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Prof. Dr. Andreas Peichl, Leiter des Ifo-Zentrums für Konjunkturforschung und Befragungen, sprach vor Schülerinnen und Schülern der Alexander-von-Humboldt-Schule über Ungleichheit und Umverteilung in DeutschlandWas ist eigentlich gerecht?

LAUTERBACH (ol). Gerechtigkeit ist ein großes Thema. Gerade eben widmete die ARD ihm eine ganze Woche. Doch was ist schon gerecht? Kann man Gerechtigkeit von der Subjektivität befreien und objektiv bestimmen? Wieviel Ungleichheit finden wir in Deutschland und wie kann gute Umverteilung funktionieren? Fragen über Fragen, die sich auch junge Erwachsene stellen. An der Alexander-von-Humboldt-Schule gab es darauf in der vergangenen Woche fundierte Antworten.

Mit Prof. Dr. Andreas Peichl war laut Pressemitteilung der Alexander-von-Humboldt-Schule ein versierter Verteilungsforscher nach Lauterbach gekommen, um vor den Schülern der Q-Phase zu sprechen. Peichl ist Leiter des Münchner Ifo-Zentrums für Konjunkturforschung und Befragungen und er hat sein Abitur 1998 am Lauterbacher Gymnasium abgelegt. Sein Vortrag an der AvH war daher auch ein schönes Beispiel der Zusammenarbeit mit Ehemaligen, wie Oliver Stoy, Koordinator der Berufs- und Studienorientierung, in seiner Begrüßung feststellte.

Vom AvH-Abiturienten zum Leiter des Ifo-Instituts: Prof. Dr. Andreas Peichl sprach an seiner ehemaligen Schule über Gerechtigkeit. Foto: Traudi Schlitt

„Die Auseinandersetzung mit dem Thema Gerechtigkeit passt gut zu jungen Menschen, die mündige Bürgerinnen und Bürger werden wollen“, befand Stoy, bevor er das Wort an den Referenten weiterreichte, der sichtbar erfreut war, an seiner alten Schule zu sprechen, und eine Einordnung der Themen Ungleichheit, Umverteilung, Gerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit zu geben. Mit der Gretchenfrage nach der Definition von Gerechtigkeit startete Peichl seinen Vortrag; Begriffe davon gebe es viele: Gerechtigkeit innerhalb von Ländern und Regionen führte er an, zwischen den Generationen, zwischen den Geschlechtern, aber auch Chancengerechtigkeit oder Gerechtigkeit in der Verteilung von Einkommen und Vermögen.

Eine Online-Abstimmung mit den Schülern

Darüber, wie man Reichtum und Armut in einer Gesamtverteilung misst, gab der Professor einen kleinen Crashkurs: Er stellte den Schülern den Gini-Koeffizienten vor, ein statistisches Maß, mit dessen Hilfe man Ungleichverteilungen berechnen und auch darstellen kann. Im Verlauf könne man feststellen, dass die Ungleichheit in der Welt sinke, auch wenn sie in einigen Ländern vielleicht steige. Wieweit Wahrnehmung und Wirklichkeit auseinanderliegen, wollte Peichl anhand einer Online-Abstimmung mit den Schülern darstellen. Dazu hatte er eine Abstimmungsplattform freigeschaltet, auf die das Publikum direkt per Handy Zugriff hatte.

Handys ausdrücklich erlaubt: Die Schülerinnen und Schüler stimmten direkt über verschieden Fragen zum Thema ab.

Die Lauterbacher jungen Leute lagen mit ihrer Einschätzung, wie sich Armut und Reichtum in der deutschen Gesellschaft verteilt, genau richtig – ein Zeichen dafür, dass sie sich bereits mit dem Thema auseinandergesetzt hatten. In der Regel, sagte Peichl, schätzten die Menschen das Ungleichgewicht größer ein, als es ist – das führe vermehrt zu Unzufriedenheit, deren Ursache eine bloße Einschätzung ist, die durch konkrete Zahlen widerlegt werden könne.

Die Gerechtigkeit in Sachen Einkommen und Lohn würden die Wirtschaftswissenschaftler als steigend sehen, auch wenn man bei den Betrachtungen bedenken müsse, welche Einkommen den Ergebnissen zugrunde liegen. So mussten sich die Schüler mit der Bedeutung von Ungleichheit vor und nach Steuern, vor und nach Transferleistung auseinandersetzen. „Deutschland liegt weltweit an zweiter Stelle, was die Verteilungsgerechtigkeit betrifft“, zitierte Peichl eine Oxfam-Studie und bezeichnete dies als Ausdruck eines starken, effizienten Verteilsystems.

Soziale Mobilität und Chancengerechtigkeit

Auch auf die Themen soziale Mobilität und Chancengerechtigkeit ging der Professor ein. Obwohl Deutschland im Vergleich mit den USA eine große soziale Mobilität aufweise, zeige der Chancenbaum, dass auch hier immer noch vieles von der Situation im Elternhaus abhingen – auch die spätere Position im Beruf und damit auch das Einkommen. Eine weitere Umfrage zeigte, dass die Schüler es gerecht finden, wenn jemand, der mehr leistet, auch mehr Geld verdient, sie waren gegen eine komplette Gleichverteilung aller Einkommen und Vermögen der Gesellschaft an alle Personen und lauschten gespannt den Ausführungen des Redners zum Thema Hartz IV und Bedingungsloses Grundeinkommen.

Sein Fazit am Ende eines schnellen Rittes durch die vielfältigen Sichtweisen auf Gerechtigkeit: Deutschland gehe es sehr gut, steigende Einkommensungerechtigkeit ist als Thema überholt, ein großes Thema bleibt die Chancengerechtigkeit.
Wie sehr die Schüler sich für dieses Thema interessierten und wie intensiv sie sich schon im Vorfeld damit auseinandergesetzt hatten, wurde in der anschließenden Interviewrunde deutlich. Die angehenden Abiturienten befragten Professor Peichl nach seiner Einschätzung zu den Auswirkungen von sozialer Ungerechtigkeit für die Demokratie, zum Ehegatten-Splitting, zum Spagat zwischen Fürsorge und Fordern im Umverteilungssystem und zum Spitzensteuersatz. Des Weiteren ging es in der Gesprächsrunde um solch interessante Themen wie das Verhältnis von Mindestlohn und späterer Rente sowie um die deutsche Sichtweise auf Eliten.

Für die Schüler war es ein sehr interessanter Einblick, den Prof. Dr. Peichl geboten hatte – und das nicht nur zum Kernthema Gerechtigkeit, sondern auch in sein Arbeitsgebiet als Wirtschaftswissenschaftler.

3 Gedanken zu “Was ist eigentlich gerecht?

  1. Niemand kann sich die Eltern und die familiären Umstände der frühen Jahre, die so entscheidend sind für die Persönlichkeitsentwicklung und den gesamten weiteren Lebensweg, aussuchen. Genetische Ausstattung, Charakter, Gesundheit, Lebenschancen und Chancenverwertung usw. sind weitgehend vorprogrammiert, wenn auch nicht völlig unabänderlich und durch plötzliche Wendungen sogar umkehrbar. Die einen schwimmen MIT dem Strom, die anderen GEGEN den Strom. Und wieder andere lassen sich treiben. Aber wer darauf wartet, dass das Wasser bergauf fließt, hat von vornherein schlechte Karten.
    Wo die fundamentalen Lebensvoraussetzungen, das vorhandene Potenzial sowie die zu bewältigenden Lebensrisiken vom Schicksal/Zufall abhängen, ist „Chancengerechtigkeit“ zwar nicht unwichtig, aber durch welche politischen bzw. kompensatorischen (pädagogischen, sozialen) Maßnahmen auch immer nachträglich kaum zu beeinflussen. „Verteilungsgerechtigkeit“ trägt dieser Erkenntnis Rechnung und lässt sich aus dieser auch gut begründen. Zu warnen ist vor der Verallgemeinerung glücklicher Biografien in Sprüchen wie „Leistung lohnt sich!“ oder „Wer etwas leistet, hat auch Erfolg!“
    Wer nichts leistet, hat unter glücklichen Umständen eben auch Erfolg. Und unter ungünstigen Umständen bleibt der Erfolg trotz aller Anstrengung aus.
    Großer Erfolg bleibt immer eine Ausnahme wie ein Lottogewinn. „Wer immer fleißig Lottoscheine ausfüllt, knackt garantiert den Jackpot“ ist reiner Blödsinn. Wer den Haupttreffer landet oder eine Megakarriere hinlegt, hat schlichtweg nur Glück gehabt.
    Glück haben und Glücklichsein sind nicht dasselbe. Das Leben hat viele Facetten, und außer den sprichwörtlichen Sonntagskindern hat niemand in allen Bereichen und ein Leben lang Glück.
    Auch Gerechtigkeit führt nicht zu Glück und Zufriedenheit. Klar ist es gut, wenn erstmal jeder ein gleich großes Stück vom Kuchen bekommt. Doch der eine findet Kuchen lecker, der andere hasst Kuchen und liebt es eher pikant und der Dritte ist Diabetiker und darf den Kuchen gar nicht essen.
    Sehr sehenswert der Beitrag aus der Reihe Puls 180 – Aufsteiger trifft Aussteiger (https://www.ardmediathek.de/tv/Doku-Reportage/Puls-180-Aussteiger-trifft-Aufsteiger/hr-fernsehen/Video?bcastId=26131780&documentId=58161310)!

  2. …wie blau sind deine Augen. Wissenschaft ist eben nicht ideologiefrei, sondern transportiert unterschwellig Ideologien en masse. Und die Schüler*innen, vor denen der Herr Professor vom Ifo-Zentrum für Konjunkturforschung und Befragungen hier so sympathisch über Gerechtigkeitsfragen referiert, haben natürlich schon jede Menge systemkonformes Gedankengut intus, was vermutlich aus den Sparkassen-Broschüren stammt, mit denen überlastete Lehrkräfte gern ihre abgewetzten Schulbücher aus den 1970er Jahren pimpen.
    „Obwohl Deutschland im Vergleich mit den USA eine große soziale Mobilität aufweise, zeige der Chancenbaum, dass auch hier immer noch vieles von der Situation im Elternhaus abhinge – auch die spätere Position im Beruf und damit auch das Einkommen. Eine weitere Umfrage zeigte, dass die Schüler es gerecht finden, wenn jemand, der mehr leistet, auch mehr Geld verdient, sie waren gegen eine komplette Gleichverteilung aller Einkommen und Vermögen der Gesellschaft an alle Personen…“
    Dass „jemand, der mehr leistet, auch mehr Geld verdient“, erscheint der versammelten Jugend hier als für alle befriedigende Antwort auf die Frage nach sozialer Gerechtigkeit. Und Einkommen und Vermögen an alle Mitglieder der Gesellschaft gleich zu verteilen, halten die bankengesponserten und -gepamperten Wirtschaftsexperten von morgen dementsprechend für den Gipfel der Ungerechtigkeit. Und dann hört das Fragen auf und man verlässt sich auf die Statistik, deren Antworten immer davon abhängen, was man gerade mit was vergleicht. Und so wird die Jugend vollgestopft mit irrelevantem Halbwissen wie polnische Mastgänse, garniert mit einem kindlichen Pädagogenglauben an das Schöne. Wahre und Gute. Die eigentlich zentralen Probleme der Elitenbildung unter kapitalistischen gesellschaftlichen Bedingungen, der Mechanismen des sozialen Auf- oder Abstiegs, der ausschließlich politischen Entscheidungen darüber, was eine hohe und damit hoch zu dotierende Leistung sei, der schicksalhaften Anteile nicht nur der beruflichen Biografien (hier gibt es nun mal leider keine Gerechtigkeit und auf der Spitze der Pyramide ist nur Platz für einen!), bleiben euch, ihr armen Opfer unseres Bildungssystems, leider vorenthalten. Und so bleibt auch die Ungerechtigkeit weiterhin von Konjunkturschwankungen verschont. Und statt des bedingungslosen Grundeinkommens für alle feiert das leistungslose Spitzeneinkommen weniger Erben, Spekulanten, Boni-Raffkes, Cum-Ex, Cum-Cum und Cum-Fake-Spezialisten weiterhin fröhliche Urständ. Dankschreiben bitte an meine Briefkastenfirma auf den Cayman-Inseln. Und bitte Briefmarke nicht vergessen!

    1. @ Es gibt keine Gerechtigkeit
      Es ist genau so wie Sie sagen. Wir werden in diese Welt geworfen und sind dann unserem Geschick ausgeliefert. Das Schicksal ist blind. Wer bisher Glück hatte, schreibt dies seinen Fähigkeiten und seiner Anstrengungsbereitschaft zu. In einem ganz engen Sinne bestätigt sich das ja sogar empirisch. Wer keine Schwimmbewegungen ausführt, schluckt sofort viel Wasser und geht nach kurzer Zeit unter. Aber wo, wie gut, wie lange und wohin man schwimmt, ist von Faktoren abhängig, die oft bereits von Anfang an feststehen oder mitten im Spiel plötzlich verändert werden. Optimismus ist eigentlich unangebracht, doch wer hält die ganze traurige Wahrheit wirklich aus? Die Religion kann trösten. Eine gewisse Demut ist sicherlich ebenso angebracht wie ein rücksichtsvoller Umgang mit den Mitmenschen. Ich persönlich halte es mit der Lebensphilosophie von Snoopy (Peanuts): „Eines Tages werden wir sterben, Snoopy“, sagt Charlie Brown zu seinem Spielgefährten. „Ja“, antwortet der, „aber an allen anderen Tagen nicht“.

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