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Karsten Köhler berichtet als Zeitzeuge vom dem „Schweigenden Klassenzimmer“ in StorkowErinnerung wachhalten und Demokratie bewahren

ALSFELD (ol). Karsten Köhler ist Zeitzeuge – und nicht nur das. Er war auch Mitwirkender. Denn Karsten Köhler war Klassensprecher des „Schweigenden Klassenzimmers“. 20 Abiturientinnen und Abiturienten hatten sich 1956 mit einer Schweigeminute mit dem Volksaufstand in Ungarn solidarisch gezeigt. Davon erzählte Köhler als Gast an der Albert-Schweitzer-Schule – und brachte ein Filmteam mit.

In ihrem Heimatort Storkow, mitten in der damaligen DDR, lösten die Abiturienten damit eine Welle aus, an deren Ende 16 von ihnen als 18-Jährige ihre Heimat und ihre Familien verlassen mussten, um ihr Abitur in Westdeutschland machen zu können und eine selbst zu gestaltende Zukunft zu haben. Doch das ist nur ein Teil der Geschichte, die sich damals genauso zutrug.

Der andere Teil ist nicht minder beeindruckend, denn er erzählt von Zusammenhalt und Solidarität: In einer schnellen Abstimmung hatten sich die Schülerinnen und Schüler damals, nachdem sie im seinerzeit noch offenen Westberlin und über Westradio von dem Volksaufstand erfahren hatten, für die Schweigeminute ausgesprochen. Nicht alle, aber alle machten mit – und ahnten nicht, was folgen sollte. Denn die DDR sah darin mehr als einen jugendlichen Ausdruck von Solidarität und Aufbegehren – sie sah die Verantwortlichen als Staatsfeinde.

Schulleiter Christian Bolduan kündigte einen intensiven Austausch an und freute sich auf seinen Gast Karsten Köhler. Alle Fotos: Traudi Schlitt

Als dann der Staatsapparat mit den ihm zur Verfügung stehenden psychologischen Möglichkeiten – von vermeintlichem Verständnis und gutem Zureden bis hin zu offenen Drohungen auch der ganzen Familie gegenüber – versuchte, die Rädelsführer zu ermitteln, schwiegen die jungen Leute. Alle – und wurden als Klasse komplett vom Abitur ausgeschlossen, was ihnen ihre Zukunftsperspektiven für immer verbaut hätte. Der Rest ist Geschichte und war damals nicht nur der Bildzeitung eine große Schlagzeile wert.

Heute, 65 Jahre später haben längst ein Buch und ein Spielfilm dieses außergewöhnliche Zeugnis von Zivilcourage festgehalten. Auch eine ausführliche Dokumentation liegt vor. Und dann ist da noch Karsten Köhler, der nicht müde wird, insbesondere vor Schulklassen davon zu berichten: Von einem Unrechtsstaat, der keinerlei Protest und freie Entfaltung zuließ, der seine Bürgerinnen und Bürger unterdrückte und mit Gewalt im Zaum hielt. Der auf gezielte Falschinformation setzte, Familien auseinanderriss und der – gerade in den damaligen Zeiten – genauso unter der NS-Vergangenheit litt, wie der Westen, allerdings ohne dies jemals einzugestehen.

Im Gespräch: Karsten Köhler, Frank Spengler und Christian.

Zweiter Besuch in Alsfeld

Vor zwei Jahren war Karsten Köhler erstmals an der Albert-Schweitzer-Schule in Alsfeld. Damals sahen die Abschlussklassen den 2018 gedrehten Film und diskutierten mit dem Zeitzeugen. Inzwischen, so Köhler, war er auf sicher 80 ähnlichen Veranstaltungen. Darüber hinaus war er mehrfach in Ungarn. Da, wo vor 65 Jahren der Auslöser für die Schweigeminute war, und da, wo im August 1989 der erste große Riss in die Mauer und die innerdeutsche Grenze geschlagen wurde. Auch hier berichtet er mit Unterstützung des dortigen Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) jungen Menschen davon, was Courage und Zusammenhalt schaffen können.

Am vergangenen Wochenende war Karsten Köhler wieder zu Gast in Alsfeld. In einer coronabedingt kleinen Runde stand er Rede und Antwort, sprach über die Situation der jungen Flüchtlinge, die es – nachdem sie im Auffanglager in Marienfelde wieder zusammengekommen waren – dann als gesamte Klasse nach Bensheim verschlagen hatte, mittellos, mit nichts als ihrer Kleidung und ein paar Habseligkeiten. Und mit dem Wissen, ihre Familien in Ostdeutschland vermutlich nie wieder zu sehen. Der 82-Jährige berichtete von Verhören und Stunden, die er seinem schlimmsten Feind nicht wünschte, und davon, wie sich die alte Klasse nach der Wiedervereinigung erstmals fast komplett wiedergesehen hat.

Das Filmteam mit Maximilian Benesch (rechts) und Jenifer Stiller.

Mit dabei war dieses Mal ein Filmteam, denn innerhalb der Familie Köhler war der Plan gereift, die Gespräche mit den Schülerinnen und Schülern, ihre Fragen und die Antworten festzuhalten für eine Zeit nach den Zeitzeugen. Eine Idee, die an der Albert-Schweitzer-Schule auf fruchtbaren Boden fiel: Der Förderverein des Gymnasiums kümmerte sich um die Finanzierung und Organisation des Films, dessen letzter Drehort nun das Zeitzeugengespräch in Alsfeld war.

Zuvor wurde bereits in der Heimat Köhlers, im brandenburgischen Luckau, gedreht. In Storkow natürlich auch und in Bensheim. Auf diese Weise wird nun – finanziert aus Mitteln des Bundesprojektes „Demokratie leben“ – ein Film entstehen, der die Stationen der Handlung nacherzählt und Fragen von Schülerinnen und Schülern und anderen Gesprächsteilnehmern wiedergibt.

Engagierter Streiter für Demokratie und Gerechtigkeit: Karsten Köhler.

Für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einsetzen

„Wir freuen uns sehr, dieses Projekt gemeinsam mit Karsten Köhler, dem Kamerateam und dem Förderverein zu realisieren“, so Schulleiter Christian Bolduan, der erneut sehr angetan war von der intensiven Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte, die eine Begegnung mit Köhler ermöglicht. Dies einmal mehr, als dass Köhler zahlreiche Originalfotos der damaligen Flüchtlinge mitgebracht hatte, auf denen man ihn gemeinsam mit seinen Mitschülern und der einzigen geflohenen Mitschülerin entdecken konnte.

Selbst die Original-Bildzeitung vom 31. Dezember 1956 konnte man lesen: „Eine ganze Schulklasse flieht aus der Sowjetzone“. Zu der jetzigen Veranstaltung in Alsfeld konnte die Albert-Schweitzer-Schule auch Frank Spengler begrüßen. Er war bis vor kurzem Leiter des Auslandsbüros der KAS in Ungarn und bewundert Köhlers unermüdlichen Einsatz um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Gerade bei jungen Menschen gelte es hier anzusetzen, war sich die Runde einig. Unstrittig ist auch Köhlers Motivation: „Erlittenes Unrecht kann niemals gutgemacht werden, aber wir müssen die Erinnerung daran wachhalten, damit wir erkennen, wenn Recht in Gefahr ist und wir uns für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einsetzen müssen.“

Eine Schlagzeile und einen Bericht im Innenteil war die Flucht der Schüler der Bildzeitung wert. Die Unterüberschrift sei allerdings unwahr, so Karsten Köhler.

Vermutlich nicht ganz zu Unrecht hofft Schulleiter Bolduan auf eine Filmpremiere im Alsfelder Kino, wenn der Film im Herbst dieses Jahres fertiggestellt ist. Sollte es so weit sein, wird man sicher auch davon wieder hören.

Ausgeflogen von Westberlin nach Frankfurt am Main: die 15 Schüler und die eine Schülerin jubeln, auch wenn sie sich jetzt ganz anderen Problemen stellen mussten.

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