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Die weltwärts-Freiwillige Anitha Andrews blickt zurück auf 15 Monate im VogelsbergFreiheit für Frauen, Bratwurst und Mülltrennung

ALSFELD/VOGELSBERG (ol). Gut 15 Monate war Anitha Andrews im Rahmen des weltwärts-Programms in Deutschland. Die 24-Jährige ist ausgebildete Lehrerin und war für ihre Tätigkeit in und um Alsfeld beim Evangelisches Dekanat Alsfeld angedockt. Sie hat an der Albert-Schweitzer-Schule gearbeitet, in der Hausaufgabenbetreuung und in Kindergärten.

Darüber hinaus hat sie auch über die Dekanatsgrenzen hinaus Vorträge über das Leben, speziell das Leben von Frauen in Indien, gehalten. Andrews lebte in dieser Zeit bei Stefanie und Holger Simon in Ober-Ofleiden. Am 16. April ging ihr Flieger zurück nach Indien. Im Interview zieht die 24-Jährige ein Resümee ihres Aufenthalts in Deutschland.

Interview mit Anitha Andrews

Anitha, du bist Anfang 2017 im Rahmen des weltwärts-Programms nach Deutschland gekommen. Was war deine Motivation, dich auf so eine unbekannte Reise zu begeben und mit welchen Erwartungen bist du nach Deutschland gekommen?

Anitha: Nach der Uni musste ich ein Jahr auf die Ergebnisse warten und wollte die Zeit gut nutzen. Meine Gastmutter hatte ich schon kennengelernt, als ich 2014 mit der Delegation aus Kerala hier war (Anm.: Es besteht eine Kirchenpartnerschaft zwischen den oberhessischen Dekanaten Alsfeld, Vogelsberg und Büdinger Land mit der Diözese East Kerala, die auch das College betreibt, an dem Anitha Andrews studiert hat.). Sie hatte auch die Idee, dass ich an dem weltwärts-Programm teilnehmen könnte. Große Erwartungen hatte ich nicht. Ich kannte Deutschland ja schon ein wenig. Von meinem letzten Aufenthalt wusste ich, dass es immer kalt ist. Etwas überrascht war ich, dass ich mit Englisch hier nicht weiterkam. Ich dachte, Englisch reicht in Deutschland, aber dann sprachen hier alle nur Deutsch mit mir.

Nach zwei Monaten spricht Anitha Andrews auf der Dekanatssynode. Foto: Müller

Als du kamst, konntest ja gar kein Deutsch, und nun innerhalb kürzester Zeit richtig gut Deutsch gelernt und den B1-Abschluss gemacht.

Vom ersten Moment an haben ja alle nur Deutsch mit mir gesprochen: Ralf Müller (Anm.: Ralf Müller ist im Evangelischen Dekanat Fachreferent für Bildung und Ökumene und zuständig für die Indien-Partnerschaft) hat schon auf der Fahrt vom Flughafen hierher Deutsch mit mir gesprochen. Hier im Dekanat haben auch fast alle nur Deutsch mit mir gesprochen und meine Gasteltern zuhause in Ober-Ofleiden natürlich auch! Und dann habe ich natürlich auch einen VHS-Kurs besucht.

Ist es für eine junge indische Frau so normal wie für eine europäische Frau, nach der Schule oder dem Studium eine so lange Zeit im Ausland zu verbringen?

Nein, das ist gar nicht normal. Selbst nach fünf Jahren an der Uni konnte ich nicht allein entscheiden, sondern brauchte die Erlaubnis meines Vaters, und der war am Anfang nicht besonders begeistert. Meine Lehrerin vom College hat sich dann für mich eingesetzt. Dann hat er verstanden, dass es für mich wichtig ist.

Immer wieder war Anitha Andrews zu Gast in Frauenkreisen. Foto: Andrews

Aber du warst doch schon volljährig.

Es hat mit der Familie zu tun. Als Frau brauchst du die Erlaubnis deiner Eltern, als Mann nicht. Da kannst du frei entscheiden.

Erste Erfahrungen in Deutschland

Was waren deine ersten Schritte in Deutschland?

Zuallererst bin ich zu meinen Gasteltern gekommen, und abends war zufällig gleich das Neujahrsessen vom Dekanat. Da war ich eingeladen. Am nächsten Tag war ich im Dekanat. Da mussten dann erstmal einige Formalitäten erledigt werden. Schon bald habe ich mich an der Albert-Schweitzer-Schule vorgestellt und dort angefangen zu arbeiten. Außerdem habe ich meine erste Präsentation erarbeitet. Nachmittags war dann auch schon gleich zu Beginn der Sprachkurs bei der Volkshochschule.

Viel erlebt hat Anitha Andrews mit anderen weltwärts-Freiwilligen, die sie kennenlernen durfte. Foto: Andrews

Was war schwierig für dich?

Am Anfang war es mit der Sprache am schwierigsten. Ich hatte immer einen langen Tag außer Haus: Um viertel vor sieben bin ich zuhause weggegangen und am Abend erst wieder nach 19 Uhr zurückgekommen. Ich hatte Hunger und ging zur Bäckerei, aber die Frau hat mich nicht verstanden. Sie hat sich auch keine Mühe gegeben, sie wollte es nicht, hat dann gar nicht mehr zugehört. Ich war den ganzen Tag hungrig und habe mir am nächsten Tag einen Zettel mitgebracht. „Croissant und Brötchen mit Butter“ stand da drauf. Da ging es dann, aber ich habe gemerkt, dass sie mich nicht mag. Als ich mich besser auskannte und besser Deutsch sprach, bin ich dort nicht mehr hingegangen.

So kannte man Anitha Andrews im Dekanat in Alsfeld: immer strahlend an der Arbeit. Foto: Schlitt

Es hängt viel an der Sprache, und den Leuten fehlt oft die Geduld, wenn es nicht so klappt. Einmal im Zug sagte man mir, mein Ticket sei falsch. Ich wusste, es war richtig. Ralf hatte es ja gekauft. Aber ich konnte es nicht erklären und war gezwungen, mir noch eins zu kaufen.

Und was hat dich am meisten überrascht?

Als ich im Januar letzten Jahres ankam, habe ich zum ersten Mal Schnee gesehen. Alles war weiß. Der ganze Weg vom Flughafen bis hierher.

Die andere große Überraschung war für mich, dass ich als Frau auch am Abend nach 18 Uhr allein auf die Straße kann. Das geht in Indien nicht. Da muss man sich dann immer abholen lassen oder wird begleitet. Hier war ich ganz stolz, dass ich einfach so unterwegs sein konnte. Was ich außerdem nicht kannte, waren die Mülltrennung und die Sicherheitsgurte, und natürlich der Rechtsverkehr.

Beim Treffen mit Bischöfen aus aller Welt im August 2017 sah Anitha auch Vertreter aus ihrer Diözese wieder. Foto: Evangelisches Dekanat

Wie hast du gelebt? Wer war deine Gastfamilie? Hast du Freunde gefunden?

Meine Gastfamilie war ganz toll. Steffi, meine Gastmutter, hat mir am Anfang alles erklärt. Das ging schon damit los, dass sie mir erklärt hat, welche Kleidung ich im Winter brauche. Ich kannte das ja gar nicht. Wir waren dann zusammen einkaufen, sonst wäre ich wirklich mit Flip-Flops raus.

Freunde zu finden ist hier wirklich schwer. Ich weiß nicht warum. Ich habe Freunde gefunden, bei Gruppen, die ich über die weltwärts-Organisation kennengelernt habe, aber sonst ist es schwierig. Im VHS-Kurs habe ich eine Afghanin kennengelernt, mit ihr bin ich jetzt befreundet. Aber auch die Flüchtlinge in den Kursen sagen, dass man so gut wie keine deutschen Freunde findet. Das ist wirklich schade.

Wo wurdest du alles eingesetzt und was waren deine Aufgaben?

Zuerst hatte ich weltwärts-Training in Karlsruhe und Begegnungstreffen in Spangenberg. Dann war ich Berlin auf dem Kirchentag und hatte Dienst in der Lichtkirche in Wittenberg anlässlich des Reformationsjubiläums. In Hammersbach in der Nähe von Frankfurt habe ich in einer Grundschule gearbeitet, hier in Alsfeld an der Albert-Schweitzer-Schule und im Kindergarten. Derzeit bin ich nachmittags noch im Café Online und im Selbstlernzentrum. Ich habe Vorträge für Kirchengemeinden und Frauenkreise gehalten, war bei Konfirmanden und habe bei Kindergottesdiensten mitgearbeitet.

Anitha Andrews bei der Hausaufgabenbetreuung im Café Online. Foto: Andrews

Persönliche Veränderungen durch die Zeit in Deutschland

Wenn du das Schulleben und überhaupt das Leben von Kindern und Jugendlichen in Deutschland mit dem in Indien vergleichst, was fällt dir da auf?

Ich finde die Schule in Indien besser. Hier sind die Schüler wirklich respektlos. Ich habe es erlebt, dass ein Lehrer sagte „Bitte seid leise“, aber nichts passierte. Und jeder hat ein Handy mit in der Schule und vor der Schule wird geraucht. Auch ganz junge Menschen rauchen schon. In Indien gibt es das nicht.

Ein anderes Beispiel: Ich war mit Kindern in der Kirche. Und als während des Gottesdienstes das Telefon eines Jungen geklingelt hat, hat er den Lautsprecher eingeschaltet und einfach telefoniert. Das hat alle gestört, und man hat ihn gebeten, das Handy auszumachen. Aber er hat einfach weiter gemacht. Ich verstehe nicht, warum man ihm nicht einfach das Handy weggenommen hat.

Ich bin wirklich nicht so groß, aber wenn ich in Indien unterrichte, dann hören die Schülerinnen und Schüler auf mich.

Mittendrin und ein ungewöhnlicher Anblick für die Kinder: Anitha Andrews im Kindergottesdienst. Foto. Andrews

Du warst viel unterwegs. Was hast du von Deutschland und Europa gesehen und was hat dich am meisten beeindruckt?

Ich war mit meinen Gasteltern in Österreich. In Deutschland war ich in Hamburg und Berlin, in Stuttgart und in München auf dem Oktoberfest. Dafür habe ich mir extra eine Dirndl-Bluse gekauft. Ich war in Düsseldorf und in Köln. In Frankfurt habe ich mit den anderen weltwärts-Freiwilligen sogar eine Woche in einem Hotel im Rotlichtbezirk gewohnt. Das war zwar Zufall, aber sowas geht in Indien gar nicht. Ich war in Kassel und in Garmisch und in Karlsruhe. Natürlich in Marburg und Gießen. In Gießen war ich auf einer Faschingsveranstaltung gewesen, das war sehr witzig. Und Marburg ist wunderschön. Mit dem Schloss und allem. Es gibt hier so viele Schlösser, das ist ganz wunderbar.

Dann war ich noch in Italien in Mailand, Rom und Neapel. Neapel sieht ein bisschen indisch aus. Ich war in Frankreich, in Paris und Taizé. Also, ich habe wirklich viel gesehen.

Mir ist aufgefallen, dass es hier in Deutschland überall sehr sauber ist. Und die Menschen grüßen sich alle, lachen und sind sehr freundlich. Wenn man kommt, sagt jeder „Hallo“ oder „Guten Morgen“ – das gefällt mir sehr gut.

Großen Bahnhof gab es für Anitha Andrews am Abschiedsfest des Dekanats. Von Ralf Müller erhielt sie die „Deutsche Staatsbürgerschaft ehrenhalber“. Foto: Schlitt

Wie beurteilst du deine persönliche Entwicklung hier in Deutschland? Hast du dich verändert?

Ich war nicht sehr selbstbewusst, als ich kam. Sehr aufgeregt und manchmal sehr nervös. Das bin ich jetzt nicht mehr. Ich habe viel gelernt und bin selbstbewusster geworden. In Indien schaut man sehr darauf, was die anderen sagen und man muss viel fragen, was erlaubt ist. Jetzt möchte ich das nicht mehr. Ich weiß selbst, was gut ist und was ich will, und möchte nicht immer die anderen fragen. Ich war früher schon unabhängig, als ich im Internat gewohnt habe. Aber dann war ich wieder zuhause, und da durfte mir sogar mein jüngerer Bruder sagen, was ich anziehen sollte. Das möchte ich nicht mehr. Ich hoffe, dass ich das schaffen kann, wenn ich wieder zurück in Indien bin. Ich höre sicher weiter auf meinen Vater, aber ich sage auch, was ich möchte, und ich möchte entscheiden. Aber ich bin nicht so oft zuhause, und wenn ich weg bin, dann bin ich auch wieder unabhängiger.

Natürlich mittendrin: Antitha Andrews auf dem Ev. Kirchentag 2017 in Berlin. Foto: Andrews

Wieder zurück in Indien

Welche Tätigkeit erwartet dich in Indien – hast du schon einen Plan?

Ich habe ein Angebot von einer indischen NGO. Ich könnte dort in einer Beratungsstelle arbeiten. Das würde ich gerne machen. Die andere Möglichkeit wäre, noch eine Prüfung zu machen, die mich befähigt, an einer Uni zu unterrichten. Aber wer weiß, wenn das alles nicht klappt, kann ich immer noch wieder als Lehrerin arbeiten. Auf jeden Fall bleibe ich in Kerala.

Welche Erfahrungen aus Deutschland nimmst du mit in deine neuen Jobs?

Auf jeden Fall das Selbstvertrauen. Und die Erkenntnis, dass Frauen im Vergleich zu Männern so wenige Freiheiten haben. Ich möchte mich dafür einsetzen, dass die Gleichberechtigung wirklich praktiziert wird. Wir haben sie per Gesetz, aber im täglichen Leben leider nicht.

Mit einem Stand auf dem Schulfest der Albert-Schweitzer-Schule präsentierte Anitha Andrews ihr Land. Hier gemeinsam mit Ralf Müller (Ev. Dekanat Alsfeld), Merle Groß (weltwärs-Freiwillige) und Miriam Reus (Albert-Schweitzer-Schule). Foto: Schlitt

Und in der Schule habe ich viel gelernt, das man anders machen kann, Gruppenarbeit zum Beispiel. Das kannte ich vorher nicht.

Fünf Stichworte: Was ist Deutschland für dich?

Sauber – Freiheit für Frauen – Bratwurst, Schwarzwälder Torte und Eierlikör – eine schwere, schwere Sprache – Schlösser und Schnee.

Willst du irgendwann nach Deutschland zurückkommen?

Ja, ich möchte gerne meine Gasteltern und die Leute im Dekanat wiedersehen. Aber dazu muss ich auch eine gute Arbeit haben, damit ich mir das leisten kann.

Zum Abschied gab es Schwarzwälder von Dekanat Dr. Jürgen Sauer. Foto: Schlitt

Kurz vor Anitha Andews‘ Abschied aus dem Vogelsberg fanden mehrere kleine und große Abschiedspartys statt. Dekan Dr. Jürgen verabredete sich mit ihr zum gemeinsamen Schwarzwälder-Torten-Essen, denn diese Köstlichkeit hatte es der jungen Inderin – neben Bratwurst und Schnitzel – besonders angetan. Die Abschiedsfeier des Dekanats wurde zu einem großen Begegnungsfest und endete mit der Verleihung der „Staatsbürgerschaft ehrenhalber“ an Anitha Andrews, die allen die sie kennengelernt haben, noch lange im Gedächtnis bleiben wird.

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