa bei sich aufgenommen hat, arbeitet sie aber nicht mehr in der Bereitschaftspflege.
Doch wie wird man eigentlich zu Pflegeltern? Zunächst erfolgt ein persönliches Kennenlernen, in dem relevante Fragen geklärt werden. Die Familien füllen einen Bewerbungsbogen aus, reichen einen Lebenslauf, ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis sowie eine Erklärung des Hausarztes ein, dass aus ärztlicher Sicht keine Bedenken gegen die Aufnahme eines Pflegekindes bestehen.
Ebenso wird auch ein Einkommensnachweis benötigt, denn die Pflegefamilie, beziehungsweise die Pflegemutter/Vater darf finanziell nicht vom Pflegegeld abhängig sein. Das häusliche Umfeld wird ebenfalls unter die Lupe genommen, sowie Gespräche mit den Haushaltangehörigen geführt, denn auch die leiblichen Kinder oder beispielsweise Großeltern sollten dem Vorhaben, ein Pflegekind aufzunehmen, positiv gegenüberstehen.
Man muss übrigens nicht selbst Kinder haben, um als Pflegeltern zu arbeiten. Es muss sich auch keineswegs um das „traditionelle“ Modell der Familie mit „Mutter-Vater-Kind“ handeln. Auch unverheiratete Paare, Alleinerziehende oder gleichgeschlechtliche Paare können Pflegeeltern werden.
Die Pflegefamilien werden aber nicht einfach ins kalte Wasser geworfen, sondern in einem Vorbereitungskurs auf ihre zukünftige Aufgabe vorbereitet. Hier werden verschiedene Themenschwerpunkte rund um das Thema Pflegefamilie behandelt, Austausch mit anderen „neuen“, aber auch erfahrenen Pflegefamilien organisiert.
Dabei ist es nicht unüblich, dass einige dann feststellen, dass das doch nichts für sie ist. Denn die Aufgabe einer Pflegefamilie zu übernehmen, ist keineswegs leicht. „Die meisten können sich nicht vorstellen, unter welchen Bedingungen manche Kinder leben und aufwachsen müssen“, erzählt die Jugendamtsleitern, was aber nicht bedeute, dass alle Pflegekinder aus miserablen sozialen Verhältnissen kommen, betont sie. Es kristallisiere sich manchmal erst im Laufe der Zeit heraus, was den Kindern genau widerfahren ist, auch in Bezug auf sexuellen Missbrauch oder Gewalt. „Das liegt nicht auf dem Tisch“, erklärt sie.
Kinder, mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen
Manchmal sind es sogar ganz alltägliche Dinge, die die Kinder nicht kennen – beispielsweise eine Zahnbürste. „Viele sind entsetzt über eine Zahnbürste und fragen dann, ob sie die wirklich benutzen dürfen“, erzählt Kathrin. Ein vierjähriger Junge habe mal angefangen zu weinen, als die 45-Jährige ihn mit einem Geburtstagskuchen überraschte. Nicht aber weil er traurig war – im Gegenteil.
Er kannte es nicht, noch nie hatte jemand einen Geburtstagskuchen für ihn gebacken, erzählt sie. „Das Geschenk hat er gar nicht beachtet. Er wusste nicht, dass man das auspacken muss.“ Der kleine Junge wollte dann, dass Kathrin Bilder macht – „vielleicht macht Mama das dann auch mal, wenn ich wieder bei ihr bin“, hat er zu ihr gesagt. Ein emotionaler Moment, der ihr ganz besonders in Erinnerung geblieben ist.
Beide Pflegemütter haben zudem auch schon Erfahrungen mit Kindern gemacht, die schwierige Verhaltensweisen mitgebracht haben. „Ich hatte mal ein zehnjähriges Mädchen, die hat geklaut ohne Ende, sogar Dennis hat sie beklaut und das obwohl sie von mir Taschengeld bekommen hat“, erzählt Renate und erinnert sich dabei an eine Situation im Supermarkt.
Beim Einkaufen hatte die 71-Jährige bemerkt, dass das Mädchen Kaugummis geklaut hatte. Die Zehnjährige musste die Kaugummis zurückbringen und bezahlen. Es habe sich dann herausgestellt, dass sie schon öfter mit ihrer leiblichen Mutter da war und auch da schon geklaut hatte. Wieder daheim angekommen hat Renate die Kaugummis auf den Schrank gelegt, essen durfte das Mädchen sie aber nicht. „Ich habe sie dann gefragt, warum sie das macht und dass ich ihr die Kaugummis doch gekauft hätte, sie hätte einfach nur fragen müssen “, erzählt sie. Das muss scheinbar etwas bewirkt haben, denn von jetzt auf gleich sei das mit dem Klauen nicht mehr vorgekommen.
Für Renate war der Diebstahl aber keineswegs ein Grund, das Kind wieder abzugeben. „Da muss man durch. Ich wollte schließlich, dass sie damit aufhört“, sagt sie. Zu streng dürfe man auch nicht sein, damit würde man nämlich nicht weiterkommen. „Sie machen es aus einem Hilferuf heraus“, betont sie. Kathrin weiß, wovon Renate spricht, denn auch sie hatte bereits ein Pflegekind, das geklaut hat. „Die Herausforderungen sind ganz anders, als bei den eigenen Kindern“, erklärt die 45-Jährige – gerade bei älteren, die schon einiges erlebt haben.
Im Vorfeld nicht zu wissen, was überhaupt auf einen zukommt, ist nur einer der möglichen Gründe, weshalb es weniger Bereitschaftspflegestellen als Dauerpflegestellen gibt. „Bei der Bereitschaftspflege spielen sehr viele Unbekannte mit. Wir haben oft nur wenig Informationen zu den Kindern“, erklärt Jusseaume. „Und ist es auch immer wieder ein Trauerprozess, wenn die Kinder die Familien wieder verlassen“, betont Scherer. Renate und Kathrin nicken, schließlich kennen sie diese Momente nur zu gut.
Bereitschafts- und Dauerpflegestellen werden – außer im Notfall – strikt voneinander getrennt. Es könnte bei den Kindern Ängste auslösen, wenn sie miterleben, wie andere Kinder kommen und gehen, erklärt Stehling. Dennis hingegen habe das gar nichts ausgemacht. „Es war immer volles Haus. Dennis hatte immer Kinder zum Spielen da“, erzählt Renate. „Ich glaube, ich bin für später gewappnet“, lacht er. Dem kann Renate nur zustimmen.
Kontaktdaten der Fachstelle Kinderpflegewesen
Telefonnummer: 06641 977-4200 oder -4107
Email: pflegekinderwesen@vogelsbergkreis.de
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