Das Thema: Die Oberhessen-live Talkrunde mit Wiebke Knell, Roger Merk und Bastian HeiserTourismus-Chance Corona?
VOGELSBERG. Sommerurlaub 2020 dürfte für viele Deutsche in diesem Jahr eines heißen: Urlaub in Deutschland, also in der eigenen Heimat. Zwar hat die Regierung die Reisewarnungen für EU-Länder aufgehoben, doch muss man bei einer Reise noch immer mit Einschränkungen und Quarantäne-Bestimmungen rechnen. Der Sommerurlaub im Ausland wird also nicht so sein, wie man ihn aus der Vergangenheit kennt. Gleichzeitig steckt die deutsche Tourismus- und Hotelbranche selbst noch mitten in der Krise. Birgt Corona Chancen für den Tourismus, besonders hier im Vogelsberg? Das ist das Thema in der sechsten Talkrunde „Das Thema“ von Oberhessen-live.
Die Corona-Krise hat gravierende Auswirkungen auf die Tourismusbranche in Hessen: Die Zahl der Gäste ging im April im Vergleich zum Vorjahreszeitraum laut dem statistischen Landesamt um 92 Prozent, die Zahl der Übernachtungen um 84 Prozent zurück, der hessische Tourismus steckt in der Krise.
Was muss die Politik jetzt tun, um der deutschen Tourismusbranche zu helfen? Ist Corona eine Tourismus-Chance und was sind hier konkrete Ideen um die Touristen in den Vogelsberg zu locken? Das ist unser Thema und das sind unsere Gäste.
Die Gäste der Talkrunde
Wiebke Knell, Stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP und tourismuspolitische Sprecherin der Landtagsfraktion
Roger Merk, Geschäftsführer der Region Vogelsberg Touristik
Bastian Heiser, Geschäftsführer hôtel villa raab in Alsfeld
Bei den Online-Telefonbüchern gibt eine sog. Rückwärtssuche. Das heißt, man kennt die Nummer, unter der man (erfolglos) angerufen wurde, kann aber nun ermitteln, wer’s war und ob ein eigener Rückruf lohnt. So ähnlich kommen mir die Fragestellungen der obigen Talkrunde vor: Man kennt die Antworten eigentlich schon, präsentiert aber ziemlich banale Fragen, damit man diese noch einmal bekräftigen kann. „Wird Tourismus in der Politik ernst genommen? Geht Tourismus ohne Veranstaltungen? Liegt in Corona eine Chance? Was können Touristen im Vogelsberg noch tun?“ Wie denn, wo denn, was denn… Um mit Loriot zu sprechen.
Aber auch auf die Gefahr hin zu langweilen, sollte man auf bestimmten Aspekten des regionalen Tourismus – genannt wurden hier z.B. Wandern und Radfahren als ausbaufähige Aktivitäten – in der Fremdenverkehrswerbung und Struckturförderung durchaus insistieren. Denn da liegt in der Tat ein gewisses quantitatives Potenzial.
Kürzlich erst brachte der HR in der Sendereihe „Alles Wissen“ einen sehr interessanten Vergleich zwischen den typischen Aktivitäten Joggen, Rad fahren und Wandern (https://www.hr-fernsehen.de/sendungen-a-z/alles-wissen/sendungen/wandern-joggen-oder-radfahren–was-ist-am-gesuendesten,video-125740.html). Und siehe da: Wandern als die am wenigsten „spektakuläre“ Art der Fortbewegung erbrachte den größten gesundheitlichen Effekt!
Vielleicht sollte man sich einfach viel stärker erinnern, dass Urlaub generell der ERHOLUNG dienen soll und nicht der Steigerung des Lebensgefühls. In kürzester Zeit möglichst weit weg und rein ins Getümmel der sich falsch Ernährenden und die eigene Gesundheit Gefährdenden: Schnellbräunen, Extremsaufen, Speeddating, Party… Am besten noch verbunden mit einem Kurs Hochsee- oder Kite-Surfen, Paragliding, Extremklettern oder was auch immer. Und alles natürlich von Selfie-Elfi mit höchster Auflösung professionell dokumentiert, weil man sonst ja praktisch nicht stattgefunden hat. Sprich: Maximaler Stress. Dafür haben die Altvorderen nicht den Tarifurlaub erkämpft, dass der „Urlauber“ schließlich urlaubsreif, ja geradezu Reha-bedürftig, an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt. Ähnliches wiederholt sich dann an allen Wochenenden, wenn man nach zweieinhalb durchfeierten Party-Wochenend-Nächten zur Frühschicht auf die Arbeit fährt und dann übermüdet vom Gerüst fällt.
Gerade in einer alternden und älter werdenden Gesellschaft hat Wandern als sanfte Sportart und „Lebensstil“ ein hohes Entwicklungspotenzial. Zweimal monatlich bis zu 15 km auf Wandertour – so die Empfehlung der Gesundheitsexperten – motiviert gleichzeitig zu Tourismus-Aktivitäten, die um so mehr genutzt werden, je besser die Infrastruktur mit Wegen, Wanderhütten, Jugendherbergen, gesundheitspflegerisch orientierten Hotels usw. auf den Wander-Trend zugeschnitten ist. Hier kann die Politik natürlich viel bewirken, indem sie hilft, die Infrastruktur aufzubauen und regional zu bewerben.
Zumindest im kulinarischen Bereich, der immer wieder als Aktionsfeld der touristischen Profilierung genannt wird, gibt es für die „Markenfamilie“ und das gemeinsame Profil keine Faktenbasis. Denn eine „Hessische Küche“ gibt es nicht. Und entsprechend sollte man eben doch die kleineren Einheiten mit abgrenzbaren Eigenschaften in den Vordergrund stellen!
Möglich, dass das mit schlecht ausgesteuertem Tonsignal zumeist zu leise dahin plätschernde Gespräch mich in eine Art Semi-Hypnose versetzt hatte. Plötzlich tauchten jedenfalls Birgit und Stefan aus Roger Merks Markenhandbuch in ihrem roten Volvo vor meinem inneren Auge auf. Die zwei Fahrräder auf dem Dachgepäckträger und das feste Schuhwerk wiesen sie als typische Vertreter genau des liberal-intellektuellen Milieus aus, das die Grüne Priska Hinz der Touristikbranche im Rahmen einer neuen Förderstrategie nach Corona als Rekrutierungsfeld eines wieder erstarkten Landtourismus nachdrücklich verordnet hatte.
Warum ausgerechnet diese neue Zielgruppe nachhaltig wandernder und Rad fahrender Naturliebhaber, wo es der Zielgruppen-Segmente doch so viele gibt? Sorgt man dadurch für verstärkte Nachfrage, indem man sich eine Gruppe von Urlaubs-Spezialisten herauspickt. Im gerade neu aufgehängten Insektenhotel brennt in allen Zellen Licht bzw. scheint es hindurch. Nur eine der Röhren ist besetzt: Birgit und Stefan. Eine schreckliche Vorstellung.
Ziel des Gesprächs war es, das Touristik-Konzept für den Vogelsberg „ein bisschen zu reformieren“ und mehr Menschen zu überzeugen, dass zumindest einige der „netten Fleckchen“ welt- oder Deutschlandweit sich auch in der Urlaubsdestination Hessen bzw. im Vogelsberg befinden.
Und deshalb „spezialisiert“ man sich auf Aktivitäten, die man praktisch in jedem Ort der Erde ausüben kann? Wo um alles in der Welt fände man keine Gelegenheit, auf Schusters Rappen oder Dunlops BMX-Reifen Land zu gewinnen? Am Ende des Gesprächs wirken die Gäste so verstört wie zu Anfang. Sei scheinen unzufrieden. Hat man doch viele Antworten gegeben, aber die richtigen Fragen nicht gefunden. Ja, man weiß jetzt: So mancher müsste das, was er eh schon seit Jahren macht, nochmals verstärkt tun. Oder weiterhin unterlassen. Es macht scheinbar keinen Unterschied. War man doch vor Corona schonbei einer Steigerungsrate von zehn Prozent. Ganz ohne Neue Landtourismusstrategie. Birgit und Stefan, bitte melden! Der Werbe-Etat ist knapp bemessen. Da wäre es schön, wenn man wüsste, wo ihr wohnt. Von wegen dem Direktmarketing. Das bringt immer noch am meisten.