Kolumne: Goodbye Winnyzja – Ninas Flucht vor Russlands Krieg | With English Version„Ich habe keine Erinnerungen an die Sowjetunion und ich bereue es nicht“
ROMROD/WINNYZJA. Der 24. August ist in der Ukraine ein wichtiger Feiertag, auch genau sechs Monate nach Kriegsbeginn. Die geflohene Journalistin Nina Yaroshenko, die nun in Romrod wohnt, berichtet über die Bedeutung dieses Tages – und versucht zu erklären, warum ihr das Wappen der Ukraine in schwierigen Momenten Kraft gibt.
Nina Yaroshenko, 29, ist bei Winnyzja, etwas westlich der Mitte der Ukraine, geboren und zuhause gewesen. In ihrer Heimat arbeitete sie als Zeitungs- und Radio-Journalistin. Durch den Ausbruch des russischen Angriffskriegs gezwungen, ihr Land zu verlassen, floh sie nach Deutschland. Seit März lebt sie mit ihren zwei Kindern in Romrod. Ihr Mann durfte die Ukraine nicht verlassen, musste jedoch zunächst nicht in den Kampfeinsatz.
In dieser Kolumne berichtet Nina für Oberhessen-live in unregelmäßigen Abständen über ihr neues Leben im Vogelsberg; ihre Gedanken und Ängste, sowie ihre persönliche Sicht auf den Krieg.
Der Tag, der das Leben in ein „Davor“ und ein „Danach“ teilte
Sie wollten die Zweige beschneiden, doch stattdessen stärkten sie nur die Wuzeln
Am 24. August feiert die Ukraine ihren Unabhängigkeitstag. Und genau vor sechs Monaten, am 24. Februar, begannen russische Truppen mit einem Großangriff in mein Land einzumarschieren. Das ist natürlich nur eine zufällige Zuordnung von Zahlen. Und dennoch hat es eine starke symbolische Bedeutung.
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Für mich persönlich ist der Unabhängigkeitstag nicht einfach irgendein Tag im Kalender. Es ist ein Feiertag, ein Recht, für das mein Volk seit seiner tausendjährigen Geschichte durchgehend kämpfen musste. Wir haben eine totale Russifizierung durchgemacht, ukrainische Intellektuelle wurden verfolgt und vernichtet.
Aber leider zahlt die moderne Ukraine immer noch einen blutigen Preis, weil sie Humanismus, Demokratie und Souveränität fördert. Und für den Fakt, dass die Menschen Rechtsstaatlichkeit, Volksherrschaft, Presse- und Redefreiheit in ihrem Land verlangen.
Ich bin in der freien Ukraine geboren. Ich habe keine Erinnerungen an die Sowjetunion und ich bereue es nicht. Ich habe keine verzerrten, nostalgischen Gedanken an niedrige Preise, die für viele leicht die Erinnerungen an den blutigen stalinistischen Terror überlagern. Meine Generation möchte ein freies und faires Leben.
Ich sehe, wie der Krieg alles zerstören kann. Ich sehe aber auch, wie er Millionen Menschen verbindet, die gemeinsam Probleme lösen. Die Ukrainer zeigen unglaubliche Anstrengungen, sie sind bereit zu kämpfen, sie sammeln Geld, sie kaufen Ausrüstung, sie melden sich freiwillig.
Erst kürzlich gab es eine groß angelegte Spendenaktion. Innerhalb von nur drei Tagen kam eine unglaubliche Summe zusammen. Die meisten Spenden waren klein, aber die Anzahl war beeindruckend. Von mehr als 16 Millionen Euro war zwischenzeitlich die Rede. Eigentlich sollten mit dem Geld türkische Kampfdrohnen gekauft werden. Doch als die Firma die Drohnen spendete, beschlossen die Ukrainer, das Geld für bessere Sattelitenaufklärung auszugeben, die auch bei Wolken gute Bilder liefern soll. Mein Volk ist wirklich bereit, für den Sieg zu kämpfen.
Der Krieg bring zudem viele Ukrainer dazu sich mehr für Geschichte zu interessieren, und ihre Traditionen, Kultur und Sprache schützen zu wollen. Ich bin mir sicher, sie werden diese Dinge entschlossen für die Zukunft bewahren.
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Generell überdenken viele Menschen jetzt ihre Werte und Prinzipien. Und das gilt nicht nur für die Ukraine. Hier in Deutschland sehe ich Menschen, die Mitgefühl und Solidarität zeigen. Sie stehen den Geflüchteten mit Rat und Tat zur Seite. Sie ändern ihre Gewohnheiten, ihren Alltag, teilen, was sie haben, und bieten Schutz. Es ist manchmal schwierig, es zu wagen, aber es ist eine sehr gute Sache.
Das alles bestätigt für mich, wie ähnlich unsere Völker, die Ukrainer und die Deutschen, sich sind. Wir teilen dieselben Ideale. Diese gemeinsamen Wurzeln müssen gestärkt werden, damit eine starke demokratische Gesellschaft weiter auf ihnen wachsen kann.
Genau genommen begann die russische Aggression gegen die Ukraine nicht erst vor sechs Monaten, sondern schon in 2014. Damals fand die „Revolution der Würde“ statt, die in Deutschland eher unter dem Begriff des Euromaidan bekannt ist, und dem Putin-Regime mächtig Angst einjagte. Wissen Sie, was der Auslöser davon war? Studenten, die von der Polizei im Zentrum Kiews verprügelt wurden. Die Jugend ging auf die Straße, um zu verlangen, dass die Ukraine zu europäischen Integrationsprozess zurückkehrt. Es war eine friedliche Demonstration, die sie gewaltsam auflösen wollten. Die Menschen in der Ukraine wollten das nicht durchgehen lassen, Millionen gingen daher auf die Straße, um die fundamentalen Rechte der demokratischen Welt zu verteidigen (Insta-Post mit Foto aus der Zeit).
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Ich denke Putin hatte Angst, dass die Ukrainer ein Vorbild für die Russen sein könnten. Daher schickte er Streitkräfte in unser Land, er annektierte die Krim und massenhaft bewaffnete russische Terroristengruppen kamen in den Osten der Ukraine.
Aber leider hatte er umsonst Angst. Die Menschen in Russland haben sich in ihrer Mehrheit nicht entschieden gegen das Putin-Regime gestellt, sondern im Gegenteil ihre Unterstützung gezeigt. Dies wurde sogar durch landesweite Umfragen bestätigt.
Sagen Sie mir, könnten Sie an einer Person vorbeigehen, die von Polizisten mit Schlagstöcken geschlagen wird? Könnten Sie in Ruhe zusehen oder sogar mit einer Handykamera filmen, wie ein siebenjähriges Kind, eine Frau mit einem leeren Blatt Papier oder eine Großmutter, die ein Plakat mit dem Bibelzitat „Du sollst nicht töten“ hochhält, verhaftet wird?
Aus irgendeinem Grund bin ich mehr als sicher, dass Sie nicht in der Lage wären, nicht einzugreifen. Aber das ist wirklich in Russland passiert.
Und es gibt Millionen von Menschen in einem Land, die dem ruhig zusehen können. Diese Menschen können (man könnte auch sagen „wollen“) wiederholen, was die ganze zivilisierte Welt versucht, „nie wieder“ zu tun. Aber es ist so wichtig, dass wir uns alle daran erinnern: Geschichte ist zyklisch, und wenn sie nicht verstanden, studiert oder reflektiert wird, neigt sie dazu, sich zu wiederholen. Auch in ihren schlimmsten Ausprägungen.
Das Wappen der Ukraine: der Dreizack
Über den Ursprung und die Bedeutung des ukrainischen Nationalsymbols Dreizack gibt es verschiedene Theorien. Keine davon ist allgemein anerkannt, da dieses Zeichen sehr alt ist und in vielen Kulturen vorkommt.
Nach den wahrscheinlichsten Theorien handelt es sich um ein stilisiertes Bild eines Falken oder eines Kreuzankers. Die Bevölkerung hat jedoch eine andere Erklärung. Ich kenne diese Erzählung seit meiner Kindheit und habe sie auch an meine Kinder weitergegeben. Sie gefällt mir am besten, weil sie eine klare und wichtige Bedeutung hat.
Es wird gesagt, dass der Dreizack durch die Verschmelzung der vier ukrainischen Buchstaben „B“, „O“, „Л“ und „Я“ gebildet wird. Zusammen bilden sie das Wort „воля“, das am treffendsten mit „Wille“ übersetzt werden kann.
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Der Wille nimmt tatsächlich einen wichtigen Platz in unserer Mentalität, Geschichte und Kultur ein. Aus dem Ukrainischen übersetzt, hat dieses Wort mehrere Bedeutungen: Freiheit, Wunsch oder Entscheidung – und vor allem: Kraft, die es einem ermöglicht, Schwierigkeiten zu überwinden.
Manchmal fühle ich die Ungerechtigkeit von allem, was passiert. Es gibt so viel Schrecken und plötzliche Veränderungen im Leben, dass die Erfahrungen überwältigend erscheinen. Und dann lese ich über die Kriegsverbrechen der russischen Armee in Dutzenden Städten der Ukraine, über den Völkermord in Olenivka, bei dem ein Lager mit gefangenen ukrainischen Soldaten angegriffen wurde – und ich verstehe, dass alles sehr relativ ist.
Ich denke, manchmal dass ich das nicht mehr aushalten kann. Und dann lese ich, dass die Menschen in Charkiw, Mykolajiw, Mariupol immer noch unter dem Beschuss leiden, den die Verteidiger von Asowstal ertragen mussten, und ich bin voller Dankbarkeit für einen weiteren gelebten Tag.
Und ich das Gefühl habe, dass das Leben unfair ist, erinnere ich mich an die Gräber ohne Namen und Nachnamen von gefolterten Männern, Frauen und sogar Kindern in Butscha und Dutzenden anderer Städte und erinnere mich daran, dass alles im Leben durch Vergleich bekannt ist.
Jeder muss manchmal seinen Willen zeigen und tun, was er tun muss. Für einige heißt das, ihr Zuhause zu verlassen, für andere, das Mutterland und am Ende die ganze Welt zu schützen. Für jeden kommt früher oder später die Zeit, in der es notwendig ist, zwischen Gut und Böse zu wählen, ohne Halbtöne zu rechtfertigen. Das Richtige zu tun, indem man den Komfort hinter sich lässt, aber nicht das Gewissen. Ich wünsche aufrichtig, dass die Willensstärke, mit der die Ukrainer unseren Frieden zusammen mit euch verteidigen, sich auch weiterhin unaufhörlich in jedem von uns zeigt.
Aus dem Englischen von Juri Auel
Original text in English (German version may be edited)
August 24 is an important holiday in Ukraine, even exactly six months after the start of the war. The escaped journalist Nina Yaroshenko, who now lives in Romrod, reports on the importance of this day – and tries to explain why the coat of arms of Ukraine gives her strength in difficult moments.
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Nina Yaroshenko, 29, was born and lived in Vinnytsia, just west of central Ukraine. In her homeland she worked as a newspaper and radio journalist. Forced to leave her country by the outbreak of the Russian war of aggression, she fled to Germany. She has been living in Romrod with her two children since March. Her husband was not allowed to leave Ukraine, but initially did not have to go into combat.
In this column, Nina reports for Oberhessen-live at irregular intervals about her new life in the Vogelsberg; her thoughts and fears, as well as her personal view of the war.
They wanted to cut off the branches, but instead they only strengthened the roots
On August 24, Ukraine celebrates Independence Day. And exactly six months ago, on February 24, a full-scale invasion of Russian troops into my country began. This, of course, is only a coincidence of numbers, but it is so symbolic.
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For me personally, Independence Day is not just a cell on the calendar. This is a holiday, the right to which my people have been fighting during for all their thousand-year history. We went through total Russification, persecution and destruction of the Ukrainian intelligentsia.
But modern Ukraine, unfortunately, is still paying a bloody price for that which promotes humanism, democracy and sovereignty. For the fact that people demand to observe the principles of the rule of law and popular sovereignty, freedom of the press and expression in their country.
I was born in free Ukraine. I don’t remember the Soviet Union and I don’t regret it. I do not have distorted nostalgic memories of low prices for products, which for many easily outweigh the memory of the bloody Stalinist terror. My generation wants a free and fair life.
I see how war can destroy everything, but I also see how it unites millions of people in the struggle. Ukrainians show unreal efforts, they are ready to fight, accumulate money, buy equipment, volunteer.
Recently, the all-Ukrainian fundraiser „National Bairaktar“ was announced, and in 3 days people collected an incredible amount. Most of the donations were small, but the number was impressive. The Baikar company was a distinguished scientist and undertook to provide Ukraine with 3 attack drones free of charge. Instead, the Ukrainians bought a satellite. My people are really ready to fight for Victory.
In addition, many Ukrainians became even more interested in history, traditions, and protecting their culture, art, and language. And, I am sure, they will resolutely carry it into the future.
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In general, many people are now rethinking their values and revising their principles. And this applies not only to Ukraine. Here in Germany, I see people showing compassion and solidarity. Both in word and deed, they help the forced migrants. They change their habits, their daily lives, share what they have and provide shelter. It is sometimes difficult to dare, but it is a very worthy cause.
And this only confirms for me how similar our peoples – Ukrainians and Germans – are, our common ideals. Those supports and roots that need to be strengthened so that a strong and democratic society can continue to grow on them.
What started a new round of Russian aggression against Ukraine?
In fact, Russian military aggression on the territory of my country began back in 2014. It was then that the Revolution of Dignity took place, which frightened the Putin regime so much. Do you know what was its beginning? Beating of students by the police in the central square of Kyiv. The youth came out to express their desire for Ukraine to return to the European integration course. It was a peaceful demonstration, which they tried to violently disperse. The people of Ukraine did not forgive this and millions of people took to the streets to defend the fundamental rights of the democratic world.
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I think Putin was afraid that the Ukrainians would set an example for the Russians. And soon he gave permission for the use of armed forces on the territory of Ukraine. The annexation of Crimea and the mass infiltration of armed Russian terrorist groups into the eastern regions of Ukraine took place.
But, unfortunately, he was afraid in vain. People in Russia, in their majority, did not show decisive opposition to the Putin regime, but on the contrary showed their support. This was confirmed even by nationwide polls.
Tell me, could you walk past a person being beaten by policemen with batons? Would it be possible to calmly watch, or even film on a phone camera, how a 7-year-old child, a woman with a blank piece of paper, or a grandmother holding a placard with the Bible quote „Thou shalt not kill“ are arrested? For some reason, I am more than sure that you would not be able not to intervene. But this really happened in Russia.
And there are millions of people in one country who can watch it calmly. They can (read „want to“) repeat what the whole civilized world is trying not to do „never again“.
But it is so important for all of us to remember: history is cyclical, and if it is not understood, studied, or reflected upon, it tends to repeat itself. Even in its worst manifestations.
Coat of arms of Ukraine – Trident
There are various theories about the origin and meaning of the Ukrainian national symbol – Trident. None of them is universally recognized, because this sign is very ancient and is found in many cultures.
According to the most likely theories, this is a stylized image of a falcon or a cross anchor. However, the people have another explanation. I have known it since childhood and passed it on to my children, I like it the most because it has a clear and important meaning.
It is said that the Trident is formed by merging four Ukrainian letters „B“, „O“, „Л“ and „Я“. Together they form the word „воля“, which is most accurately translated as „will“.
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Will indeed occupies an important place in our mentality, history and culture. Translated from Ukrainian, this word has several meanings: freedom, desire or decision, and most importantly – strength that allows you to overcome difficulties.
Sometimes I feel the injustice of everything that is happening. There is so much terror and sudden change in life that the experiences seem overwhelming. And then I read about the war crimes of the Russian army in dozens of cities of Ukraine, about the genocide in Olenivka, and I understand that everything is very relative.
I think that I will not be able to endure anymore, and then I read that people are still suffering under shelling in Kharkiv, Mykolaiv, Mariupol, that the defenders of Azovstal endured, and I am filled with gratitude for one more day lived.
And when it seems that life is unfair, I remember the graves without names and surnames of tortured men, women and even children in Bucha and dozens of other towns and remind myself that everything in life is known by comparison.
Everyone sometimes has to show their will and do what they have to do. For some, to leave home, for others to protect the Motherland, and in the end – the whole world. For everyone, sooner or later, the time comes when it is necessary to choose between good and evil, without justifying halftones. To do the right thing by compromising comfort, but not compromising with conscience. I sincerely wish that the strength of will with which Ukrainians defend our peace with you will continue to be unceasingly manifested in each of us.
Die These vom gerechten Krieg gehört in dieselbe Schublade wie die These, die Erde sei eine Scheibe.
No war can be just. Never. Especially in today’s world. I don’t understand the desire to conquer new territories when one’s own country is in chaos.