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Beitragsreihe zum 50-jährigen Bestehen des „Haus am Kirschberg“Sich den Herausforderungen stellen

LAUTERBACH (ol). 50 Jahre alt wird das Haus am Kirschberg in diesem Jahr. Eine kleine Reihe setzt sich mit der Geschichte und der Entwicklung der Einrichtung auseinander, die im Lauf der Jahrzehnte von einem Mutter-Kind-Heim zu einem wichtigen Akteur der Jugendhilfe geworden ist. Der fünfte Teil beleuchtet Hilfe für Mütter, Kinder und junge Menschen im Spiegel der gesellschaftlichen Veränderungen, Zehnerjahre und Ausblick.

Zum Abschluss gibt es einen Blick auf die gegenwärtige Situation und einen Ausblick, denn klar ist: Das Haus am Kirschberg wird sich mit den Anforderungen der Gesellschaft weiterentwickeln, heißt es in der Pressemitteilung.

Wie vielfältig diese Entwicklungen gerade in den letzten Jahren waren, spiegelt sich in den neuen pädagogischen Angeboten des Hauses am Kirschberg wider: Auf die Unterbringung und Begleitung unbegleiteter minderjähriger Asylbewerber (UMAs), die Clearing-Stelle für Familien in schwierigen Situationen und die neuen Hilfen unter einem Dach (HueD) blickt Geschäftsführer Tobias Hoffmann im Gespräch zurück.

„Über die Jahre hatten sich sowohl bei uns im Haus als auch in den verschiedenen Beziehungen im Sozialraum unterschiedlichste Verzahnungen ergeben. Angebote mussten angepasst, neu entwickelt oder auch beendet werden“, sagt Hoffmann. „Von besonderer Bedeutung ist hier die sozialräumliche Orientierung, die wir in der AG 2015 gemeinsam mit anderen Akteuren in der Region vorangetrieben haben.“

Auf eine große Probe stellte die Region aber zunächst die Ankunft junger Geflüchteter, minderjährig, ohne Begleitung, insbesondere in den Jahren 2015 und 2016.

Gemeinsam mit vielen anderen Jugendhilfeeinrichtungen engagierte sich auch das Haus am Kirschberg und stellte Wohnraum und Betreuungsangebote für bis zu zwölf junge Menschen bereit: „Dieses Angebot war unser Anteil an den Verpflichtungen, die im Sozialraum auf uns alle zukamen“, skizziert Hoffmann die damalige Situation und ergänzt: „Wie bei allen unseren Maßnahmen haben wir dabei stets auf die notwendige Fachlichkeit geachtet, um den Menschen und ihrer Situation gerecht zu werden.“

Ideen weiter voran bringen

Trotz dieser ungeplanten Aufgaben trieben die Träger in der Region die Idee des Sozialraums weiter voran: Menschen im Vogelsberg sollten die entsprechenden Angebote wohnortnah bekommen: Familie, Schule, Beruf, Freundeskreis – all diese vertrauten und meist stabilisierenden Faktoren könnten somit erhalten bleiben.

Der Vogelsbergkreis entwickelte dieses fachlich fundierte Konzept gemeinsam mit den freien Trägern. Das Haus am Kirschberg fokussierte daraufhin sein Angebot auf den Raum Lauterbach und Umgebung, die hier bereits bestehenden Tagesgruppen wurden flexibler, öffneten sich für den Sozialraum und den darin lebenden Klientinnen und Klienten.

Gleichzeitig setzte sich mehr und mehr eine Ressourcenorientierung durch. 2017 starteten die „Hilfen unter einem Dach“ (HueD) zunächst als Idee, 2019 dann als sozialräumliches Zentrum An der Cent. Ambulante Angebote von der Tagesstruktur bis zu einem Wohnen über Tag und Nacht finden die jungen Menschen und ihre Familien hier; darüber hinaus bietet das weitläufige Gebäude auch Trainingswohnungen zur Verselbständigung an sowie einen Akutbereich für Notfälle.

„Wir hatten großes Glück, dass wir mit dem Haus im Zentrum Lauterbachs ein solches Angebot realisieren können. In dieser Größenordnung wurde das nur durch Spenden möglich“, so Hoffmann. Dass mit der Jugendpflege der Stadt Lauterbach und einem Büro des Beratungszentrums B:24 noch fachlich nahe externe Mieter in dem Haus unterkommen, ist eine Bereicherung für alle.

„Zu Beginn unserer sozialräumlichen Arbeit waren wir in der ganzen Republik unterwegs, um auf gelungene Projekte zu schauen“, erinnert sich Hoffmann. „Heute hat der Vogelsberg mit seinem Angebot eine große Strahlkraft und wird selbst als Vorbild genommen.“

Neubau durch Spendengelder

Dass während der Entstehung und der konzeptionellen Arbeit an den HueD auch im Stammhaus am Kirschberg ein innovatives Angebot angestoßen wurde, zeigt zum einen die Gleichzeitigkeit verschiedener gesellschaftlicher Entwicklungen, zum anderen auch die Flexibilität der Verantwortlichen vor Ort, darauf bedacht und kompetent zu reagieren.

Ebenfalls aus Spendengeldern konnte ein Neubau errichtet werden, in dem Familien für einen kurzen Zeitraum leben können. Hier ermitteln die Fachkräfte den Unterstützungsbedarf, den eine Familie – gleich in welcher Konstellation sie aufschlägt – hat.

Im Vordergrund steht hierbei stets die Frage nach dem Wohl des Kindes: Kann es in einer wie auch immer unterstützten familiären Umgebung aufwachsen oder ist es sinnvoller, andere Wege zu beschreiten? „Die intensive Beschäftigung mit der Familie ermöglicht einen genauen Blick auf Ressourcen und Chancen, aber auch auf Grenzen und Gefahren“, erläutert Tobias Hoffmann das Konzept. „Am Ende des Aufenthaltes steht eine Statusermittlung, die als Grundlage für die Gestaltung des Hilfeprozesses dient.“

Frage nach Fachlichkeit

Mit jeder Erweiterung des Angebots stellt sich im Haus am Kirschberg auch stets die Frage nach der Fachlichkeit. Tobias Hoffmann: „Wir können hier mit Stolz auf unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter blicken, die nicht nur sehr aufgeschlossen sind für die pädagogische Weiterentwicklung in unseren Häusern, sondern die sich auch selbst weiterbilden, Schwerpunkte ihrer Arbeit herausbilden und den Gedanken unserer Arbeit mittragen.“

Unter dem Stichwort Weiterentwicklung steht auch das aktuelle Jahrzehnt. Ganz konkret hat sich in den letzten Monaten eine neue Form der Jugendgruppe gebildet. „Wir haben gesehen, dass in den Mädchengruppen einige ein großes Thema mit ihrer Sexualität und geschlechtlicher Identität haben. Ganz konkret stellten sie eine Diskrepanz zwischen ihrem biologischen und ihrem sozialen Geschlecht fest“, erklärt Geschäftsführer Thomas Rudolph.

Das Haus am Kirschberg reagiert darauf mit der ihm eigenen Kreativität: Aus der Mädchengruppe soll eine pädagogisch-therapeutische Intensivgruppe mit dem Schwerpunkt auf queeren Menschen werden, in der alle Geschlechter zuhause sind. Das Thema Geschlecht soll hier nicht im Vordergrund stehen, sondern einfach mitgelebt werden, so der Ansatz der Pädagoginnen und Pädagogen im Haus am Kirschberg.

„Dies ist eine neue Herausforderung in der Arbeit mit jungen Menschen“, sagt Rudolph, „eine Herausforderung, der wir uns nicht verschließen. Im Gegenteil: Mit der Eröffnung einer queeren Gruppe für alle schließen wir eine Lücke im Vogelsberg.“

Väter als große Rolle

Im fünfzigsten Jahr seines Bestehens hat sich das Haus am Kirschberg längst von einem Mutter-Kind-Heim zu einem Vater-Mutter-Kind-Heim entwickelt. Thomas Rudolph: „Väter, auch alleinerziehende, spielen heute eine große Rolle in der Familie. Diesem Umstand tragen unsere Konzepte Rechnung.“ Weitere Themen, die sich deutlich abzeichnen, sind Missbrauch und Gewalt. Auch daran wird das Haus am Kirschberg arbeiten.

Neben den Anforderungen, die die Klientinnen und Klienten an das Haus am Kirschberg stellen, stehen diese Jahre auch im Zeichen anderer Veränderungen und Entwicklungen: Die alte Bausubstanz des ehemaligen Hotels, das die Gründerfamilie Krauss vor fünfzig Jahren erworben hat, muss energetisch ins 21. Jahrhundert kommen, wobei sich hier sicherlich die schwierige Lage rund um die Versorgung mit Energie und Rohstoffen auswirken wird.

Die Krisen in der Welt werden auch in Lauterbach ankommen, der Fachkräftemangel ist schon da. Wie sich die Finanzierungen der Kostenträger und die Spendenbereitschaft der Menschen entwickeln werden, dürfe man mit Spannung erwarten. Intern wurde mit verschiedenen Neubesetzungen ein Generationswechsel eingeläutet – alles im Fluss also, und doch auf einem stabilen Fundament.

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