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Günther und Diana Schulz lebten fünf Jahre in Marokko – Auftakt zu einer SerieVom Aufbau und Scheitern in einem fremden Land

ALSFELD/ESSAOUIRA. Einfach weg! Raus aus dem Trott bundesdeutscher Enge in ein Leben mit neuen Möglichkeiten! Mit diesem Sehnsuchtstitel füllen Reportage-Seifenopern ganze TV-Nachmittagsprogramme. Einer, der diesen Traum gelebt hat, ist der Alsfelder Günther Schulz: Zusammen mit seiner Ehefrau Diana siedelte er 2009 nach Marokko über – der Freiheit wegen. Das Paar organisierte Wüstentouren, lernte über fünf Jahre Land und Leute aus einer Nähe kennen, die den meisten Deutschen verwehrt bleibt. Und kehrte in diesem Jahr zurück, weil sich der politische Wind in dem islamischen Land verändert hat. Die beiden Alsfelder haben viel zu erzählen: von Gastfreundschaft und Wüstenweite, Bakschisch und Minenfeldern.

Marokko: Das ist für die meisten Mitteleuropäer vor allem die Touristenstadt Agadir im südlichen Drittel des Landes am Atlantik. Tatsächlich, das Ehepaar Schulz ließ sich 2009 gar nicht weit entfernt von Agadir entfernt nieder: nahe Essaouira – einer schönen, alten  Hafenstadt, die eins unter westlichen Hippies den Ruf großer Freiheitsmöglichkeiten erlangte. Was nicht anderes bedeutete, als dass Marihuana dort besonders günstig zu erstehen war. Von Jimmi Hendrix bis Keith Richards sollen sich dort berühmte Künstler das Gehirn weich geraucht haben. Ounara, so heißt das Dorf 20 Kilometer östlich von Essaouira, in dem Günther und Diana Schulz lebten – ein Ort mit Campingplatz, potenzieller Kundschaft. Denn davon wollten die Deutschen in dem fremden Land leben: von seinen Kenntnissen über Wüste, Land und Leute in Nordafrika.

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Der Erzähler: Günther Schulz in der Redaktion von Oberhessen-live mit Bildern aus Marokko.

 

Die Wüsten Nordafrikas haben es Günther Schulz angetan, seit der passionierte Abenteuer-Reisende das erste Mal 1989 mit dem Alsfelder Hermann Schlemmer in die Sahara fuhr. „Ab da hatte ich ein Faible für Afrika“, erzählt der 56-Jährige, der in den Jahren zuvor schon mit Reisen nach Kanada und Alaska Wildnistauglichkeit bewiesen hatte. Immer wieder führten ihn ab da immer weitere Touren durch den großen Erg. Bis zu sieben Wochen lang reisten die Abenteurer mit Geländewagen durch die Wüsten – und nicht immer nur als Urlaub. Sie wurden gefragte Führer für Archäologen und Grabungstechniker, die in den unberührten und seit tausend Jahre unveränderten Weiten der Wüste nach Spuren menschlicher Historie suchten – womit diese Touren eine zweite Passion des Alsfelders punktgenau trafen: Günther Schulz war als Historiker stark engagiert, gehörte dem Alsfelder Denkmalbeirat an und leitete sogar das Regionalmuseum, ehe er nach Marokko aufbrach.

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Eine Serie von Geschichten aus eigenem Erleben

So viele Erlebnisse in einer fremden Kultur, so viele Geschichten: Die lassen sich nicht in einem Artikel wieder geben. Deshalb schließt sich diesem Auftakt-Artikel eine kleine Sertie an, in der Günther Schulz mit eigenen Worten Kapitel und Themen aus dem Leben in Marokko erzählt.

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Fragt man ihn nach dem Abenteuergehalt seiner Afrika-Reisen, wiegelt er ab: So schlimm sei das ja nicht gewesen. Um dann aber doch Geschichten zu erzählen, die fernwehgeplagte Mitteleuropäer neidisch werden lassen. Wie sie zum Beispiel einmal mit einem „Robur“, einem umgebauten Funkwagen der Nationalen Volksarmee NVA, von Alsfeld bis an die sudanesische Grenze fuhren – mit maximal 70 Stundenkilomotern. Und im Sudan sei ein Einheimischer so begeistert von dem Besuch aus dem fernen Europa gewesen, dass er ihnen ungefragt einfach die Tankrechnung an der Tankstelle bezahlte. „Aber das ist heute nicht mehr denkbar“, bedauert Günther Schulz. Die politischen Verhältnisse haben die ganze Region für westliche Weiße lebensgefährlich werden lassen.

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Karg und entlegen: typische Camps bei Wüstentouren.

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Die Region und die Menschen faszinierten Günther Schulz genug, dass er auch die arabische Sprache lernte: in Deutschland bei der Volkshochschule und vor Ort durch Kontakt mit Einheimischen. „Ich spreche genug Arabisch, um mich unterhalten zu können“, erklärt er. Da bekam denn auch schon mal ein Händler einen roten Kopf, der sich mit Kollegen abfällig über den deutschen Kunden äußerte – um dann von dem in seiner eigenen Sprache angesprochen zu werden. „Da ging der Preis aber rapide nach unten“, lacht Günther Schulz.

Deutschland, Alsfeld erschien dem Kundendienstmitarbeiter in der Elektronikbranche indes immer enger. Stress mit zuviel Einsatz in den Ehrenämtern wie im Beruf setzten ihm zu. „2008 hatte ich ein Burnout, es ging nichts mehr“, erzählt. Als er seiner Frau die Idee unterbreitete, ganz nach Afrika zu ziehen und sich mit Wüstentouren eine neue Existenz aufzubauen, „war sie sofort Feuer und Flamme“. Am 1. April 2009 reiste das Ehepaar Schulz in Marokko ein. Marokko deswegen, weil das Land ihnen als als offensten und fortschrittlichsten erschien. Führungen durch die Sahara und Hilfedienste für deutsche Touristen – davon wollten sie leben. Tatsächlich schlug das Ehepaar sich in den ersten Jahren vor allem mit geräuchertem Rinderschinken durch – einer Spezialität, auf die Günther Schulz sich versteht. „Ich habe in den fünf Jahren 500 Kilogramm davon hergestellt und an Europäer verkauft. Das lief richtig gut!“

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Bei der Arbeit: Günther Schulz und ein Archäologe dokumentieren Felsbilder.

 

Bis auch das Geschäft mit den Touren durch die Wüste richtig lief, dauerte es aber ein paar Jahre. „Vor allem die ersten beiden Jahre waren schwer.“ Man schlug sich gerade so durch. Dabei ist das Leben in Marokko günstig: Wer gut haushaltet, so seine Rechnung, kommt mit 300 Euro im Monat über die Runden – plus Miete.Krankenversicherung? „Die gibt es nicht“, lacht er. Dafür ist der Arztbesuch günstig: Für 500 Dirham, rund 50 Euro, bekam er eine komplette Wurzelbehandlung. Nach einem sehr bescheidenen ersten Jahr in einem Haus mit vielen marokkanischen Nachbarn wechselten die Deutschen in eine kleine, bezahlbare Villa außerhalb des Dorfes. „Da hatten wir sogar einen Pool.“

Doch, es wurde besser mit den Wüstentrips: Insgesamt 13 Fahrten organisierten und begleiteten die Deutschen vor allem mit Wissenschaftlern, Archäologen, die in der Wüste unzählige uralte Gräber und Felszeichungen entdeckten, untersuchten und festhielten. Das war nach dem Geschmack des Historikers Günther Schulz. Und sie entdeckten die zahllosen Hinterlassenschaften verschiedener Kriege. Alte Granaten und Minen am Wegesrand: „Die haben wir markiert, damit sie nicht übersehen werden, und dann den Behörden gemeldet.“ Vor allem Millionen vergrabener Antipersonenminen aus dem Polisario-Krieg in den 70er Jahren bedeuten heute noch große Gefahr. „Es gibt Regionen im Süden, da darf man keinen Meter vom Weg abweichen“, erzählt Günther Schulz. Den richtigen Weg erfährt man am besten von Einheimischen. Ein großes Hochwasser brachte vor Jahren aber auch deren Kenntnisse durcheinander: Das Wasser spülte die kleinen Explosivkörper massenhaft aus dem Boden und in Richtung Meer. Nun ist dort der Strand überall gefährlich. „Niemand weiß mehr, wo die Dinger liegen.“

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Scheinbar unendliche Weite und Leere: am Rande der Sahara.

 

Drei, vier Jahre dauerte es, bis das Ehepaar sich in Marokko einen Namen als Guide machte und auch Erwähnung in den bekannten Reisebüchern von Erika Dörr fand. „Da lief es eigentlich ganz gut“. Doch das Happy-End blieb aus. Denn der arabische Frühling fand auch sein Pendant in dem Königreich Marokko – weitgehend unbeachtet von westlichen Medien. Aber König Mohammed VI reagierte geschickt auf die aufkommenden Unruhen im Land, meint Günther Schulz: Er machte manchen Gruppen große Zugeständnisse und unterdrückte weitere Opposition brutal. Es gab Parlamentswahlen, „und dann waren die Bärtigen an der Macht.“ Die Stimmung in dem einst für islamische Verhältnisse liberalen Land veränderte sich in den Folgejahren – richtete sich auch gegen Ausländer oder deren Einfluss. „Ich musste auf einmal den marokkanischen Führerschein machen“, sagt der Deutsche als ein Beispiel für die zunehmende Islamisierung  der Marokkaner. Die neue Mehrheit dränge westlichen Einfluss züruck – selbst da, wo es um reine Hilfeleistung geht. Das Ehepaar aus Alsfeld spürte zunehmenden Gegenwind, aber was ihnen wirklich etwas Angst machte, waren die Steine, die nächtens manchmal gegen ihr Haus flogen. Es beschloss, lieber nach Deutschland zurück zu kehren. „Wir haben uns einfach nicht mehr wohl gefühlt.“

Seit Mai sind Diana und Günther Schulz wieder in Alsfeld, um eine Lebenserfahrung reicher und randvoll mit exotisch anmutenden Geschichten. Einige davon will er in einer kleinen Serie bei Oberhessen-live erzählen: Einsichten in ein Leben, das wohlbehütete Mitteleuropäer in einem durchorganisierten Deutschland sich nur schwer vorstellen können.

Von Axel Pries

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Wüstenromantik mit Abendrot.

 

4 Gedanken zu “Vom Aufbau und Scheitern in einem fremden Land

  1. Ute Persson

    wenn man 2-3 Wochen in Marokko Urlaub macht, sieht man das Land sowieso nur durch die rosarote Brille!

  2. Ich komme gerade von einem Marokko Aufenthalt zurück, kann der “ zunehmenden Islamisierung“ bzw. “ dem zunehmenden Gegenwind “ lt. Fam. Schulz n i c h t zu stimmen. Verspüre das Gegenteil, finde aber die Geschichten und Fotos von Fam.Schulz interessant.

  3. zitat: “Ich musste auf einmal den marokkanischen Führerschein machen” sagt der Deutsche als ein Beispiel für die zunehmende Islamisierung der Marokkaner. hahahah
    Ja wenn das Islamisierung ist dann ist es besser wieder nach hause zu kommen

  4. Ich kenne beide Schulzes, anfangs nur virtuell von mehreren Plattformen, seit vergangenem und diesem Jahr persönlich.
    Ich habe diesen Artikel Wort für Wort gelesen und finde fast alles das wieder, was wir in persönlichen Gesprächen erläuterten. Der Artikel ist zeitnah, flüssig und angenehm salopp geschrieben.
    Ich/wir sind auch Marokkofreaks und finden die dortige politische und religiöse Entwicklung gar nicht gut! Vor Jahren war das noch ganz anders!
    Ich bin schon gespannt auf den/die folgenden Artikel, interessieren sie mich doch sehr!
    Mit besten Grüßen aus Sachsen
    Andreas und Hannelore

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