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Bagatelle-Einsätze für Rettungskräfte - Gründe und KonsequenzenMit Blaulicht und Sirene zum Muskelkater

ALSFELD (akr). Der Fuß tut weh, das Ohr schmerzt oder die Nase hört nicht auf zu laufen: Alles Beschwerden, bei denen ein Hausarzt der erste Ansprechpartner sein sollte. Doch immer mehr Menschen wählen für Kleinigkeiten die 112. Was das für den Rettungsdienst bedeutet, der dadurch auch zu Bagatelle-Einsätzen ausrücken muss, haben vier von ihnen im Gespräch mit Oberhessen-live in der Alsfelder Rettungswache erzählt.

„Es stimmt, wir werden schon zu Einsätzen gerufen, die keine Rettungs- beziehungsweise Notfalleinsätze sind“, erzählt Alexander Gemmer, der seit fast zehn Jahren als Rettungssanitäter in Alsfeld arbeitet. Wer den Notruf wählt, der landet in der Zentralen Leitstelle des Vogelsbergkreises in Lauterbach. Die Einsatzsachbearbeiter dort nehmen die Anrufe entgegen – und entscheiden, was als nächstes zu tun ist. Das Problem dabei: Viele Leute schildern ihre Situation als Notfall, obwohl sie harmlos ist.

Seit fast zehn Jahren arbeitet Alexander Gemmer als Rettungssanitäter. Foto: akr

Sondersignal für Muskelkater

So auch bei einem Fall, der Rettungssanitäter Gemmer besonders in Erinnerung geblieben und noch gar nicht so lange her ist: Ein Mann, mit sehr starken Schmerzen im Bein, der nicht mehr laufen konnte. Mit Sondersignal, sprich Blaulicht und Sirene, ist der Rettungssanitäter mit seinem Kollegen hingefahren – dann kam die Überraschung.

Der vermeintliche Patient erzählte, dass er fünf Kilometer gelaufen war, was für ihn ungewöhnlich ist. Er macht nämlich überhaupt keinen Sport sonst. Man konnte eins und eins zusammenzählen: Die starken Beinschmerzen entpuppten sich als einfacher Muskelkater. „Der Mann bestand partout darauf, dass wir ihn ins Krankenhaus bringen“, erzählt Gemmer von seinem banalsten Einsatz der letzten Zeit.

Den Helfern blieb nichts anderes übrig als den Wunsch des Mannes zu erfüllen, denn von sich aus können sie keine Transporte verweigern. Oft stehen die Patienten schon mit gepackten Sachen vor der Tür, erzählt der Rettungssanitäter. Es kommen dann Aussagen wie „der Hausarzt hat gerade geschlossen und das Taxi ist zu teuer“.

Wenn der Rettungstransport für einen Krankentransport herhält

Eine schwierige Situation, wie der Referent der Geschäftsführung des DRK Rettungsdienst Mittelhessen, Heiko Hartmann, schildert: „Wir haben einen Transportauftrag. Aufgrund der rechtlichen Stellung des Rettungsdienstes sind wir nicht befugt, Diagnosen zu stellen. Wir müssen uns immer vergewissern, dass eine weitere behandelnde Stelle den Patienten übernimmt“. Das Problem bei der Sache ist allerdings, dass dann ein Rettungsmittel in diesem Einsatz gebunden ist. Sprich das Ausrücken zu Notfällen ist nicht möglich, wenn das dafür ausgelegte Auto mit keinem akuten Notfall-Patienten unterwegs ist.

Und manche Rettungswachen im Vogelsberg – insgesamt gibt es 12 – haben nur ein Fahrzeug. „Wenn dann beispielsweise Homberg und Kirtorf unterwegs sind, dann muss ein Fahrzeug aus Alsfeld alarmiert werden, was zu deutlich längeren Anfahrtszeiten führt. „, erklärt Hartmann. Dadurch entstünden Lücken. Die 12 Standorte sind nämlich so positioniert, dass jede Ortschaft binnen zehn Minuten erreicht werden kann. Wenn alle Fahrzeuge da sind, dann funktioniert das auch, sagen die Helfer.

Paul Schimanski, Thomas Traud und Heiko Hartmann. Fotos: akr

Es gibt viele Gründe für Bagatelle-Einsätze

Doch warum wählen so viele Menschen für Kleinigkeiten gleich die 112? Der Referent der Geschäftsführung vermutet mehrere Ursachen dafür. Einen Grund sieht er in der immer schlechter werdenden medizinischen Versorgung im ländlichen Bereich. Hausärzte gehen in den Ruhestand, Arztpraxen schließen. Fachärzte seien teilweise schlecht zu erreichen. „Wenn dann noch die Arztpraxen nach den regulären Sprechstunden schließen, dann wird das Versorgungsnetz immer dünner“, sagt Hartmann.

Eine weitere Erklärung sieht er in der gestiegenen Erwartungshaltung der Bevölkerung: „Irgendwie hat man anscheinend gelernt, dass der Rettungsdienst immer da ist – man wählt einfach die Nummer, sagt die richtigen Sätze und innerhalb von zehn Minuten kommen gut gekleidete, anständige Menschen vorbei und sagen: Guten Tag, was können wir für Sie tun?“

Das Problem ist, dass das ganze Berufsbild und die ganzen Bezeichnungen in der Öffentlichkeit immer verallgemeinert werden.Thomas Traud, Bereichsleiter in Alsfeld

„Ich glaube die Bevölkerung ist oftmals falsch informiert, gerade wegen den ganzen Fernsehsendungen, wo das falsch rübergebracht wird“, vermutet der 29-jährige Alexander Gemmer. Es sei der Gedanke im Kopf: Der Rettungsdienst ist für alles zuständig, was weh tut. Einen Rettungsdienst zu rufen sei einfacher, als zum Hausarzt zu gehen, „teilweise vielleicht reine Bequemlichkeit, häufig bestimmt auch Unwissenheit“, sagt er.

„Das Problem ist, dass das ganze Berufsbild und die ganzen Bezeichnungen in der Öffentlichkeit immer verallgemeinert werden“, sagt Thomas Traud, der seit Juni dieses Jahres der Bereichsleiter in Alsfeld ist. Es gebe quasi nur Rettungssanitäter und Krankenwagen. Doch das ist nicht der Fall. Es gibt keinen Krankenwagen, sondern den Krankentransportwagen, den Rettungswagen und das Notarzteinsatzfahrzeug. Neben dem Rettungssanitäter gibt es auch Notfallsanitäter, Rettungsassistenten, Rettungshelfer und Sanitätshelfer.

Primäre Behandlung erwartet

Nicht nur die Verallgemeinerung stellt ein Problem aus Sicht der Helfer dar.“ Viele denken auch, dass sie eine primäre beziehungsweise schnellere Behandlung bekommen, wenn sie mit uns ins Krankenhaus gebracht werden“, erzählt Rettungssanitäter Gemmer. Das sei jedoch nur so, wenn es sich wirklich um einen Notfall handele.

Er vermutet zudem, dass der Ärztliche Bereitschaftsdienst im Vogelsberg nicht so bekannt ist. Dieser dient quasi als Vertretung für die Hausärzte außerhalb der Öffnungszeiten. In Alsfeld ist er im Krankenhaus zu finden. Es gibt aber auch die bundesweite Telefonnummer 116 117, unter der man den Ärztlichen Bereitschaftsdienst erreichen und seine Beschwerden schildern kann.

Doch wann man welche Nummer wählen sollte, 112 oder 116 117, ist nicht ganz klar zu sagen. „Es gibt kein klares Kriterium. Die Faustregel heißt: Lebensbedrohliche Notfälle. Akute Ereignisse, mit der Idee, dass es wirklich ein schwerwiegendes Ereignis ist. Die gehören zur Leitstelle, also die 112″, erklärt Hartmann. Alle Dinge die zeitlich unkritisch sind, mit denen man zum Hausarzt gehen kann – die gehörten zur 116 117 beziehungsweise zum Hausarzt. Doch auch diesbezüglich gebe es eine große Grauzone, denn je nachdem, wie der Anrufer die Beschwerden beschreibt, kann es vorkommen, dass er im System falsch weitergeleitet wird.

Die Anrufe bei dem Ärztlichen Bereitschaftsdienst werden durch Mitarbeiter in einem Callcenter in Kassel koordiniert. Die Notrufe über die 112 im Vogelsbergkreis bearbeiten Einsatzsachbearbeiter der Zentralen Leitstelle des Landkreises in Lauterbach. „Die Entscheidung für die Disponenten wäre sicher einfacher, wenn die Funktionen der beiden Nummern an eine Stelle sitzen würden, damit überall dieselben Menschen am anderen Ende der Leitung entscheiden können, in welche Kategorie ein Anrufer gehört. Schicke ich ihn zum Hausarzt oder ist es ein akuter Notfall?“, sagt der Referent.

Akut und lebensbedrohlich seien beispielsweise Herzinfarkte oder Schlaganfälle. Erkältungen hingegen gehören zum Hausarzt. „Wobei es wieder subjektiv ist, was für jemanden als lebensbedrohliche Situation gilt“, sagt Gemmer. Um sich als Laie auf so Situationen besser vorbereiten zu können, empfiehlt der 20-jährige Rettungssanitäter Paul Schimanski, regelmäßig an Erste-Hilfe-Kursen teilzunehmen: „Ein Ziel von den Kursen ist ja auch zu erkennen, was ein lebensbedrohlicher Notfall ist und man lernt, was man in der Situation machen kann.“

Verbale anstatt physische Gewalt

Neben diesen Bagatelle-Einsätzen ist auch die Gewalt gegen Rettungskräfte ein großes Thema. Immer wieder liest man, dass die Gewalt gegen die Helfer zunehme. Im Vogelsberg ist das allerdings nicht der Fall. Körperliche Gewalt ist sehr selten. „Es handelt sich größtenteils um verbale Aggressivität und Respektlosigkeit“, erzählt Gemmer. Nicht selten fehlt das Verständnis, wenn beispielsweise eine Straße blockiert oder ein Auto zugeparkt wird. Vor einem Jahr befragte der Rettungsdienst Mittelhessen seine Mitarbeiter, wie sie Gewalt erfahren. Auch hierbei kam heraus, dass es sich vor allem um „verbale Gewalt“ handele. Sehr selten komme es zu körperlichen Angriffen.

Damit man lernt, wie man sich in solchen Situationen verhalten sollte, wurde im vergangenen Jahr das ganze Personal im Vogelsberg geschult. „Es war ein Deeskalationstraining“, erzählt Thomas Traud. Dabei ging es aber nicht um Selbstverteidigung. Ziel war es, die Mitarbeiter für potenziell gefährliche Situationen zu sensibilisieren, einen Blick für diese Situationen und Menschen zu entwickeln. Sich beispielsweise selbst die Frage zu stellen: „Begebe ich mich in eine Zimmerecke oder in die Nähe einer Tür?“ Die Gewalt gegen Rettungskräfte, verbal oder körperlich, sei meist verbunden mit Alkohol, Drogen oder psychischen Erkrankungen. „Und das hat es eigentlich schon immer gegeben“, sagt Hartmann.

4 Gedanken zu “Mit Blaulicht und Sirene zum Muskelkater

  1. Und wenn die Leute (zum Glück nicht alle) sich auch immer dämlicher aufführen: Ein großes Lob und vollen Respekt für unsere nervenstarken und wirklich hilfreichen Mitbürger im Rettungsdienst!!! Habe nur die allerbesten Erfahrungen (Stützpunkt Köddingen!) gemacht. Was täten wir hier „in der Fläche“ ohne diese hoch motivierten und gut ausgebildeten Menschen!

  2. Es liest sich schon schlimm, dass aus irgendwelchen leichten Erkrankungen Rettungssanitäter gebunden sind. Nur, das kann ich eigener Erfahrung sagen. Ich war im Krankenhaus Alsfeld wegen Luftbeschwerden und starken Schmerzen im Rippenbereich. Die freundliche Damen verweigerte mir die Ambulanz und schickte mich zum Ärztlichen Bereitschaftsdienst. Dieser meinte, dass ich auf Grund eines Sturzes starke Prellungen hätte und schickte mich mit Schmerzmittel nach hause.
    Eine spätere Röntgenuntersuchung ergab das vier Rippen durch den Sturz gebrochen waren. Es gibt noch mehr Beispiele die meiner Familie und mir beim Ärztlichen Bereitschaftsdienst passiert sind.Solange dieser von Ärzten versehen werden welche da fehl am Platze sind wird es wohl immer wieder zu solchen Anrufen kommen.

  3. Wie oft, ist Medizin nicht ganz so einfach.Wenn jemand nach einer ungewohnten Belastung heftigste Schmerzen im Bein(vielleicht auch nur in einem Bein,im Artikel nicht ganz klar) hat, kann es sich zum einen um ein spontanes Compartmentsyndrom, zum anderen um einen akuten Gefäßverschluss handeln. Beides absolut dringendst behandlungsbedürftige Notfälle, Verlust des Beines droht. Die Leitstelle hat richtig entschieden, als sie den RTW “ mit Blau“ losgeschickt hat.

  4. „Der Hausarzt hat gerade geschlossen und das Taxi ist zu teuer“. Und wehe, man kriegt seinen Willen nicht. Dann fällt man völlig aus der Rolle.
    Ist vielleicht unpopulär, aber das hat was mit Erziehung zu tun. Das Kind steht immer im Mittelpunkt und bekommt alles vor den A**** getragen. Aber aus niedlichen Kindern werden überhaupt nicht mehr niedliche Erwachsene, die glauben, das ginge nun das ganze Leben so weiter.

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