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Stellungnahme zur Protestaktion am 26. OktoberVogelsberger Hausärzte sehen ambulante ärztliche Versorgung gefährdet

VOGELSBERG (ol). Aus Protest gegen die Sparpläne der Bundesregierung im Gesundheitswesen bleiben zahlreiche Hausarzt- sowie Kinder- und Jugendarztpraxen in Hessen am morgigen Mittwoch und kommende Woche Mittwoch geschlossen. Auch die beiden Vogelsberger Hausärzte Susanne Sommer und Jochen Müller beteiligen sich an der Protestaktion. In ihrer Funktion als Bezirksvorsitzende des Vogelsbergkreises im Hausärzteverband warnen die beiden Mediziner vor den Folgen der Sparpläne. Die Mitteilung im Wortlaut.

„Es geht um nicht weniger als die ambulante ärztliche Versorgung der
Menschen, wie wir sie kennen, in Deutschland! Diese wird es nicht mehr geben, wenn die Sparpläne von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und der Krankenkassen, wie geplant, weiter umgesetzt werden.

Seit vielen Jahren wird der ambulanten ärztlichen Versorgung eine adäquate
inflationsbezogene Vergütungssteigerung verwehrt, geschweige denn eine
wertschätzende Anhebung des individuellen Arztlohnes angedacht. Dies
betrifft die hausärztliche wie auch die fachärztliche Versorgung in gleicher
Weise und sowohl die Versorgung der gesetzlich wie auch der privat
versicherten Bevölkerung.

Die für 2022-24 angedachten Honorarsteigerungen (2022 zwei Prozent, 23/24 null Prozent geplant) decken nicht einmal die zu Recht gestiegenen Personalkosten und den Hygieneaufwand zu Zeiten von Corona. Der Anteil der ambulanten ärztlichen Versorgung an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sinkt kontinuierlich und beträgt absolut weniger als die Ausgaben für die Arzneimittel im Jahr 2021, für deren Verordnung wir noch mit dem Risiko eines Regresses(Rückforderung) bestraft werden. Der Anteil der Ausgaben für den stationären Bereich steigt dagegen weiter nahezu exponentiell an, die Verwaltungskosten der vielen Krankenkassen übrigens auch.

Eine Steigerung unserer Umsätze ist nur durch ein immer schnelleres Rennen im Hamsterrad unter Durchschleusen von immer mehr Patientenzahlen, Überstunden und Einsatz unserer Gesundheit und der unserer hochgeschätzten MitarbeiterInnen in den Praxisteams möglich gewesen. Schließlich können wir unsere Preise nicht den Steigerungen von Inflation und Leistung anpassen, wie es Handwerker, Bäcker, Supermarkt, Hersteller und andere können, natürlich im Rahmen der Möglichkeiten dies an ihre Kunden weiterzugeben – was in den aktuellen Zeiten aufgrund des Kaufkraftschwundes auch extrem schwierig ist.

Wir bekommen die Höhe unserer Vergütung in sogenannten Verhandlungen im Bewertungsausschuss de facto von Seiten der Krankenkassen diktiert. Das Hamsterrad macht müde und die geringe Wertschätzung durch Politik, Gesellschaft und leider auch der Medien, die lieber die Aussagen von Politik und Krankenkassen übernehmen, ermüden noch mehr.

Ambulanter Schutzwall beginnt „erheblich zu bröckeln“

Jetzt treffen uns die Preissteigerungen im Energiesektor und im Einkauf sowohl in den Praxen als auch im privaten Leben genauso wie jeden anderen Betrieb und Einwohner in Deutschland. Der ambulante Schutzwall, welcher insbesondere seit Beginn der Pandemie, die Kliniken vor Überflutung schützt, beginnt erheblich zu bröckeln.

Die letzten beiden Tropfen, welche jetzt das Fass zum Überlaufen und die Ärzte vereinigt zum Protest brachten, ist die Forderung des GKV-Spitzenverbandes gesetzlich für die dann folgenden zwei Jahre eine Nullrunde für die ambulante Medizin zu verordnen und die Streichung der „Neupatientenregelung“, welche vor allem die fachärztliche Versorgung aber auch die hausärztliche Versorgung betrifft.

Wurde uns bisher, wenn wir Neupatienten aufgenommen haben, diese von den Krankenkassen voll vergütet, so wird diese Regelung aufgehoben (nachdem sie erst 2019 durch den jetzigen BGM mit auf den Weg gebracht wurde). Das wird zu großen finanziellen Verlusten in den Praxen führen.

Neupatienten bedürfen eines erheblich höheren Arbeitsaufwands und gerade im VBK, wo es zu Praxisschließungen in nächster Zeit kommen wird, da viele KollegenInnen ihren wohlverdienten Ruhestand erreicht haben, stehen wir vor dem Problem, dass viele PatientenInnen sich in nächster Zeit einen neuen HausarztIn suchen müssen. Die Aufnahme neuer Patienten ist unter diesen Bedingungen für jeden Praxisinhaber genau zu überlegen! Denn auch wir müssen wirtschaftlich arbeiten. Hinzu kommt, dass wir bei Wegfall der Neupatientenregelung, auch Termine bei FachärztenInnen wieder schwerlich selber vereinbaren müssen. Unsere Praxen werden zu Terminvermittlungsstellen degradiert.

Damit wird das hausärztliche Hamsterrad noch einmal beschleunigt. Abgesehen von dem zunehmend fordernden, teils aggressiven Patienten, deren Anspruchsdenken seitens Kassen, Politik und auch leider hier wieder Medien angefeuert wird, welche wir aushalten (müssen) und die, wenn es bei uns nicht schnell genug geht oder der Wunsch nach XY nicht umgehend erfüllt wird (es geht nicht um notwendige Behandlung, die ist für uns alle
selbstverständlich!) eine andere Versorgungsebene betreten und die Resourcen von Rettungsdiensten und Kliniken/Notaufnahmen dann sehr häufig unnötig binden.

Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen „am Limit“

Unsere MitarbeiterIinnen und wir arbeiten aber wie alle anderen Kollegen schon seit über zwei Jahren über dem Limit und können nicht mehr leisten. Eine Substitution unserer Tätigkeiten durch neue, zusätzliche und teure Strukturen ist aus unserer Sicht jedoch nicht notwendig (kontrollieren von Medikamentenplänen in Apotheken, Impfen in Apotheken, Gesundheitskiosk), sondern der Abbau zeit- und resoucenraubender Tätigkeiten, welche den Patienten und uns nichts bringen.

Die Bürokratie nimmt immer mehr wertvolle Zeit in Anspruch, ein hervorragendes Beispiel ist die Coronaimpfung, bei der es für ein und dieselbe Tätigkeit sage und schreibe 50! verschiedene Abrechnungsziffern gibt und dann muss tagesaktuell noch eine immer kompliziertere Meldung an das Robert-Koch-Institut erfolgen. Bürokratie bindet die Resourcen der Praxen und die fehlen dann bei der Versorgung unserer Patienten!

Und für die sogenannte Digitalisierung werden aktuell ca 300 Millionen Euro Versichertengelder zum physischen Austausch von Konnektoren, deren Zertifikate „abgelaufen“ sind und laut Chaos-Computer-Club auch per Software-Update viel günstiger erneuert werden könnten und deren Einsatz weder den Patienten noch uns etwas bringen, verbrannt. Auch hier geht kein Aufschrei durch Medien und Bevölkerung.

Viele Kolleginnen und Kollegen überlegen, ob und wie sie die nächsten Jahre in den Praxen gestalten können und wollen. Viele sind hier, wie in ganz Deutschland, über 60. Patienten haben zunehmende Schwierigkeiten eine/n Hausärztin/Hausarzt oder Kinderärztin/Kinderarzt im ländlichen Bereich zu finden. Nicht weil wir uns auf dem Golfplatz rumdrücken (Zitat Gesundheitsminister Laumann NRW letztes Jahr). Nein, wir können einfach nicht mehr Arbeiten, als das was wir jetzt leisten, und immer mehr zu Lasten unserer, damit sind auch explizit unsere nichtärztlichen MitarbeiterInnen gemeint, Familien und Gesundheit gehen. Die in letzter Zeit in Berlin gefassten Beschlüsse zeigen uns eine komplette Missachtung unser Tätigkeit und des gesamten ambulanten Bereichs.

Zur weiteren Information, wie die Stimmung der niedergelassenen Ärzteschaft so ist empfehlen wir folgenden Podcast von zwei Hausärzten aus Wiesbaden, in welchem auch nochmal Zahlen dargestellt werden.“

Susanne Somer, 1. Vorsitzende des Hausarztverbandes Vogelsbergkreis
Jochen Müller, 2. Vorsitzender

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