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Gerd Ludwig will trotz Krieg wieder nach TschernobylDie Todeszone lässt den Fotografen nicht los

ExklusivALSFELD/LOS ANGELES –  Wenn andere mit 76 Jahren längst das Rentenalter genießen, hat Gerd Ludwig noch Großes vor. Der weltbekannte Reportage-Fotograf aus Alsfeld will noch einmal an dem Ort fotografieren, den er in den vergangenen 30 Jahren schon mehrfach besucht hat: den Unglücksreaktor in Tschernobyl. Ausgerechnet jetzt, da in der Ukraine Krieg herrscht, was die Reportagereise um so gefährlicher macht. Aber Gerd Ludwig ist noch nicht fertig mit dem unheilvollen Ort. Er sucht jetzt Unterstützer.

„Tschernobyl steht im Zentrum meiner Arbeit“, erklärt der Fotograf, der seit Jahrzehnten in Los Angeles lebt und viele Jahre für das Reportage-Magazin National Geografic rund um die Welt aktiv war. Die Länder der ehemaligen Sowjetunion besuchte Gerd Ludwig seit dem Zerfall des Ostblocks immer wieder, stellte in zahlreichen Reportagen das Leben der Menschen dar – und insbesondere, wie sie unter der Umweltzerstörung aus Zeiten des sowjetischen Riesenreichs gelitten haben.

In schwerer Schutzkleidung durfte der Fotograf in den Reaktor eindringen. Foto: Gerd Ludwig

Der explodierte Reaktor in Tschernobyl und die sogenannte Todeszone drum herum taten es ihm dabei besonders an: Dörfer, eine ganze Stadt, die überstürzt verlassen wurden und seither mit allen Hinterlassenschaften der Menschen vor sich hin modern. Mitten drin die riesige Ruine des Reaktorgebäudes, tödlich wie eine tickende Atombombe und deshalb streng bewacht.  „Diese postapokalyptische Welt berührt mich sehr emotional“, erzählt Gerd Ludwig im Gespräch. 1993 war er zum ersten Mal dort, und seither lässt die Region ihn nicht mehr los.

Mit der Kamera im strahlenden Reaktor

Sieben Mal ist der gebürtige Alsfelder seither dorthin gefahren, besuchte ein Dutzend Mal die Todeszone auf ukrainischem Staatsgebiet, in der er insgesamt gut fünf Monate verbracht hat. Er dokumentierte das Leid der Menschen, die vertrieben wurden, die krank geworden sind und verzweifelt nach Hilfe suchen. Und er fotografierte auch in dem Reaktor, der immer noch tödlich strahlt, aber inzwischen gesichert ist und kurze Aufenthalte von Menschen erlaubt.

An dieser Schalttafel geschah einst der verhängnisvolle Fehler, der zur Zerstörung des Reaktors führte. Foto: Gerd Ludwig

Gerd Ludwig war dreimal drin – in Begleitung und immer nur eine Handvoll Minuten, bis die Dosimeter an der Schutzkleidung zeigten, dass das verträgliche Maß an radioaktiver Strahlung erreicht war. Das waren die schnellsten Fotoserien, die er je gemacht hat. Einen Raum besuchte er, in dem die Strahlung so hoch war, dass er nur wenige Sekunde drin sein durfte. Aber der Fotograf wollte unbedingt rein, weil darin eine rostige Uhr ging, die genau um 1.23 stehen geblieben ist, der Minute, in der das Unglück 1986 seinen Anfang nahm. Auch in jenem Schaltraum, in dem die verhängnisvollen Steuerbefehle gegeben wurde, durfte Gerd Ludwig fotografieren. Das Foto des riesigen, rostigen Schaltpults ging später um die Welt. „Kein westlicher Fotograf war tiefer in dem Reaktor als ich“, stellt er heute fest.

Ein Buch dokumentiert die Tragödie

2014 war Gerd Ludwig zuletzt dort, hat in dem Jahr auch ein umfangreiches Buch herausgegeben, das die Ereignisse von 1986 mit vielen Einzelheiten dokumentiert. Oberhessen-live stellte damals das Werk mit dem Titel „Der lange Schatten von Tschernobyl“   ausführlich vor. Seither hat sich einiges getan auf dem Gelände: Der errste brüchige Beton-Sarkophag hat eine gigantische Hülle erhalten, die verhindern soll, dass radioaktiver Staub vom Wind über das Land geweht wird.

Fluchtartig verließen die Bewohner die Zone um den Reaktor und hinterließen alles. Gerd Ludwig dokumentierte die Geisterstadt Prypjat. Foto: Gerd Ludwig

Doch was passiert darunter eigentlich? Und wie sieht es unter dem Reaktor aus, dessen Betonfundament 1986 zu schmelzen drohte, was eine flächige Verseuchung des Grundwassers bedeutet hätte? Wie geht es den Überlebenden der Katastrophe heute? Leben noch einige der bis zu 800.000 Liquidatoren, die danach im Wechsel verzweifelt versuchten, die Strahlung einzudämmen? Was wurde aus den Menschen, die seither an der Reaktor-Ruine arbeiteten? Das sind Fragen, die Gerd Ludwig fotografisch beantworten möchte.

Haben die Russen am Reaktor Minen gelegt?

Die Reise dorthin ist für ihn allerdings in mehrfacher Hinsicht schwieriger geworden. Das liegt natürlich einerseits an dem Krieg, den Russland der Ukraine aufgezwungen hat. Viele seiner Kontaktleute von einst waren Russen, und die stehen ihm nicht mehr zur Verfügung. Auch die Todeszone, die zwischenzeitlich von russischen Truppen besetzt worden war, und heute als militärische Sperrzone gilt, ist gefährlicher geworden: Die russische Grenze ist nicht weit entfernt. Man habe ihn auch gewarnt, erzählt Gerd Ludwig, dass die Truppen während ihrer kurzen Besetzung des Geländes wahrscheinlich Minen gelegt haben.

Finanzierung über ein Crowdfunding

Und Gerd Ludwig braucht Geld. Denn National Geografic finanziert die Reportage nicht mehr, die er anschließend an andere Magazine oder große Zeitungen verkaufen möchte. Erst einmal muss er aber die 35.000 Dollar vorfinanzieren, die die Reise wahrscheinlich kosten wird. Dafür startete Gerd Ludwig ein Crowdfunding-Projekt, bei dem er den Betrag einsammeln will. Unter dem Titel „Chernobyl – the next chapter“ sind bislang nicht ganz 10.000 Dollar zusammengekommen. Etwas mehr als drei Wochen hat der Fotograf noch Zeit.

Tief im zerstörten Reaktor von Tschernobyl. Foto: Gerd Ludwig

Die Dokumentation dieser Katastrophe sei nicht nur für ihn selbst wichtig, stellt er fest. Sie müsse auch immer wieder vor Augen geführt werden. Denn solche Ereignisse verdeutlichten, dass Menschen nur glaubten, sie könnten die von ihr erfundene Technik jederzeit beherrschen. Dieser Glaube an technische Allmacht sei eine Hybris, meint Gerd Ludwig, die 1986 besonders sichtbar wurde und bis heute ihre Fortsetzung findet: im Umgang mit Atombomben ebenso wie bei der aktuellen Entwicklung Künstlicher Intelligenz. Er ist sich sicher: „Nicht alles, was technisch machtbar ist, ist auch weise. Wir müssen nicht alles tun, was technisch machbar ist.“

Axel Pries

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