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Podiumsdiskussion der Mittelstands- und Wirtschaftsunion Vogelsberg„Da sind Betriebe, die sind am Ende“

ALSFELD (ls). Pandemie, fehlendes Personal, Materialmangel und jetzt auch noch hohe Kosten für Gas und Strom. Kurzum: Die Stimmung beim Vogelsberger Mittelstand ist katastrophal. Ob im kommenden Jahr noch geöffnet werden kann, bleibt ungewiss. Kreishandwerksmeister Giese und Ovag-Chef Veith appellieren unterdessen zur mehr Zuversicht.

„Da sind Betriebe, die sind am Ende. Das führt bis zum Suizid“: Es sind drastische und klare Worte, die der Herbsteiner Zimmermann Clemens Schneider findet. Es ist nicht nur die Energiekrise, die dem Mittelstand zusetzt. Es sind der Mangel an Material, fehlende Fachkräfte, Lieferverzögerungen und hohe Materialpreise. Seit zwei Jahren geht das so im Handwerk. Mit der Energiekrise, würden die Betriebe einmal mehr ums Überleben kämpfen.

Dass viele Betriebe durch die steigenden Energiepreise noch stärker in Not geraten und mitunter in ihrer Existenz bedroht sind, zeichnete sich in den letzten Wochen auch in Alsfeld ab. In vielen Unternehmen herrschen große Unsicherheit und Zukunftsangst. Aus diesem Grund hatte die Mittelstands- und Wirtschaftsunion Vogelsberg (MIT) rund 35 Gäste aus dem ganzen Vogelsberg zu einer Podiumsdiskussion eingeladen – mit Alsfelds Bürgermeister Stephan Paule, Wirtschaftsförderer Uwe Eifert, Kreishandwerksmeister Edwin Giese und Ovag-Vorstand Oswin Veith. So viel vorab: An Kritik gegenüber der Bundesregierung wurde nicht gespart.

Rund 35 Gäste aus dem ganzen Vogelsberg sind zur Podiumsdiskussion gekommen. Alle Fotos: ls

Ziel: Ein Zeichen setzen

„Die aktuelle Lage lässt uns so zusammenkommen, um gemeinsam ein Zeichen zu setzen. Ein Zeichen zu setzen, dass der Vogelsberg das nicht akzeptiert und nicht akzeptieren kann“, erklärt MIT-Vorsitzender und CDU-Stadtverordneter Martin Giese, der die Moderation des Abends übernahm. Schon zur Pressekonferenz in der vergangenen Woche hatte Giese erklärt, dass einige Betriebe im Kreis kurz vor der Insolvenz stehen würden. Nicht allein sei die Energiekrise dafür verantwortlich, aber sie verstärke die ohnehin schwierige Situation.

Vogelsberger Unternehmer warnen vor Insolvenzwelle

Vor allem Bäckereien treffe die Energiekrise hart, wenn auch die Kreishandwerkerschaft breit aufgestellt ist, erklärte Kreishandwerksmeister Edwin Giese. Knapp 1.500 Betriebe teilen sich auf in zwölf Innungen mit immerhin 7.000 Beschäftigten – vom Tischler, über den Metallbauer, bis zum Friseur. „Die Betriebe werden vor eine riesige Hürde gestellt, die sie bewältigen müssen“, sagt Giese. Doch noch immer seien sie durch die Corona-Krise gebeutelt und auch der Personalmangel sei immer noch zu bewältigen.

Die Auftragsbücher seien voll, doch viele Aufträge müssten durch fehlendes Personal abgesagt werden, dringend benötigte Rücklagen können so nicht angelegt werden, um die nächste Krise zu bewältigen. Während die einen resignieren und entweder tageweise oder komplett schließen, seien wieder andere aufgebracht und würden nach Lösungen suchen. Das sei eine Reaktion, die er sich wünsche, doch der Mensch brauche eine Perspektive, fordert Giese und appelliert an die Betriebe, nicht alles schwarz zu sehen, sondern zuversichtlich zu sein.

Alsfelds Wirtschaftsförderer Uwe Eifert war die Tage zuvor in der Stadt unterwegs und fragte bei den Betrieben nach den Auswirkungen der Krise.

Der kritischen Lage ein Gesicht geben

Wie katastrophal die Lage der Unternehmen wirklich ist, macht Wirtschaftsförderer Uwe Eifert anhand einer Umfrage in Alsfeld konkret – um der ganzen Lage „ein Gesicht geben zu können“, wie er erklärt. Einen mittelgroßem Einzelhändler wurde der Gasvertrag gekündigt, im neuen Vertrag hat sich der Preis vervierfacht. Für Strom und Gas müsste der Einzelhändler jährlich 15.000 Euro mehr zahlen. „Da kann man sich fragen, wie das funktionieren soll“, sagt Eifert. In einem Hotel in der Region wird selbst die Heizung mit Strom betrieben. Für das kommende Jahr rechnet man nach der Preiserhöhung mit einer zusätzlichen Belastung von 42.000 Euro. Um das zu kompensieren zu können, müssten 420 Übernachtungen mehr verzeichnet werden.

Bei einem kleineren Großhandelsgeschäft wären es 12.000 Euro Mehrkosten allein für Strom, 18.000 Euro sind es bei einem Kfz-Betrieb in der Stadt und 20.000 Euro Mehrkosten für Strom sind es bei einem kleineren Logistiker, ein Bäcker prognostiziert 20.000 Euro Mehrkosten für Gas. Diese Kosten könne ein Bäcker kaum auf die Kunden umlegen und ohnehin hätten viele Unternehmen durch Corona keine oder nur wenig Rücklagen – einige von ihnen hätten die schon angezapft.

„Das sind nicht die alleinigen Auswirkungen“, erklärt der Wirtschaftsförderer. Die Inflation verstärke den Effekt und wirke sich auf das Konsumverhalten der Kunden aus, wodurch konkrete Bestellungen storniert werden, einige Läden schließen bereits an einzelnen Tagen. „Alsfeld ist als Kleinstadt fast ausschließlich von Mittelstand geprägt. Alle sind von einer großen Verunsicherung geprägt“, sagt auch Alsfelds Bürgermeister Stephan Paule. Man wisse nicht mehr, was man glauben könne und noch immer gebe es keine Perspektive für den Mittelstand, dem zwar eine Lösung für die hohen Preise versprochen, aber noch immer nichts konkret zugesagt wurde, so der Bürgermeister.

Der wohl meistgefragteste Kandidat der Podiumsdiskussion war Ovag-Chef Oswin Veith. Auch Kritik für liegen gebliebene PV-Genehmigungen musste er einstecken. So ist die gesamte Anlage bei einem Alsfelder Logistiker bereits fertig, doch kann nicht genutzt werden, weil sie von der Ovag noch nicht freigeschaltet wurde.

Diskussionen über kalte Büros für Verwaltungsmitarbeiter oder weniger Lichter beim Weihnachtsmarkt würden der Ernsthaftigkeit des Situation nicht gerecht werden. Eine Situation, in der Insolvenzen drohen, in der Notfallpläne gemacht werden, um für mögliche Gas- und Stromausfälle gewappnet zu sein.

Veith: Energiekrise ist ein Energiekrieg gegen Europa

Dass es den Mittelstand besonders trifft, und dieser nun einmal die Stütze der Gesellschaft ist, das macht auch Ovag-Chef Oswin Veith deutlich. Wenn es zu Insolvenzen kommt und die den Mittelstand treffen, dann sei es schlecht gestellt um dieses Land. Die Lage, das merke man jeden Tag deutlicher, sei in ganz Europa alles andere als rosig. Viel drastischer formulierte er es sogar noch: Man befinde sich in einem Energiekrieg, den Putin gegen Europa führe. Energiekrise sei zu verharmlosend. Jetzt merke das Land, wie abhängig es von Energie ist, obwohl es doch viel unabhängiger hätte sein können. Um so herausfordernder seien die Zeiten jetzt.

„Finanzkrise, Schuldenkrise, Coronakrise und jetzt Energiekrise. Alle sind im Krisenmodus und reden von Krisen. Ich möchte ein Stück dazu beitragen, dass alle trotz der Problemlage die Zuversicht nicht verlieren, die dieses Land jetzt braucht“, sagt Veith. Die Ovag könne und wolle niemanden im Stich lassen, das habe das Unternehmen auch die letzten 110 Jahre nie getan. Dazu gehöre auch, dass die Politik Zuversicht ausstrahle und eben diese verbreite, wiederholt Veith Gieses Appell. „Diese Angstmacherei ist teuflisch.“

Alsfelds Bürgermeister Stephan Paule erklärte seine Sicht auf die Lage als Vermieter und sparte nicht an Kritik über die Bürokratie, die den privaten Ausbau erneuerbarer Energien fast unmöglich mache.

Derzeit sei man als regionaler Energieversorger noch gut aufgestellt, doch ringe das Unternehmen auch um die benötigten Mengen und erhalte die nur zu deutlich höheren Preisniveaus, die dann auch die Kunden zu spüren bekommen.

Genau hier liegt aber eines der enormsten Probleme: Die Inflation und der zurückgehende Konsum, weil die Menschen selbst sparen, verschärften die Lage. Um überhaupt noch Einnahmen zu haben, können die Preise nicht komplett auf die Kunden umgelegt werden, erklärt der Herbsteiner Clemens Schneider aus dem Publikum. „Selbst wenn sie es bezahlen können: Wie sollen die Betriebe es an die Kunden weitergeben, die auch einen schmalen Geldbeutel haben?“, fragt er. Die Betriebe bleiben auf den Kosten sitzen, die sie in den Ruin treiben.

Strompreis ist an Markt gebunden

Der Strompreis von Schreiner Kai Rodemer aus Wartenberg wird sich im nächsten Jahr verdreifachen, wie er am Abend erzählt. „Wenn das so bleibt, habe ich im nächsten Jahr 30.000 Euro mehr an der Backe“, sagt er. Ob es sich für ihn lohnt, am 1. Januar überhaupt noch zu öffnen, weiß der Schreiner nicht.

Kreishandwerksmeister Edwin Giese appellierte zur Zuversicht, denn die werde in einer solchen Situation mehr denn je gebraucht.

Mit den Preisen sei man allerdings an den Markt gebunden, erklärt Veith. Der Strompreis richte sich nach der Börse und auch mit der Inflation müsse man noch ein paar Jahre leben. Die Strompreise seien auf dem Markt explodiert, die Ovag sei zwar durch Anteile an Windkraftanlagen ein Stück weit unabhängig, aber eben nicht völlig. Sobald etwas in der Ukraine passiere, würden die Preise steigen. In Sachen Gas gab er hoffnungsvollere Nachrichten: Die Gasspeicher seien zu 95 Prozent gefüllt. Mit den erwarteten Einsparungen könne man durch den Winter kommen. Wie es im nächsten jahr weitergeht, ist unklar.

Darauf macht auch VR-Bank-Chef Helmut Euler aufmerksam, denn selbst wenn der Krieg in der Ukraine im kommenden Jahr ende, würde die Energieversorgungslage unverändert bleiben, weil trotzdem nicht mehr Energie von Russland nach Europa fließen würde. „Wir müssen uns auf diese Situation langfristig einstellen“, sagt er. Um so wichtiger sei der Wettlauf mit der Zeit um den Ausbau der erneuerbaren Energien.

Agraringenieur Reinhard Bambey fragte, ob es nicht möglich sei, die Berechnung des Strompreises zu ändern. Dazu erklärte er, dass der Preis durch das teuerste Kraftwerk bestimmt werde, dem Gaskraftwerk. Bambey brachte die Atomkraftwerke als Alternative ins Spiel. Veith erklärte, dass AKW durch die Flüsse gekühlt werden und diese durch die Trockenheit zu wenig Wasser hätten.

Da gab ihm Stephan Paule recht, kritisierte allerdings die bürokratischen Hürden, die einer schnellen Umsetzung – auch und vor allem im privaten Bereich – im Wege stehen, sowohl bei Photovoltaik auf dem Privatdach, Baugenehmigungen von Freiflächenphotovoltaik auf landwirtschaftlichen Flächen, als auch bei langwierigen Genehmigungsverfahren für Windräder, die am Ende vor Gericht wegen Nester vom Rotmilan scheitern.

Kurt Wiegel merkte an, dass zwar jeder erneuerbare Energien will, aber niemand Windräder oder Photovoltaikanlagen vor der eigenen Haustür. Auch da müsse sich etwas tun.

Kurzfristig, so waren sich einige Teilnehmer einig, sei Atomkraft unverzichtbar, man dürfte die Anlagen nicht ausschalten in dieser Krise. „Seit acht Wochen haben wir das Chaos. 20 Jahre vorher hat es niemand gemerkt. Das ist das Problem“, sagte ein Gast. Man müsse jetzt schauen wie man durchkomme, auch wenn Atomkraft durchaus bedenklich sei, sei man nicht in der Lage zu sagen, dass man sie nicht will. „Wir brauchen bezahlbare Energie“, lautete die Schlussfolgerung des Abends.

2 Gedanken zu “„Da sind Betriebe, die sind am Ende“

  1. Fachkräftemangel? Wer nur 1 Euro über Mindestlohn zahlt, sollte auch keine beschäftigen!

    Mein Heizölpreis hat sich fast verdreifacht von 2300 auf 6600€
    Was sollen da die 300€ vom Staat!
    Ich fahre 3500 km im Monat, das waren vor Kurzem noch gut 220 Euro, jetzt sind es 400€.

    In der Coronakrise gab es eine Homeofficepflicht für alle, bei denen es möglich war! Warum nicht jetzt? CO Ausstoß würde reduziert, weniger Spritverbrauch, Einsparung für die Privatperson wäre mehr als jede schlecht verhandelte Gehaltserhöhung. Firmen müssten weniger Bürofläche heizen, weniger Wasserverbrauch, weniger Strom etc.

    Unsere Unternehmen haben keine Rücklagen? Wir Bürger müssen die Mehrkosten doch auch finanzieren!

    Mehrwertsteuer um 10 % senken würde aktuell viel helfen!
    Steuersatz für alle Einkommen senken!

    Schuldenbremse muss weg, die führt aktuell nicht zum gewünschten Ziel!
    Die öffentliche Hand muss investieren, um die Wirtschaft am Leben zu halten!

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  2. Ihr habt gut Reden nicht nur dem Mittelstand auch dem Arbeiter geht die Luft aus. Die Politik hat mit Russland einen großen Fehler gemacht, man konnte das vorher sehen oder habt ihr geglaubt Russland geht in die Knie. Alle haben gut Reden haben noch keine Geldsorgen gehabt was soll ein Arbeiter machen wenn er die Miete, Wasser und Energie und das Essen von seinem Lohn nicht bezahlen kann die Kinder können von der Freiheit nicht Leben.

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