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Geschichte eines russischen Mathematik-Professors, der seine Studenten im Kriegsgebiet von hier aus unterrichtetDie zweite Flucht vor Putin

ALSFELD (ls). Nur einen Tag nachdem die russischen Truppen in der Ukraine einmarschiert sind haben sich Aleksey Varfolomeyev und seine Frau dazu entschieden, ihre Sachen zu packen und ihre Heimat hinter sich zu lassen. Zwischenzeitliche Endstation: die Alsfelder Hessenhalle. Seine Studenten in der Ukraine lässt Varfolomeyev dennoch nicht im Stich. 

An seinem Handgelenk trägt Aleksey Varfolomeyev ein gelbes Plastikarmband mit einer Nummer, das er bei der Ankunft am 19. März bekommen hat. „Mein neuer Name“, wie er mit einem müden Lächeln scherzend erzählt, als er seinen richtigen Namen auf einem Zettel notiert. Vier Ziffern sind es, beginnend mit 3 und 2 – die anderen beiden sind verdeckt. Zahlen sind es auch, die das Leben des 61-Jährigen bestimme, seine „Leidenschaft“ – und die ihn irgendwie an diesem Tag hierhin beförderten, in die Co-Working-Räumlichkeiten im alten Alsfelder Postamt. Varfolomeyev ist auf der Suche nach einem vorübergehenden Büro, von dem aus der Mathematik-Professor seine Studenten in der Ukraine online unterrichten kann. Ein wenig Alltag, trotz und mittendrin im Krieg. Ganz einfach ist das in dieser Situation natürlich nicht, trotzdem versucht er es.

Als der Krieg in der Ukraine begann, ging alles sehr schnell, erinnert sich der 61-Jährige. Noch am gleichen Tag hätten er und seine Frau darüber nachgedacht, das Land zu verlassen, dann gab es einen Stromausfall in der Hafenstadt Yuzhny, in der die beiden bis zur Flucht lebten – nur knapp 50 Kilometer von der strategisch interessanten Millionen-Stadt Odessa entfernt. „Wir hatten Angst, dass es zu einer schnellen Offensive russischer Truppen auf Odessa kommen würde“, sagt Varfolomeyev.

Odessa und auch Yuzhny liegen direkt an der Küste des Schwarzen Meers, wo sich die russische Marine bereits auf Schiffen stationiert hatte. Angriffe gab es zu diesem Zeitpunkt laut Varfolomeyev noch nicht, auch keine russischen Soldaten in den Städten. Aleksey Varfolomeyev und seine Frau befürchteten nicht nur einen Angriff vom Meer aus, sondern möglicherweise auch über Land.

Ganz in der Nähe von Odessa ist die Republik Transnistrien, die sich vor über 20 Jahren blutig von der Republik Moldau abgespalten hat und bis heute nicht international anerkannt ist – und dort sind russische Truppen stationiert. „Diese russischen Truppen warten darauf, dass andere russische Truppen zum Einsatz kommen“, erklärte Varfolomeyev vor einigen Tagen. Von Transnistrien aus könnten sie Odessa im Norden angreifen, die Hafenstadt würde umzingelt werden, die Fluchtwege wären abgeschnitten. Der 61-Jährige befürchtete, dass die ukrainischen Truppen Kiew eher verteidigen würden, als die Küstenregion. Mittlerweile gab es tatsächlich Angriffe auf Odessa.

„Wir dachten ein wenig nach und entschieden uns zu gehen, weil es beängstigend war. Als der Stromausfall begann, war es nicht mehr möglich abends das Licht anzumachen“, schildert er seine Eindrücke des ersten Tages. Mit der Dunkelheit kam die Müdigkeit und mit der Müdigkeit kam die Angst; die Geräusche von Schüssen wurden lauter und wirkten bedrohlich nah. Mehrmals heulte der Fliegeralarm auf. Bepackt mit Koffern, Laptop, Büchern und Arbeitsutensilien machten sie sich einen Tag nach Kriegsbeginn, am 25. Februar, auf den Weg, der sie über einen dreiwöchigen Hotelaufenthalt in Chisinau in Moldawien nach Deutschland führte.

Es ist schon die zweite Flucht, die nun hinter dem Mathematik-Professor und unabhängigen Forscher und seiner Frau liegt. Vor ein paar Jahren ist das Ehepaar schon einmal geflüchtet, vor dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, wie Varfolomeyev in gebrochenem Englisch und mit Hilfe einer Übersetzungs-App schildert. Knapp fünf Jahre später flüchtete Varfolomeyev wieder – wieder vor Putin, weiter auf der Suche nach Freiheit, Frieden und Toleranz. Wegen seinen 61 Jahren gilt er nicht zu den Männern im wehrfähigen Alter, die schon kurz nach dem Einmarsch der Russen das Land nicht mehr verlassen durften.

Seit Kriegsbeginn sind jeden Tag viele Tausend Menschen aus der Ukraine geflohen, mittlerweile sind es laut Zählungen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen über vier Millionen. Etwa 313.000 Menschen hat die Bundespolizei bislang offiziell in Deutschland registriert. Die tatsächliche Anzahl dürfte jedoch höher liegen, da es keine festen Grenzkontrollen und auch keine Registrierungs- oder Visumspflicht gibt. Dem Bundesinnenministerium zufolge gehen die Zahlen in den letzten Tagen jedoch leicht zurück – und es gebe auch Beobachtungen, dass Menschen bereits wieder in die Ukraine zurückkehren.

Wir waren mit Putins Politik nicht einverstanden.

Erst vor fünf Jahren kamen Aleksey und seine Frau in die Ukraine, lebten vorher in Russland. „Wir sind vor Putin weggelaufen“, sagt der gebürtige Russe heute dazu. „Wir waren mit Putins Politik nicht einverstanden.“ Angefangen hatte das mit dem Krieg in Georgien, wie Varfolomeyev erzählt. Da hätten sie das erste Mal gemerkt, dass das russische Fernsehen nicht frei und unabhängig berichtete. 2008 war Georgien mit Russland im Krieg und unterlag. Der Ausgangspunkt damals ist mit dem in der Ukraine vergleichbar, schreibt beispielsweise das ZDF: Georgien näherte sich der EU und Nato an, Russland befürchtete eine zu starke Westbindung.

Als dann in 2013 mit Protesten in der ukrainische Hauptstadt Kiew die Maidan-Revolution startete, die wiederum zum Krieg in der Ostukraine führte, war für den 61-Jährigen und seine Frau klar, dass sie unter der Putin-Regierung nicht leben möchten und entschieden sich, Russland zu verlassen – in die Ukraine, auf der Suche nach Freiheit, Frieden und Toleranz.

Dort fand der Mathematik-Professor, der bis dahin an der Universität in Petrozavodsk unterrichtete, an der Vasil’stus Universität von Donetsk vor fünf Jahren eine neue Professur. Durch den in 2014 herrschenden Krieg in Donbass ist die Universität in zwei Teile geteilt – einige Lehrer und Studenten gingen zu diesem Zeitpunkt von Donetsk in die ukrainische Stadt Vinnitsa und gründeten dort eine Zweigstelle.

Während Varfolomeyev und seine Frau mittlerweile in Deutschland angekommen sind, leben seine Eltern und auch die Kinder des Paares samt Familie noch immer in Russland. Auch ihnen hätten sie geraten zu fliehen, doch mit den pflegebedürftigen Großeltern sei das nicht so einfach.

„Wir möchten uns bei Deutschland und den Menschen in Deutschland ganz herzlich für den herzlichen Empfang und die Aufnahme von Flüchtlingen bedanken“, sagt er. Dass der Krieg in der Ukraine bald ein Ende hat, glaubt der 61-Jährige nicht. „Putin ist noch nicht fertig“, sagt er mit einem traurigen Lächeln. Solange wollen sie in Deutschland bleiben, die Studenten von hier unterrichten. Am 19. März kamen Aleksey Varfolomeyev und seine Frau in der Alsfelder Hessenhalle an, kurz darauf mussten sie Alsfeld verlassen und wurden zurück nach Gießen in die Erstaufnahmeeinrichtung gebracht. Warum, das war am Tag des Gesprächs unklar.

2 Gedanken zu “Die zweite Flucht vor Putin

  1. Die Ukraine kann diesen Krieg nur verlieren.
    An dem Krieg,der passiert,sind nicht etwa nur die Schuld,die ihn tun,sondernauch die,die ihn nicht verhindert haben.

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    1. Einfach mal überlegen, bevor man irgendwas daher redet, aus Respekt vor den Kriegsopfern. Auf keinen Fall sollte man versuchen, die Schuld der Angreifer in einem Krieg zu relativieren. Deren Schuldkonto ist immer am stärksten belastet, mögen im Vorfeld auch noch so viele andere Staaten versagt und den Aggressor hierdurch ermutigt haben. Sonst sind wir schnell bei dem Islamismus-Modell, dass z.B. Frauen die Männer zu Übergriffen verführen, indem sie die Haare nicht bedecken. Besonders blöde: Die Schuld des Aggressors zu relativieren und gleichzeitig die Resilienz des Verteidigers zu schwächen durch defaitistische Sätze, dass er den Krieg nur verlieren könne oder schon verloren habe. Momentan bringt die Ukraine größte Opfer, um zu beweisen, dass Russland den selbst begonnenen Krieg letztlich nicht erfolgreich beenden und seine Kriegsziele nicht verwirlichen kann. Weder militärisch noch moralisch! Werner Kalbsgeschnetzeltes, sei einfach still!!!

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