23 Jahre Grebenauer Verhältnisse: Bürgermeister Ackermann geht in RuhestandDer Rat: „Nicht Everybody’s Darling sein“
Von Axel Pries
GREBENAU Diese Zahl muss man genießen: 130 Dienstaufsichtsbeschwerden, Strafverfahren und Widerrufklagen gegen sich hat er erlebt – „und alle gewonnen!“ Darauf ist Jürgen Ackermann stolz. Er hat seit 23 Jahren das vielleicht schwierigste aller Bürgermeister-Ämter im Vogelsbergkreis inne: als Rathauschef im Gründchen, da wo die „Grebenauer Verhältnisse“ ein permantes Minenfeld bescheren. Freitag wird er geehrt, geht im Februar in Ruhestand. Ein gemeinsamer Rück- und Ausblick.
So entspannt hat man Jürgen Ackermann wohl selten erlebt, wie er derzeit durchs Grebenauer Rathaus geht und gut gelaunt in sein Büro lädt. Freundlich schon, aber so sichtlich gelöst? Natürlich würde er gerne ein Interview geben, hatte er auf die Anfrage geantwortet, und beim Besuch schaut auch noch Lars Wicke ein, der designierte Nachfolger, der gerade auf Einarbeitungstour im Rathaus weilt.
Kaum am Tisch, kommt die Zahl: 130 Beschwerde- und Klage-Attacken in 23 Jahren. Die Zahl lässt auch den Ackermann etwas staunen, aber sie soll stimmen. Die Zahl lässt zwei Deutungen zu: Der 60-Jährige ist der schlimmste aller Bürgermeister im Kreis – und hat vier Mal die Wähler verhext, als sie ihn dennoch wiederwählten. Oder er bewegt sich seit 23 Jahren auf dem schwankendsten Grund aller Kommunen im Vogelsberg – dem mit einem extrem streitsüchtigen Parlament in einem politischen Umfeld, in dem jedes Wort persönlich übel genommen wird – und der Amtsinhaber auch mal Morddrohungen erhält. Einmal haben sie ihn abgewählt, die Fraktionen. 1995. Aber bei der fälligen Wahl hob das Gründchen-Volk ihn wieder aufs Schild.
Dieses Umfeld hat Lars Wicke nun noch vor sich, wenn er am 2. Februar (das Datum stimmt) sein neues Amt antritt. Ja, gesteht der aktuelle Leiter der örtlichen Sparkassenfiliale: Respekt habe er schon vor dem Amt – aber jetzt in der Einarbeitung noch keinen Praxisschock erlebt. Aber Anerkennung: „Viele Leute haben mich schon angesprochen“, erzählt er. Wenn er erst Bürgermeister ist, wollen sie mit ihren Problemen kommen.
Am Freitag, 13. Februar, treffen die beiden sich in der Johanniterhalle, wo Jürgen Ackermann bei einer besonderen Stadtverordnetensitzung die Ehrenbürgermeisterwürde verliehen bekommen soll (ab 18.30 Uhr). Im Gespräch mit Oberhessen-live gibt Ackermann, der diplomierte Verwaltungswirt aus Gießen, Einblicke.
Frage: Herr Ackermann! Nach 23 Jahren stehen Sie kurz vor einer Ehrung und dann dem Ausscheiden. Können Sie sich jetzt endlich entspannen?
Ackermann: Ich kann mich entspannen, und mich fragen viele Menschen: Was machst du denn jetzt daheim? Fällst du nicht in ein Loch? Nein! Ich habe Hobbys, ich kann noch viel mit mir anfangen. Ich kann mich entspannen.
Fällt denn jetzt auch eine Last von Ihnen?
Ja, mit Sicherheit. Der Posten eines Rathauschefs ist ja nicht beendet, wenn man um 5 oder 6 Uhr abends nach Hause geht. Sondern man macht da weiter und hat abends noch Sitzungen, und natürlich ist da eine Last, die dann weg ist.
Hätten Sie manchmal auch gerne mal hingeschmissen?
Dazu hatte ich mehrere Male Möglichkeiten. Ich wurde Mitte der 90er Jahre abgewählt, da hätte ich sagen können, ich habe einen ausreichenden Pensionsanspruch zusammen. 2001, 2007 hätte ich die Möglichkeit gehabt zu sagen: Ich trete nicht mehr an. Das Pensionsrecht lässt dann zu, dass man sofort seine Rente erhält. Ich hatte mehrfach die Möglichkeit, aber habe mich jedesmal dagegen entschieden.
Gab es Momente, in denen Sie sich sagten: Das ist der beknackteste Job der Welt?
Ja! Da gibt es ein einfaches Mittel gegen: Ich bin Sportler, da geht man in den Wald, läuft ein bisschen, und dann ist das wieder vorbei.
Es gab eine Reihe Krisenmomente in Ihrer Karriere. Momente, in denen das Parlament bis auf Blut gestritten hat, und man hat Ihnen auch despotische Amtsführung vorgeworfen. Ist das so? Waren Sie despotisch?
Nein! Das ist abwegig. Ich hatte in den ersten paar Monaten meiner Amtszeit 1991 eine SPD-Mehrheit in Magistrat und Parlament. Und dann die letzten 22 Jahre nicht mehr. Also, ich habe immer gegenläufige Mehrheiten gehabt. Heißt einfach: Ich konnte gar nicht wie ein Despot auftreten, weil ich machen musste, was mir die Mehrheit aufgab.
Und gegenüber Ortsbeiräten?
Nein. Ich habe alle Ortsbeiräte besucht, wenn ich nicht in Urlaub oder krank war. Ich habe denen natürlich auch mal gesagt, was geht und was nicht geht. Wenn der Wunsch kam, für zwei Millionen ein Bürgerhaus zu bauen, dann habe ich schon gesagt: Nee! Bei der Haushaltslage nicht. Das ist aber kein despotisches Verhalten, sondern ein Verhalten mit Augenmaß, zu gucken, was geht und was eben nicht.
Sie sind vor langer Zeit mal angetreten, Bürgermeister zu werden – wahrscheinlich auch mit hehren Zielen…
Ja…
Haben Sie den Eindruck, Sie haben diese Ziele erreicht?
Ja, das kann ich sagen. Als ich herkam, da war die Infrastruktur am Boden. Es gab keine Kläranlage, die Straßen waren kaputt, keine Kanäle, keine Sammlerleitung, fast keine Baugebiete. Jetzt haben wir das alles da. Was ich bedaure, ist die Verschuldung. Aber die hat auch etwas mit der doppischen Buchhaltung zu tun. Was ich bedaure, das ist die demografische Sache: Wir sind 1000 Leute weniger, aber wir haben dennoch vernünftige Dinge auf den Weg gebracht.
Glauben Sie, dass Sie hätten mehr machen können, wenn es nicht die berühmten Grebenauer Verhältnisse gäbe?
Ja! Da bin ich mir sicher. Ich kenne Gemeinden drum herum, die sich einig waren, aber wenn man natürlich über eine Friedhofsordnung 14 Monate diskutieren muss, dann geht dafür Zeit drauf, in der man etwas anderes hätte machen können.
Die berühmten Grebenauer Verhältnisse. Sie sind als Vorsitzender der Vogelsberger Bürgermeistervereinigung in häufigem Austausch mit Kollegen. Wenn Sie vergleichen: Gibt es die Grebenauer Verhältnisse überhaupt oder ist das eine Mär?
Nein! Die Grebenauer Verhältnisse gibt es. Ich weiß nicht, woran es liegt. Ich bin ja nicht von hier, sondern bin gebürtiger Gießener und habe deshalb immer ein bisschen den Blick von außen gehabt. Aber irgendwie ist die Streitkultur hier im Gründchen vorhanden. Es mag mit der Gebietsreform zusammenhängen, durch die Dörfer zusammengebracht wurden, die nicht zusammen gehören.
Worauf sind Sie besonders stolz in einem Rückblick? Momente, in denen Sie Besonderes gepackt haben?
Ich bin auf Vieles stolz in meiner Amtszeit – unter anderem darauf, dass ich diesen Beruf 23 Jahre lang ausgeübt habe. Das wurde mir ja in jeder Wahl und auch zwischendrin streitig gemacht. Und ich bin stolz darauf, dass ich mit den vorhandenen Mitteln ziemlich viel geschafft habe.
Nach Ihren Erfahrungen – auch im Austausch mit Kollegen: Was muss ein Bürgermeister mitbringen, um sein Amt zu bewältigen? Ihnen hat man despotische Amtsführung vorgeworfen – muss ein Bürgermeister sich auch einfach mal durchsetzen?
Also, mit Despot kann ich gar nichts anfangen. Wenn, dann meine ich, dass eine gewisse Härte da sein muss. Ein bisschen Durchhaltevermögen, und das ist in der Tat nötig. Ich kann nicht everybodys darling sein. Und ich muss in der Lage sein zu sagen: Hier ist etwas zu finanzieren, und hier geht es eben nicht! Wenn mir abstruse Vorschläge gemacht werden – etwa, wenn ein Ortsbeirat sagt: Ich brauche ein Baugebiet, dabei ist das bestehende erst zur Hälfte gefüllt – dann muss man eben sagen: Das geht nicht. Aber das ist nicht despotisch.
Was muss ein Bürgermeister mitbringen, um ein guter Bürgermeister zu sein?
Also, Fachwissen wäre ja nicht schlecht, gell?
Damit fangen wir an. Aber das muss nicht automatisch so sein. Er wird ja nicht von der Verwaltung bestellt und nicht vom Parlament gewählt – sondern von Bürgern.
Es sei dahingestellt, ob das vernünftig ist. In NRW gibt es die Direktwahl, aber auch einen Ausschuss, der vorher selektiert. Etwa Juristen, Wirtschaftswissenschaftler für den höheren Dienst oder Betriebswirte, Verwaltungsfachwirte für den gehobenen Dienst. Woanders geht das sehr wohl. In Hessen sagt man: Ich muss 21, Deutscher und nicht vorbestraft sein. Das reicht in meinen Augen für diesen Beruf nicht. Das zweite was man braucht, ist Verbindlichkeit, aber auch Rückgrat. Sie sind ja auch Chef einer Verwaltung, eines Kindergartens, eines Bauhofs und so weiter.
Und wieviel Bürger muss im Meister sein? Der Bürgermeister wird immerhin von Bürgern gewählt.
Ja, gut, er muss schon bürgernah sein. Er muss mit Bürgern im Gespräch sein und bereit sein, jederzeit mit Bürgern in Kontakt zu kommen. Das geht hier ja leicht: Jeder kann ohne Termin zu mir kommen. Und ich besuche Ortsbeiratssitzungen, bin auf etlichen Hauptversammlungen gewesen – ich kann sie nicht mehr zählen – bin in vielen Vereinen gewesen. Da kommt ja die Bürgernähe.
Der Bürgermeister auch als Vermittler zwischen Verwaltung und Bürgern?
Es gibt ja die Situation, dass ein Bürger sich über eine Sache beschwert – ein Brief von der Verwaltung zum Beispiel – und dann kommt der zu mir und fragt: Warum ist das so?
Sie fahren jetzt Anfang des neuen Jahres von 120 Prozent auf null herunter: Wie verträgt Mensch das?
Das müsste man die Millionen Rentner fragen, denen das auch so geht. Ich vertrage das gut, ich habe sehr viele Hobbys, zum Beispiel bin ich Schachspieler und kann das seit 20 Jahren nicht mehr ausüben und werde in einen Schachverein eintreten. Ich bin einmal in 23 Jahren mit dem Fahrrad von hier nach Gießen gefahren: Das werde ich mehr machen.
Gibt es einen guten Rat, den Sie Herrn Wicke mitgeben würden?
Herr Wicke braucht eigentlich nicht meinen Rat, weil er über kommunalpolitische Erfahrung verfügt. Aber in Einem wird eine Umstellung erforderlich sein: Man muss als Bürgermeister auch Nein sagen können.
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