Praktikum: Einblicke als Elektrikerin, Heilerziehungspfleger und HörakustikerinZehn Tage Einblick in die Arbeitswelt
ALSFELD (ol). „Wer die Wahl hat, hat die Qual“ – ein altbekannter Spruch, der vor allem bei dem Thema Berufswahl nichts an Aktualität verloren hat. Denn es gibt so viele Arbeitsbereiche und verschiedene Wege unterschiedliche Berufe zu erlernen, wie selten zuvor. Globalisierung und Mobilität erweitern zusätzlich die Möglichkeiten. So ist es gut, sich frühzeitig ein konkretes Bild über einen vorstellbaren Beruf zu verschaffen – zum Beispiel in einem zweiwöchigen Schulpraktikum, wie es jedes Jahr im neunten Schuljahr der Alsfelder Geschwister-Scholl-Schule stattfindet.
In der Pressemitteilung der Geschwister-Scholl-Schule Alsfeld heißt es, erst jetzt waren in Alsfeld und Umgebung wieder viele Neuntklässler in unterschiedlichen Branchen und Betrieben unterwegs, um in den Arbeitsalltag hinein zu schnuppern, der doch manchmal ganz anders aussieht, wie man ihn sich vorher vorgestellt hat. Wer denkt denn zum Beispiel daran, dass man als Elektriker oder IT-ler auf Baustellen sich richtig schmutzig macht, statt nur Lampen auszuwechseln, filigrane Arbeiten in der Computer-Hardware zu bewerkstelligen oder am Schreibtisch Schaltpläne zu entwickeln.
Diese Erfahrung machte beispielsweise Natalie Rupp aus Schwarz. Sie begleitete den selbstständigen Elektromeister Marco Schenatzky zwei Wochen lang von Baustelle zu Baustelle. Sie machte ihre Arbeit gut, packte mit an, war interessiert, motiviert und sich auch für nichts zu schade, dennoch sagt sie laut Pressemitteilung zum Ende ihres Praktikums: „Ich habe es mir anders vorgestellt! Weniger dreckig…“
Natalie war im achten Schuljahr mit ihrer Klasse, wie alle Klassen der Jahrgangsstufe 8 der Haupt- und Realschule, zwei Wochen im Bildungszentrum in Lauterbach zu Gast. Schon dort konnten die Schüler hin die unterschiedlichen Berufsfelder hineinblicken. Elektrotechnik hatte es ihr damals angetan, da man jeden Tag vor neue Herausforderungen gestellt wird und auf andere Baustellen kommt. Außerdem sieht sich in dem Beruf eine gute Berufsperspektive, da man Elektrizität immer und überall bräuchte. Den Elektromeister Schenatzky kennt sie als Handwerker ihrer Familie persönlich und scheute nicht ihn zu fragen, ob sie ihr Praktikum bei ihm machen könne.
In die Arbeit eines Elektrikers hineingeschnuppert. Fotos: Anja Kierblewski
Sie konnte, denn Marco Schenatzky sei ganz offen für Praktikumsplätze und biete Interessenten mehrmals im Jahr die Möglichkeit in seinen Betrieb und in den Beruf des Elektrikers hinein zu schnuppern. So wechselte Nathalie gewissenhaft Glühbirnen, reichte Werkzeug, fräste selber Löcher für Steckdosen, setzte diese und kam jeden Abend verstaubt und dreckig nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause. „Nix für mich, ich mach mich nicht gerne dreckig…“ gibt sie offen zu, wobei sie das Thema Elektrotechnik nach wie vor interessiert. Wohin ihre berufliche Reise gehen wird, weiß sie daher noch nicht.
Anders als gedacht
Für Marco Schenatzky kommt Natalies Erkenntnis nicht überraschend, auch wenn er betont, dass er mit Natalies Engagement und Durchhaltevermögen mehr als zufrieden war. Aber er hätte schon oft die Erfahrung gemacht, dass das Berufsbild des Elektrikers in den Köpfen anderer oft ein falsches sei – was auch mehrmals dazu geführt hat, dass manche Praktikanten nach einer Woche nicht mehr zum Praktikum gekommen sind oder sich haben Krankschreiben lassen würden. Dennoch nehme er immer wieder Praktikanten auf: „Ich finde es wichtig, dass man den Jugendlichen die Möglichkeit gibt, einen Einblick in verschiedene Berufe zu geben, nur so können sie doch feststellen, ob ihnen die Aufgaben liegen und sie sich vorstellen können, ein Leben lang dieser Arbeit nachzugehen.“
Auch die Alsfelderin Emily Weicker ist froh, dass sie die Möglichkeit hatte bei Hörakustik Zentrum Gertler zwei Wochen zu hospitieren. Sie hatte sich vorher mit dem Thema noch nicht intensiv beschäftigt und war eher von äußeren Faktoren beeinflusst, sich dort als Praktikantin zu bewerben: Ein stylischer Laden, fußläufig für sie erreichbar. Aber es interessierte sie natürlich auch, was in diesem modernen Geschäft hinter den großen Fenstern Tag täglich passiert. Und das zeigte ihr Hörakustik-Meister und Pädakustiker Marco Gertler. Der Geschäftsinhaber hatte sich gut auf Emilys Praktikum vorbereitet, weniger Kundentermine in die Zeit des Praktikums gelegt, um auch genügend Zeit für die 15-Jährige zu haben. Das, was er ihr zeigen konnte war ein filigranes Handwerk, dass nicht nur medizinisches Wissen rund um Gehör und Sinneswahrnehmungen erfordert, sondern auch Sensibilität und Empathie im Umgang mit den Kunden.
Ein Praktikum im Hörakustik-Zentrum.
So lernte Emily in der ersten Woche die Funktion des Ohres und des Gehörs kennen, macht selbst Ohrabformungen am Übungsohr, fertigte Rohlinge von Hörgeräten an, die im 3-D-Print oder auch per Hand angefertigt und angepasst werden und war auch bei Kundengesprächen dabei, um auch zu lernen, wie wichtig die individuelle Beratung ist. „Ich kann mir durchaus vorstellen, in dem Beruf zu arbeiten, würde gerne in diese Richtung noch mal in die Tiefe gehen wollen, aber ich möchte auch noch andere Berufe kennenlernen, denn es gibt ja so viele!“, meint Emily am Ende der zwei Wochen, in denen der Chef durchaus zufrieden mit ihrem Engagement, Interesse und Lernmotivation war.
Praktikum im Hörakustik-Zentrum
Marco Gertler selbst hatte erst zum zweiten Mal einen Praktikanten im Hörakustik-Zentrum. „Wenn man einen Praktikanten nimmt, dann hat man in gewisser Form einen Lehrauftrag den man erfüllen möchte. Man muss sich die Zeit nehmen, viel erklären, zeigen und in dem Gesundheitshandwerk auch auf Dinge wie Hygiene oder Gefahrstoffe hinweisen“, erläutert Gertler, der die Praktikumsmöglichkeiten für Schüler für eine sinnvolle Sache hält. Wie seine Kunden übrigens auch, die trotz des sensiblen Themas der Hörschwäche immer einverstanden waren, wenn Gertler fragte, ob Emily bei dem Beratungsgespräch dabei sein dürfte: „Natürlich, wir brauchen ja Nachwuchs!“ war immer die positive Rückmeldung der Älteren.
Ein besonderes Praktikum hat auch Julius Richber absolviert. Gemeinsam mit seinen Eltern hatte er im Vorfeld überlegt, was er machen kann. Irgendwas, wo er Menschen helfen kann – das war sein Ziel. Sport wäre toll gewesen, denn Julius ist begeisterter Handballer, doch seine Eltern baten ihn, doch etwas in einem anderen Bereich zu suchen, in dem er in der Region später mehr Beschäftigungsmöglichkeiten hat – und das lag quasi auf der Hand, besser gesagt saß am Tisch: Julius Oma wohnt seit zwei Jahren bei der Familie und braucht krankheitsbedingt tägliche Unterstützung – und das mache der 14-Jährige großartig, meint seine Mutter. Sozial, hilfsbereit, positiv – diese Eigenschaften machen Julius aus, weiß seine Familie. In die Richtung ein wenig „geschubst“, fragte Julius in der Werkstatt für behinderte Menschen von Kompass Leben an, ob er dort sein Praktikum machen dürfte. Er durfte, und er machte es großartig.
Besonderheiten schnell anpassen
Julius hatte keine Berührungsängste, war bei den motorisch oder geistig gehandicapten Mitarbeitern sehr beliebt, unterstütze diese bei ihren Tätigkeiten oder arbeitete mit, schnupperte in viele Arbeitsbereiche wie Industriemontage oder Handmontage hinein oder trug sogar mal Schürze und Haube, um in der Küche mit den Mitarbeitern zu kochen. „Für mich war die Herausforderung, jeden zweiten Tag in eine neue Gruppe zu kommen und mich dort den Besonderheiten schnell anzupassen“, gibt Julius zu, der sich aber dank seines erfolgreichen Praktikums sicher ist, später beruflich etwas im sozialen Bereich machen zu wollen und bis dahin noch in verschiedene soziale Bereiche hineinzuschauen. „Ich mag diese besonderen Menschen, die sind alle so nett, lieb und dankbar, das ist schön!“
Auch sein Betreuer Michael Dippel, Leiter der Werkstatt, war mehr als zufrieden und freut sich, dass Julius eine Ausbildung in den Bereich in Betracht zieht: „Wir brauchen männlichen Nachwuchs und gerne solche Jungs wie Julius“, meint der 47-Jährige. „Julius war interessiert, motiviert und hat sich ohne Probleme den Herausforderungen in der Zusammenarbeit mit unseren Mitarbeitern – auch mit den Schwerstmehrfachbehinderten – gestellt.
Das ist es, worum es auch im Praktikum geht: Sich neuen Herausforderungen stellen, seine Stärken entdecken, seine Grenzen ausprobieren und ein Gespür für sich und die Aufgaben bekommen, die man sein ganzes Leben lang bewerkstelligen kann und möchte. Denn heute zählt mehr denn je für die Jugendlichen: Geld ist nicht alles, die Arbeit muss mir gefallen – darin waren sich Julius, Natalie und Emily einig.
Schreibe einen Kommentar
Bitte logge Dich ein, um als registrierter Leser zu kommentieren.
Einloggen Anonym kommentieren