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Wie SPD-Bundestagsabgeordneter Felix Döring die ersten 100 Tage im Bundestag erlebt hatVom Lehrer zum Bundestagsabgeordneten in 100 Tagen

VOGELSBERG (ls). Im vergangenen September hat sich SPD-Kandidat Felix Döring überraschend gegen den amtierenden CDU-Bundestagsabgeordneten und damaligen Kanzleramtschef Helge Braun durchgesetzt. 100 Tage sind seither vergangenen. Wie der 30-Jährige die erste Zeit als Neuling im Parlament erlebt hat – und warum der Vogelsberg wohl mit noch mehr Windrädern leben muss.

Er sorgte für eine der größten Überraschungen bei der Bundestagswahl im vergangenen September: Der 30-jährige Gymnasiallehrer Felix Döring setzte sich gegen den erfahrenen Politiker und damaligen Kanzleramtsminister Helge Braun durch und zog als Direktkandidat in den Bundestag ein. Vor einem Jahr, als Döring seine Kandidatur erklärte, hätte er selbst keinen hohen Geldbetrag auf seinen Wahlsieg gesetzt, wie er in einem Rückblick erzählt.

„Die Chancen waren sehr schlecht für die SPD. Die lag bei 13 bis 14 Prozent abgeschlagen auf Platz drei, übrigens noch hinter den Grünen. Und auch hier im Wahlkreis gegen den Kanzleramtsminister könnte man sich bessere Chancen ausgerechnet haben“, sagt er. Allem in allem habe er, so sagt er, gemeinsam mit seinem Team einen engagierten Wahlkampf geführt, für den er sich ins Zeug gelegt habe, und auch der Bundestrend dürfte Döring in die Karten gespielt haben. „Ich glaube, wenn in den letzten 150 Jahren Sozialdemokraten immer dann die Segel gestrichen hätten, wenn es gerade nicht so rosig ausgesehen hätte, dann wären wir heute nicht da, wo wir sind“, resümiert er.

Ein kleiner Teil von ihm hat immer daran geglaubt, dass es möglich ist. „Und ich bin sehr froh, dass es dann sehr knapp, aber tatsächlich gereicht hat.“ Knapp war es durchaus: Mit 30,36 Prozent setzte sich Döring gegen Brauns 29,59 Prozent durch. Oder wer absolute Zahlen lieber mag: 48.363 Wahlberechtigte stimmten für Döring, 47.136 für Braun.

Bundestagswahl im Vogelsberg: Das sind die drei gewählten Direktkandidaten

Den ganzen Abend über sei er nach außen hin „erstaunlich ruhig“ gewesen, so habe man es ihm erzählt, innerlich habe er vor Aufregung aber gebrodelt. „Ich glaube es war so um kurz vor 0 Uhr, als nur noch ein Wahllokal fehlte und da waren weniger wahlberechtigt, als mein Vorsprung groß war“, erzählt er. In diesem Moment sei die Anspannung abgefallen. Noch in der Wahlnacht ist es Döring dann so richtig bewusst geworden: Ab sofort ist er Mitglied im Deutschen Bundestag.

Erste Rede im Bundestag zur Abschaffung des Abtreibungs-Paragrafen

Seither hat sich sein Leben komplett geändert, es ist „ordentlich durcheinander gewürfelt worden“. Statt jeden Morgen als Lehrer vor Schülern zu stehen, ist er nun zwei Wochen im Monat in Berlin. „Man hängt da wirklich ein Stück weit zwischen den Welten. Ich habe mein Berliner Büro, ich habe ein Wahlkreisbüro – und das sind ganz unterschiedliche Rollen, die ich im Wahlkreis habe und die ich in Berlin habe“, erklärt er. In Berlin beispielsweise sei er der neue Abgeordnete, der sich erstmal in die vorletzte Reihe setzt und sich in die Strukturen der Bundestagsfraktion einfinden muss – seine erste Rede vor dem Bundestag zur Abschaffung des Paragrafen 219a im Strafgesetzbuch, der Ärzten das Informieren zu Schwangerschaftsabbrüchen auf deren Homepage verbietet, durfte er schon vor zwei Wochen halten.

„Ich bin sehr froh, dass mir meine Fraktion so früh schon das Vertrauen geschenkt hat, da ans Rednerpult zu treten. Das war eine Situation, in der ich schon gewisse Erfahrung habe, also im Redenhalten. Aber die erste Rede im Deutschen Bundestag, die kann kein Alltag sein.“ In dieser Situation habe es aber gut gepasst, da er durch die Gießener Ärztin Kristina Hänel, die durch ihren Einsatz zur Abschaffung des Paragrafen deutschlandweite Bekanntheit erlangte, einen bedeutenden Anknüpfungspunkt hatte und mit Hänel in regem Kontakt steht.

„Das ist eine Situation, die ich im Jahr 2022 für absolut überaltert, für absolut antiquiert halte. Da wird es Zeit, dass wir das Motto, das wir über den Koalitionsvertrag geschrieben haben, ‚Mehr Fortschritt wagen‘, auch in der Tat umsetzen und diesen Paragrafen sehr zeitnah und aus tiefer Überzeugung heraus abschaffen“, sagt er mit spürbarer Leidenschaft – eine der wohl wichtigsten Dinge, die er in den ersten Tagen Bundestag gelernt habe: man müsse Leidenschaft mitbringen.

Es ist ein großes Privileg, diese Region in Berlin vertreten zu dürfen.Felix Döring

Gleichzeitig steht in Berlin die themenspezifische Sacharbeit seines Ausschusses im Fokus. Döring gehört dem Ausschuss für Familie, Frauen, Jugend und Senioren an, für ihn ein großes Glück. „Ich habe festgestellt, dass ganz viele der Themen, die mich interessieren, in diesem Ausschuss verhandelt werden“, sagt er. Unter anderem seien das Fragen der Jugendarbeit, Jugendbeteiligung, auch Themen die Kitas betreffen sowie die Kindergrundsicherung. „Das ist, glaube ich, das größte Projekt, das uns da beschäftigen wird und was mir natürlich sehr am Herzen liegt.“

Dem gegenüber steht die Arbeit im Wahlkreis, die anders läuft. Dort geht es um ihn als Person, als Politiker und Vertreter der Menschen, die ihn gewählt haben und ihre Sorgen loswerden möchten – nicht so sehr um fachpolitische Fragen. Es sei nicht leicht, diese beiden Rollen im Einklang zu bringen, sagt er, beschweren wolle er sich aber auch nicht: „Es ist ein großes Privileg, diese Region in Berlin vertreten zu dürfen.“

„Die direkten Gespräche liegen mir am Herzen“

Ganz leicht ist es dem jungen Gymnasiallehrer nicht gefallen, sich erst einmal von seinen Schülern zu verabschieden. „Ich war total gerne Lehrer. Gefühlt bin ich es noch und werde es vielleicht auch immer bleiben.“ Deshalb müsse er sich im neuen Job noch einfinden. 100 Tage hatte er dazu schon Zeit, wobei er viele „gigantische Einrücke“ sammeln konnte. Wenn man den großen Plenarsaal betrete, die blauen Stühle sehe, die man sonst nur aus dem Fernsehen kennt, dann realisiere man, dass man Teil des Ganzen ist. „Das ist ein krasses Privileg, und ich glaube da erlangt man keine Routine“, sagt Döring – zumal es dort um Entscheidungen gehe, die enorme Auswirkungen auf die Menschen haben.

Irak-Einsatz: Mulmiges Gefühl bei der bisher wichtigsten Entscheidung

So wie die Entscheidung, den Irak-Einsatz der Bundeswehr zu verlängern – die für Döring wohl wichtigste Entscheidung, die er bisher mitbestimmen durfte. In der Sache sei die Entscheidung für ihn klar gewesen, erzählt er. Dennoch habe er ein mulmiges Gefühl gehabt bei der namentlichen Abstimmung. „Das bedeutet dann in der Konsequenz, dass deutsche Soldatinnen und Soldaten weiter im Ausland bleiben, unter Einsatz ihres Lebens“, sagt Döring, der sich für die Verlängerung ausgesprochen hat.

Auch im Studierendenparlament der Justus-Liebig-Universität oder im Gießener Stadtparlament habe er Entscheidungen treffen und Position beziehen müssen, doch die Tragweite im Bundestag sei da nochmal völlig anders. „Das war ein großes Gefühl von Verantwortung. Aber in dem Moment, in dem ich gesagt habe, ich kandidiere für den Deutschen Bundestag, habe ich mich auch um genau diese Verantwortung beworben und muss sie deswegen jetzt tragen.“

Eine ebenso große Tragweite hat die Entscheidung über eine mögliche Impfpflicht, eines der wohl prägendsten Themen dieser Tage. Die Entscheidung falle ihm nicht leicht, noch sei er am Ende seines Entscheidungs-Findungsprozesses, dennoch befürwortet er eine Impfpflicht ab 18 Jahren. Es gebe viele Informationsveranstaltungen, die er besuche und bei denen er immer wieder ein bisschen mehr lerne.

Felix Döring im Sommer auf Wahlkampf-Tour zu Besuch bei der Alsfelder SPD. Foto: archiv/akr

„Es ist natürlich völlig legitim, da eine andere Auffassung zu vertreten und es gibt auch ganz viele Fragen, die noch ungeklärt sind, auch für mich“, sagt er. Deshalb sei es wichtig, dass die Diskussion mit Wertschätzung und Respekt des Gegenübers geführt werde. Daher ärgere es ihn, dass Menschen montags spazieren gehen und Hygiene-Regeln bewusst missachten – und umso mehr störe es ihn, dass eine Partei aus dem Parlament diesen Protest instrumentalisiere, um die Demokratie anzugreifen und die Gesellschaft zu destabilisieren. „Dem müssen wir uns als aufrechte Demokratinnen und Demokraten ganz klar entgegenstellen.“

Regionen mit Windkraft-Potential in der Verantwortung

Eine Mammutaufgabe sei auch der Kampf gegen den Klimawandel, der auch konkret auf den Vogelsberg zukomme – in Form von weiteren Windrädern. Der Vogelsberg nämlich ist nach Ansicht Dörings besonders geeignet für weitere Windräder. „Wir wollen den Anteil von erneuerbaren Energien ganz massiv steigern in den nächsten Jahren. Und das bedeutet natürlich, dass Regionen, in denen das aufgrund der Windverhältnisse Sinn macht, noch stärker berücksichtigen werden.“

Eine Zielgröße von zwei Prozent der Landesfläche sollen, geht es nach dem neuen Koalitionsvertrag, mit regenerativen Energien ausgestattet werden. Das könne dazu führen, dass der Blick in die Landschaft für den ein oder anderen „nicht mehr so toll ist“, doch die Kommunen vor Ort sollen dadurch profitieren.

Planungsverfahren müssten beschleunigt werden, Förderprogramme müssten leichter zugänglich gemacht werden – vereinfacht gesagt: Bürokratie soll abgebaut werden. Kommunen, die sich für die Energiewende einsetzen, sollten seiner Meinung nach auch davon wirtschaftlich profitieren, beispielsweise durch Gewerbesteuereinnahmen. Die Kommunen seien „auch aufgrund der Politik der CDU-geführten Landesregierung seit Jahren am Ausbluten“, ein Windpark könne durch Gewerbesteuereinnahmen dafür sorgen, dass beispielsweise ein kommunales Schwimmbad finanziert werde.

Aber es wird niemals so funktionieren können, dass wir es allen recht machen. Auch das ist eine Wahrheit, die ich auszusprechen bereit bin.Felix Döring

„Das ist eine enorme Kraftanstrengung und ich sehe da die Regionen unseres Landes, bei denen das gut möglich ist, ein Stück weit in der Verantwortung. Da werden wir nicht drum herumkommen. Der Vogelsberg ist eine solche Region“, sagt Döring. Auch wenn hier bereits mehr Energie produziert als verbraucht werde, gebe es Potential, denn es ergebe keinen Sinn dort Windräder aufzustellen, wo kein Wind wehe. Bedenken aus der Bevölkerung könne er nachvollziehen, deshalb müsse man einen Diskurs mit der Bevölkerung führen und die Menschen mitnehmen. „Aber es wird niemals so funktionieren können, dass wir es allen recht machen. Auch das ist eine Wahrheit, die ich auszusprechen bereit bin“, sagt er.

Merklich sei das konkret vor Ort in Alsfeld, wenn man die Diskussionen rund um das Industriegebiet Weißer Weg verfolge. „Ich glaube, dass es zunächst mal wichtig ist, an dieser Planung festzuhalten. Unter anderem auch, weil es Arbeitsplätze in die Region holt“, positioniert sich Döring. Im Umkehrschluss bedeute das, dass weniger Menschen pendeln müssten und dieser Effekt würde sich wiederum positiv auf die Umwelt auswirken. Dennoch müssten solche Industriegebiete mit dem größtmöglichen Klima- und Umweltschutz geplant werden.

„Der Koalitionsvertrag ist gut für unsere Region!“

Und auch wenn Döring selbst für die A49 gestimmt hätte, hätte er dabei etwas mitentscheiden können – „der Großteil der Stecke war schon gebaut und es handelt sich nur um einen kleinen Abschnitt zur Fertigstellung“, argumentiert er – glaubt der 30-Jährige, dass man in Zukunft „ganz massiv darauf setzen muss, dass wir Verkehr klimafreundlicher organisieren, beispielsweise indem wir ihn verstärkt auf die Schiene verlagern“.

Auch die restlichen Tage der noch jungen Legislaturperiode wolle er sich dafür und für die Region im Bundestag einsetzen.

2 Gedanken zu “Vom Lehrer zum Bundestagsabgeordneten in 100 Tagen

  1. Vielen Dank für diesen Einblick in die Seele eines jungen, aufstrebenden Politikers. Es bestätigt sich, was man schon vorher dachte: Egoismus ist die Triebfeder, nicht das Wohlergehen des Wahlvolkes, sonst wäre er ja auch Lehrer geblieben und hätte sich um seine Schüler gekümmert. In Zeiten des Lehrermangels allemal. Stattdessen wird dem allgemeinen Konsens der Regierung und besonders dem des Energieministers hinterher gelaufen, koste es was es wolle, auch im eigenen Wahlkreis. Ich höre nichts von den dringenden Problemen, der massiven Grundwasserentnahme durch das Rhein-Main-Gebiet, dem fehlenden ÖPNV, der Digitalisierung. Das was unsere Region ausgemacht hat, zusammenhängende Waldgebiete, Wasserreichtum, Artenvielfalt, ganz einfach Lebensqualität wird geopfert für Versprechungen von, von was Überhaupt. Schwimmbäder durch höhere Gewerbesteuereinnahmen, die klammen Kommunen haben wirklich andere Probleme. Bei der Reform der Grundsteuer könnten die Regionen mit vielen Windrädern einen Bonus bekommen, da die Windräder die Immobilienpreise drücken. Es bleibt aber beim Profit von wenigen. Wir haben im Vogelsberg keine niedrigen Wasser oder Energiekosten, wir bezahlen das Gleiche, oder mehr wie in Frankfurt. Wir haben kaum die Möglichkeit ohne eigenes Fahrzeug von A nach B zu kommen. Wenn unsere Kinder ein eigenes Auto haben, müssen sie sich bei diesen Benzinpreisen gut überlegen, ob sie einfach mal Freunde in einem anderen Ort besuchen. Was haben sie für Alternativen. Das Land, unsere Region wird immer mehr von der Stadt abgehängt, was will unser Abgeordneter dagegen tun, ausser noch mehr Windräder in den Vogelsberg zu stellen? Eine Stärkung der Region kann ich leider nicht erkennen. Die Energiewende ist das oberste Ziel, dem sich alles andere Unterordnen muss. Wir werden sehen wohin das führt. Bis jetzt führt es zu einer gewaltigen Ungerechtigkeit und die SPD war für mich eine Partei, die sich Gerechtigkeit auf die Fahne geschrieben hat.

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    1. „Er sorgte für eine der größten Überraschungen bei der Bundestagswahl im vergangenen September.“ Falsch! D-E-R sorgte für überhaupt nichts. Die Union hat sich ihr eigenes Grab gegraben. Die Überraschung war, dass man in Unionskreisen so maßlos blöd sein kann, einen soliden Stimmenvorsprung zu vergeigen. Und hinterher waren dann alle nur „ein bisschen blöd“, um im Chor der Schuldbewussten nicht so heraus zu stechen, dass man am Ende noch die Verantwortung für die Wahlniederlage in die Schuhe geschoben bekommen hätte. Letztlich entscheiden „Konstellationen“. Da reicht schon eine Naturkatastrophe zur rechten Zeit. Hochwasserwahlkampf 2002: Schröder gewinnt mit Ostfriesennerz und Gummistiefeln (https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/hochwasser-wahlkampf-kanzler-schroeder-gummistiefelt-durch-grimma-100.html). Hochwasserwahlkampf 2021: Blöde feixender Laschet im Konfirmationsanzug verliert. So einfach ist das.
      Dass Herr Döring uns die Welt erklärt, wie eben ein Vollkostümanimateur und Grundschullehrer die Welt sieht, ist nicht weiter verwunderlich. Mahatma Gaudi, Mahatma Scheiße am Schuh. So lange es gut läuft, sonnt man sich im Erfolg. Doch wie die Umstände sich entwickeln, steht die Ampel doch schon windschief im Sturm. Die Ukrainer zittern, die Hungrigen Hungern, die Armen zahlen die Energiewende und die Inflation, die „Sozialleistungen“ des Staates reichen mal wieder vorn und hinten nicht. Dasselbe gilt für alle Bereiche der staatlichen Aufsicht, wo sie nötig wäre, aber nicht ausgeübt wird. Und bei der nächsten Überschwemmung werden wieder Leute absaufen und Hab und Gut verlieren, die Steuerhinterzieher werden ihr Schäfchen ins Trockne bringen. Die Reichen werden am Ende wieder noch reicher und die Armen noch ärmer sein. Und wir alle werden nach der Legislatur vier Jahre älter sein und werden Felix Döring in Pandemiewelle 13 wieder wählen, weil es nicht noch schlimmer gekommen ist als in der letzten Legislatur, kein Weltkrieg ausgebrochen ist oder es noch mehr geregnet hat.

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