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Canan Topçu sprach über aktuelle Entwicklungen in der TürkeiKatastrophale politische Entwicklung in der Türkei

ALSFELD (cdl). „Offen redet wirklich kaum jemand mehr“, so Canan Topçu über die aktuelle Lage innerhalb der Türkei. Die türkischstämmige Journalistin war gestern zu Besuch im Hotel Klingelhöffer in Alsfeld.

Sie beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit der Frage, wohin steuert die Türkei? Nach ihrer Auffassung in keine gute Richtung. Dabei näherte sie sich dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse aus einer kulturhistorischen Perspektive. Pressefreiheit, die Wahrnehmung der türkischen Politik bei in Deutschland lebenden Türken und die „türkische Volksseele“ waren ihren Themen. Fragen wie über den NATO-Bündnisfall oder über die türkische Ökonomie wich sie bewusst aus. „Da bin ich nicht kompetent genug, um Sie darüber umfassend zu informieren“, so Topçu, die einer Einladung des Rosa-Luxemburg-Club Vogelsberg gefolgt war.

Topçu stellte sich als ausgebildete Journalistin vor, die in der Nähe von Hannover aufgewachsen ist und seit 1999 zwölf Jahre lang bei der Frankfurter Rundschau arbeitete, bis es der Zeitung schlechter ging. Seit dem sei sie freiberufliche Journalistin. Eigentlich sei sie Feuilleton-Schreiberin und habe nie gedacht sich mit diesen Themen zu beschäftigen.

Die aktuelle Lage in der Türkei

Erst heute seien 120.000 Lehrer suspendiert worden. Sie gelten in den Augen der Regierung als Anhänger der Gülen-Bewegung oder der PKK. Jeder der nicht AKP (Regierungspartei) sei, gelte als Feind und das sei Hälfte der Bevölkerung. „Als grundsätzlicher Optimist, hier meine zunächst pessimistische Zukunftsprognose für die Türkei. Es wird alles noch viel schlimmer werden, bevor es irgendwann besser wird“, zitierte sie einen türkischstämmigen Politikwissenschaftler. Sie sei momentan nicht in der Lage eine positive Antwort über die Entwicklungen in der Türkei zu geben: „Es ist momentan eine einzige Katastrophe“, für Liberale, Demokraten, Menschen, die nichts mit Religion und dem Islam zu tun haben und für Minderheiten sowieso.

Die Entwicklung habe nichts mit Demokratie zu tun, aber 50 Prozent der Bürger hätten kein Problem damit. Die Folge sei ein Klima der Angst und es komme zu Denunziationen, um unliebsame Kollegen oder sogar Verwandte anzuprangern. Verwandte würden schon nicht mehr offen miteinander reden. „Ich vergleiche eigentlich nicht mit dem Nationalsozialismus, weil jeder Vergleich den Nationalsozialismus verharmlost, aber es erinnert an seine Anfänge“, berichtete Topçu über gegenseitiges Misstrauen der Bürger.

Diese Denunziationen gebe es auch hier in Deutschland. Imame seien in Deutschland abgezogen worden, weil sie von ihrer Gemeinde denunziert worden seien, einfach weil die Leute den Imam nicht hätten leiden können. Sie kenne Fälle, bei denen die Anschuldigungen komplett haltlos seien. Sie sei sogar sicher, dass die Imame nach einer Überprüfung wieder zurückkehren würden und ihre Arbeit wieder aufnehmen könnten.

Pressefreiheit nicht mit unserem Demokratieverständnis vereinbar

Gerade auf dem Weg nach Alsfeld habe sie im Deutschlandfunk in der Sendung der Tag die Ausführungen von Michel Friedmann über sein Interview mit dem türkischen Sportminister gehört. Laut Friedmann seien die Inhalte des Interviews im Vorfeld abgesprochen worden, aber nicht die Fragen. Weil der Delegation des Interviewten die Fragen nicht gefallen haben, sei das Team um Friedmann am Verlassen des Gebäudes gehindert und ihnen die Tonaufnahme weggenommen worden. Die türkische Seite behaupte jetzt, sie habe die Aufnahme nicht beschlagnahmt. „Ich habe keine Zweifel an Friedmanns Version. Es ist ein gutes Beispiel wie türkische Politik mit den Medien umgeht“, so Topçu. Der Umgang mit Journalisten sei mit unserem Demokratieverständnis nicht vereinbar.

In der Türkei würden nur noch einige mutige Kollegen veröffentlichen, daher gebe es nur noch wenige offene Lagebeschreibungen. Direkt nach dem Putschversuch habe man ausschließlich Informationen über Twitter und Facebook bekommen, weil im türkischen Fernsehen zunächst nicht berichtet worden sei. Im Auftrag der FAS sollte sie am Tag nach dem Putsch einen Artikel schreiben, aber niemand wollte ihr am Telefon Auskunft geben.

Deutsch-Türken konsumieren türkisches Fernsehen

Beim gerade entstehenden Konflikt zwischen Deutschen und Deutsch-Türken bestehe ein direkter Zusammenhang mit der Pressefreiheit. Die große Demonstration in Köln mit über 30.000 türkischstämmigen Deutschen habe die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) veranstaltet. „Die UETD ist eine Auslandsorganiststation der AKP“, erklärte Topçu. In Köln hätten sie gemeinsam ein Loblied auf Erdogan und die „Demokratie“ gesungen. „Das sind nicht nur die Menschen aus der ersten Generation, sondern auch die jüngeren Menschen, die eine sehr starke Verbindung zur Türkei haben“, so Topçu.

Dafür gebe es viele Gründe. Einer davon sei, dass ein Großteil türkisches Fernsehen konsumiere. In den vergangenen Jahren sei sukzessive die Vielfalt der Medien reduziert worden. Das ist bereits seit zwölf bis 13 Jahren im Gange. Dort werde unheimlich viel Gehirnwäsche betrieben, da diese Menschen sich nur einseitig informierten. Die Zuschauer bekämen nur das gesagt, was sie hören wollen.

Die Inhalte würden eine prosperierende Wirtschaft, Bauboom und Modernisierung zeigen, was bei den Zuschauern positiv aufgenommen werde. Daher gebe es eine große Zuneigung für Erdogan, weil man dadurch vermittelt bekomme, dass die Verwandten in der Türkei jetzt ein deutlich besseres Leben haben als Früher. Das habe über Jahre gewirkt. Die Deutsch-Türken hätten die Ansicht, dass man der Türkei alles erreichte neidet. Erdogan habe die Türkei vorangebracht.

„Wir müssen uns von ihnen die Pegida Vorwürfe anhören“, in Deutschland sei alles ganz genauso wie in der Türkei, so der Vorwurf der Türken. „Sie glauben nicht, was über die Sozialen Medien alles in Umlauf gebracht wird. Die Welt ist eifersüchtig auf den Wirtschaftsboom der Türkei. Deshalb wollen sie uns jetzt kleinmachen“, laute der stetige Tenor der Erdogan-Anhänger.

Die türkische Kultur kennen, um Reaktionen zu verstehen

Wer kritisch über die Türkei berichte, werde als PKK Anhänger, Zionist, Amerika-Liga oder Sonstiges tituliert. „Die Kritikkultur, wie wir sie hier kennen, gibt es in der türkischen Kultur nicht“, ähnlich sei das auch in arabischen Staaten. Kritik gehöre einfach nicht zur Kommunikationskultur. Bei Meinungsverschiedenheiten gebe es sofort Schlägereien, das würden die Deutschen nur aus dem Fernsehen kennen. „Sie sind so erzogen. Das ist in den Leuten drin. Die türkische Kultur ist eine Schamkultur, deshalb kritisiert man nicht“, erklärte Topçu. Daran hänge ganz vieles, es sei eine ganz andere Kultur.

Machtkampf zwischen zwei machtbesessenen Männern

Als großen Widersacher hat Erdogan die Gülen-Bewegung ausgemacht. Laut ihm ist die Bewegung für den Putschversuch verantwortlich. „Es ist für mich unübersichtlich, welche Kräfte da wirken“, so Topçu. Aktuell sehe sie einen Machtkampf zwischen zwei machtbesessenen Männern. Im Jahr 2013 müsse es wohl Absprachen gegeben haben, die nicht eingehalten worden seien, suchte Topçu eine Erklärung für den Machtkampf.

Es gebe drei bis vier unterschiedliche Gruppierungen in der Türkei. Wer für den Putschversuch verantwortlich war, sei völlig unklar. Vielleicht sei es zu einem Zusammenschluss von Kemalisten, Gülen und weiteren Gruppen gekommen. Beim Putsch habe es sehr viele Ungereimtheiten gegeben, man wisse einfach nicht, was dahinter steckt, und inwieweit die Regierung vorher Bescheid gewusst habe.

Die deutsche Außenpolitik gegenüber der Türkei

Ebenso sei die deutsche Außenpolitik eine Katastrohe gegenüber der Türkei. „So ein einknicken. Der Diktator bekommt einen Triumph.“ Die Bundeskanzlerin sei ganz schlecht beraten. Merkel habe sich vor riesigen Türkeiflaggen in China fotografieren lassen. Das sei ein Symbol. Merkel selbst habe sicherlich eine andere Agenda, jedoch verstehe sie die Botschaft nicht, die sie in die Türkei aussende. Schon im letzten Jahr sei so ein lächerliches Bild in Umlauf gebracht worden, das folgendermaßen bei der türkischen Bevölkerung ankomme: „Wir haben Merkel klein gekriegt, wir haben Deutschland klein gekriegt, ist die Wahrnehmung solcher Bilder in der Türkei. Wir haben bekommen, was wir wollten.“ Für die Kanzlerin spiele die Flaggensymbolik eine untergeordnete Rolle, weil es diesen Flaggenkult in Deutschland einfach nicht gebe. Ein geschulter Berater hätte jedoch auf das fatale Signal in die Türkei aufmerksam machen müssen.

„Die Türkei gehört auf die Couch“

In der Türkei habe es immer ein Personenkult gegeben. Beispiele seien Atatürk, Öcalan, Gülen und auch Erdogan. Das Demokratieverständnis, das in Deutschland vorherrsche, sei in der Türkei völlig unbekannt. „Es herrscht eine andere Vorstellung von Regierung.“

Bereits in der Schule werde den Kindern vermittelt, dass die Türkei eine Großmacht ist. Das werde auch am Beispiel der Armenier Frage deutlich. In der Schule lernt man, dass die Armenier den Türken in den Rücken fallen wollten und man sich lediglich verteidigt habe. Dieser Glaube sei in der Gesellschaft ganz fest verankert. „Dieses narrativ ist omnipräsent. Ich verstehe einerseits die Bevölkerung, anderseits bin ich fassungslos“, so Topçu.

Eine ihrer Thesen ist, dass die Türkei mit einem Geburtsfehler während des Kemalismus zu kämpfen habe. Damals seien die Menschen teilweise ihrer Kultur beraubt worden, durch die Revolution von oben. Die Modernisierung sei einfach viel zu schnell gegangen und die Einschnitte in das kulturelle Leben seien zu massiv gewesen, wie etwa die Einführung des lateinischen Alphabets. „Das hat die ländliche Bevölkerung nicht verkraftet.“

Das Land leide seit dem Ende des Osmanischen Reiches und der Niederlage im Ersten Weltkrieg an einem kollektiven Trauma. Das kollektive Trauma werde seitdem kultiviert und gepflegt. Dadurch sein ein ganz starkes Minderwertigkeitsgefühl entstanden, dass sich in der heutigen Gesellschaft widerspiegele. Des Weiteren sei die Gesellschaft innerlich zerrissen. Das Bürgerliche werde von den anderen Gruppen gehasst und umgekehrt.

Das Land brauche dringend eine neue Geschichtsschreibung und es müsse eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte stattfinden. „Die Türkei gehört für mich auf die Couch“, damit sie ihr kollektives Trauma überwinden kann, so Topçus Überzeugung.

 

 

 

5 Gedanken zu “Katastrophale politische Entwicklung in der Türkei

  1. Deswegen wird Deutschland kaputt gehen.Zu viele Wendehälse!!!!! Überall, von Kommune bis zum Bund. Erst die Realität leugnen und dann sagen ich habe nichts damit zu tun. Dabei sagt doch Frau Canan Topçu wie es ist!! Hallo „Wendehälse“ bitte melden!!

  2. Frau Canan Topçu (meine Hochachtung). Von dieser Zivilkurgage können sich alle sogenannten Demokraten eine Scheibe abschneiden. Muss doch den letzten Lügen strafen. Wo sind denn die Lügner?? Wo sind denn die „Gläugigen“ die alles glauben was unsere MG so predigt? Alle weggeduckt. Die Wahrheit ist für diese unerträglich @ Michael Hartmann: Gleicher Gedanke.

  3. Merkwürdig, vor fünf Monaten gab es eine rege Beteiligung zu solchen Themen.
    Türkische Mitbürger dürfen keinen eigene Meinung dazu haben, sonst werden sie sogar hier in Deutschland verfolgt.
    (siehe Bericht gestern in der Hessenschau)
    Und unsere Fähnchen-Teddybärenwerfer ducken sich weg seitdem so manche Wahrheit ans Tageslicht kam.
    Also bitte, wo bleiben die sachlichen Kommentare?
    Kommentare wie „Nazi“ und „Brauner“ brauchen wir bzw. ich nicht, wenn die trotzdem wieder kommen, juckt mich auch nicht.

  4. @Michael Hartmann
    Völlig Richtig.
    Gab es da nicht auch einen Kommentar über eine Bedrohung von Mitglieder der moslemischen Gemeinde? Wo steht die Alsfelder moslemische Gemeine zu Erdorgan oder zur BRD? Wie steht der Bürgermeister zu dieser Pressemitteilung? Ich nehme an : Nichts Hören , nichts Wissen, nichts Sehen. Doch Herr Bürgermeister da bleibt doch ihr Gast „Türkischer Generalkonsul zu Gast in Alsfeld“ .

  5. Sehr geehrte Leser,
    hier möchte ich nochmal auf den stolzen Bericht der OL vom 21.03.2016 hinweisen: „Türkischer Generalkonsul zu Gast in Alsfeld“
    Herr Mustafa Celik trägt sich in das „Goldene Buch“ der Stadt Alsfeld ein.
    Anwesend unter anderem Stephan Paule und Heinz Heilbronn sowie Herrn Adem Maden der türkischen Gemeinde Alsfeld.
    Interessant ist der Kommentar-Schlagabtausch zwischen mir und Herrn Maden sowie der, sagen wir mal, etwas naiven Mitbürger.
    Mich würde mal interessieren, wie Herr Maden jetzt zu seinem direkten Vorgesetzten der DITIB, Herrn Erdogan steht.

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