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Elias kam im RTW zur Welt – Notfallmediziner kritisiert Schließung der GeburtenstationWenn der Rettungswagen zum Kreißsaal wird

NIEDER-OHMEN (ls). Irina Nöldner ist stolze Mutter. Zwei Kinder hat die junge Frau auf die Welt gebracht. Etwas über ein Jahr ist die Geburt ihres zweiten Kindes, Sohn Elias, jetzt her. Gerne erinnert sich Irina Nöldner daran nicht zurück. Was nämlich anfangs wie Routine wirkte, wurde alles andere als eine normale Geburt. Wenn der Rettungswagen zum Kreißsaal wird und die Notfallsanitäter zu Geburtshelfern: Eine Geschichte über Unsicherheiten, bange Minuten und eine ungewöhnliche Geburt.

Die Sonne scheint an diesem Morgen. Wieder einer dieser heißen Sommertage. Noch aber wirft das Ziegeldach einen kühlenden Schatten in den Vorgarten des kleinen Hauses in der Mitte von Nieder-Ohmen. Ein kleines Planschbecken steht auf dem Rasenabschnitt links der Haustür, eine Wasserspritzpistole liegt daneben. Aus dem offenen Fenster dringt ein glückliches Kinderlachen.

In dem kleinen Haus im Mücker Gemeindeteil wohnt Irina Nöldner mit ihren beiden Kindern Aliana und Elias und Ehemann Marco. Erst vor etwas über einem Jahr ist die 29-Jährige von Alsfeld nach Nieder-Ohmen zu Ehemann Marco gezogen. Damals, als sie hoch schwanger war und näher an ein Krankenhaus ziehen wollte. Zu groß waren die Befürchtungen, es von Alsfeld aus nicht rechtzeitig zu einem Krankenhaus mit Geburtenstation zu schaffen. Vater Marco wohnte damals nämlich bereits in Nieder-Ohmen, und hätte erst nach Alsfeld kommen müssen.

Umzug, um näher am Krankenhaus zu sein

Eine junge Familie, die sich Sorgen macht, es in Alsfeld bei einer Geburt nicht schnell genug in ein dafür ausgestattetes Krankenhaus zu schaffen. Das wäre bis vor einiger Zeit undenkbar gewesen. Genauer gesagt bis zum 31. Dezember 2016. Denn bis zu diesem Tag gab es die Geburtenstation im Alsfelder Kreiskrankenhaus. Es war die letzte im Vogelsberg. Seit sie geschlossen wurde, erblicken Vogelsberger Kinder in den umliegenden Landkreisen das Licht der Welt – und Eltern wie Irina und Marco müssen umplanen.

„Wir haben also damals darüber gesprochen, wie wir es machen wollen, sobald die Wehen einsetzen. Letztendlich haben wir uns dazu entschieden, dass ich nach Nieder-Ohmen ziehe, da wir von hier aus schneller in Lich im nächsten Krankenhaus sind“, erzählt die junge Mutter und blickt unsicher zu ihrem Mann. Vater Marco nickt zustimmend, während er seinen Sohn auf seinen Schoß setzt. Von Nieder-Ohmen nach Lich sind es rund 30 Kilometer, für die man etwa 25 bis 30 Minuten auf der Autobahn oder auf der Landstraße braucht. Ähnlich von Distanz und Dauer der Fahrzeit von Alsfeld nach Schwalmstadt, wo die nächste Geburtenstation wäre.

Irina Nöldner und ihr Mann Marco Nöldner im Gespräch mit Ol-Redakteurin Luisa Stock. Foto: tsz

Das haben die Eltern getestet. Vor der Geburt sind sie die Strecken probeweise einige Male abgefahren. Doch bevor es in Richtung Schwalmstadt hätte gehen können, hätte Vater Marco zunächst von Nieder-Ohmen nach Alsfeld zu Mutter Irina gemusst. Eine Strecke von nochmals 25 Kilometern, nochmals rund 25 Minuten zusätzliche Zeit. „Natürlich wollte ich, dass Marco von der ersten Minute an mit dabei ist. So stellt man es sich einfach vor“, sagt Irina schulterzuckend. Gerne hätte Irina ihren Sohn, wie bereits ihre Tochter, im Alsfelder Krankenhaus bekommen. Doch das ist ja nicht mehr möglich.

Mehr Entbindungen und Geburten im Krankenwagen in 2017

Kritiker der Schließung der Alsfelder Geburtenstation befürchteten schon 2016 eine Mehrbelastung des Rettungsdienstes – und das hat sich bewahrheitet. Eine Anfrage beim Landkreis vor wenigen Wochen ergab tatsächlich eine Steigerung dieser Einsätze für das Jahr 2017 – wenn auch nur im geringen Maße.

Eine Sprecherin des Vogelsbergkreises gab dabei an, dass der Rettungsdienst in 2017 – dem ersten Jahr ohne Geburtenstation – bei 117 Entbindungen und sechs Geburten zur Hilfe gerufen wurde. Sechs Vogelsberger Babys kamen also im Rettungswagen oder noch Zuhause zur Welt – wo genau die Geburt erfolgt, wird statistisch nicht erfasst. Als Hilfe bei Entbindungen zählen der Definition des Kreises nach die Fälle, bei denen lediglich die Wehen bereits eingesetzt haben.

Im Vergleich: Im Vorjahr rückte der Rettungsdienst zu 107 Entbindungen aus und zwei Kinder wurden mit Hilfe des Rettungsdienstes geboren. Eine Steigerung bei der Entbindungshilfe von 9,3 Prozent. Für die Sprecherin des Kreises war diese Steigerung, wie sie damals erklärte, allerdings nicht sicher auf die Schließung der Alsfelder Geburtenstation zurückzuführen.

Mit Wehen wieder nach Hause geschickt

Auch Irina Nöldners Sohn Elias kam im letzten Jahr im Rettungswagen auf die Welt – direkt vor der Haustür in Nieder-Ohmen. „Als die Wehen einsetzten, haben wir uns rechtzeitig ins Auto gesetzt und sind direkt nach Lich ins Krankenhaus gefahren“, sagt die 29-Jährige. Doch die Wehen waren noch nicht stark genug und der Muttermund noch nicht weit genug geöffnet. Irina Nöldner und ihr Mann Marco wurden weggeschickt. Also fuhren sie zurück nach Hause. Als die Wehen schlimmer wurden, machten sie sich erneut auf den Weg nach Lich. Dort angekommen, wurden sie wieder abgewiesen. „Immer noch war der Muttermund nicht weit genug geöffnet, also fuhren wir zum zweiten Mal zurück nach Nieder-Ohmen“, sagt Marco Nöldner.

Es war ein schlimmes Gefühl vor dem Wagen zu stehen und nicht zu wissen, wie es meiner Frau und meinem Kind geht.Marco Nöldner

Rückblickend bereut er die Entscheidung, sagt er kopfschüttelnd. Kaum Zuhause angekommen, bekam die junge Mutter starke Presswehen. Eigentlich wollten sie direkt wieder losfahren, doch die Wehen waren so stark, dass Irina Nöldner nicht mehr eigenständig laufen konnte. Vater Marco rief einen Rettungswagen. Danach ist alles sehr schnell gegangen: Der Wagen kam, die damals werdende Mutter wurde eingeladen und hatte weiter starke Wehen.

Vater Marco konnte seiner Frau nicht beistehen, in den Rettungswagen durfte er nicht mit rein. „Es war ein schlimmes Gefühl vor dem Wagen zu stehen und nicht zu wissen, wie es meiner Frau und meinem Kind geht. Nicht zu wissen, was da drin, so direkt vor der eigenen Haustür, passiert“.

Auf den Stufen vor der Haustür nahm er Platz und bekam von der Aufregung im Rettungswagen nicht viel mit. Seine Frau Irina dafür umso mehr. Im Rettungswagen selbst dauerte es nur knapp zwei Wehen, bis Söhnchen Elias auf der Welt war – und das nicht ohne Komplikationen. Die Nabelschnur wickelte sich um den Hals des Kleinen. Bange Minuten begannen. „Das war sicherlich keine alltägliche Situation für die Notfallsanitäter. Ich hatte das Gefühl, dass sie sehr aufgeregt waren, vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil ich selbst sehr aufgeregt war. Ich fühlte mich in diesem Moment einfach hilflos. Marco stand vor dem Wagen, drin herrschte Hektik und niemand erklärte mir, was gerade los ist“, erinnert sich die junge Mutter.

Noch in diesem Jahr erwartet die 29-Jährige ihr drittes Kind.

Auch der Schrei des Neugeborenen kurz nach der Geburt blieb aus. Rückblickend sei es einer der schlimmsten Momente im Leben der 29-Jährigen gewesen, schildert Irina den Moment, der doch eigentlich zu den schönsten im Leben einer Mutter zählen sollte. Angst überkam sie. Die Hektik, das Hin und Her, das Chaos – es war alles so anders als die ruhige und wohlbehütete Geburt in einem Kreißsaal, die sie sich gewünscht hatte.

Notfallmediziner: „Eine Geburt ist immer ein Risiko“

„Ich sehe genau in solchen Situationen ein großes Problem“, sagt der Notfallmediziner Falk Stirkat. Noch bis vor knapp einem Jahr praktizierte der Mediziner im Vogelsberg und wurde durch seine medizinischen Bücher überregional bekannt. Außerdem betreibt er einen Blog mit Erste-Hilfe Videos auf Instagram. Für die statistischen Zahlen des Kreises zeigt er wenig Verständnis, gehe es bei einer Geburt doch immer um eine Einzelfallbetrachtung.

„Eine Geburt ist immer ein Risiko, eine Rettungswagengeburt kann im Zweifel sogar auch sehr gefährlich sein“, führt er aus. Zwar sei ein Rettungswagen auch für eine Geburt ausgestattet und könne für den Notfall genutzt werden, doch sei er für Komplikationen nicht speziell ausgelegt – in einem solchen Fall werde ein Baby-Intensivtransportwagen ausgesendet. Doch der braucht einen Vorlauf von 30 Minuten plus die zusätzliche Anfahrtszeit in den Vogelsbergkreis. Der nächste steht in Marburg.

Schon im letzten Jahr hatte Notfallmediziner Falk Stirkat öffentlich darauf hingewiesen, dass Notfallsanitäter nicht gesondert geschult für solche Vorfälle und im Falle von Geburtskomplikationen auch nicht dafür ausgestattet seien. „Ein Nabelschnurvorfall, bei dem Minuten über Leben und Tod oder Behinderung entscheiden, kann erst nach einer Fahrtzeit von über einer halben Stunde diagnostiziert werden“, sagte Stirkat damals. Zu der Aussage steht er auch heute noch und zeigt sich weiterhin ratlos angesichts der Situation.

Notfallmediziner Falk Stirkat. Foto: ls/archiv

„Ich habe es selbst einmal im Vogelsberg erlebt, wo wir mit dem Rettungswagen zu einer Zwillingsgeburt gerufen wurden. Bei der Mutter setzten in der 20. Woche die Wehen ein. Wir konnten nicht helfen. Die Kinder sind verstorben“, sagt er. Komplikationen gebe es nicht häufig, aber wenn es sie gebe, dann könne es schnell wirklich gefährlich werden. Das Personal auf einem normalen Rettungswagen sei dafür in der Regel nicht ausgebildet, es fehle an den richtigen Gerätschaften. Und das, so sagt er, könne im Zweifel Leben kosten.

Der Mediziner reagiert mit Unverständnis auf die Entscheidung des Kreises, die Geburtenstation in Alsfeld zu schließen. Für die Verantwortlichen im Landratsamt möge das Problem formal gelöst sein, wenn ein Rettungswagen innerhalb der vorgeschriebenen Hilfsfrist von zehn Minuten vor Ort sei, doch in Wirklichkeit reiche das nicht aus. „Es ist meiner Meinung nach unverantwortlich gewesen, die letzte verbleibende Geburtenstation im ganzen Kreis zu schließen, auch wenn die sich nicht rentiert hat. Ich verstehe dabei das Prinzip nicht. Für viele Kleinigkeiten wird Geld ausgegeben und für etwas wirklich Wichtiges bleibt dann nichts mehr übrig“, sagt Stirkat, der selbst die letzten Jahre im Vogelsberg lebte.

Hoffnungen auf eine bessere dritte Geburt

2016 wurde die Geburtenstation geschlossen, mit der Begründung, im Vogelsberg würden zu wenig Babys geboren, als dass sich ein Weiterbetrieb rechne. Demnach hätten es in Alsfeld statt der damaligen 330 Babys insgesamt 800 Geburten im Jahr geben müssen, damit sich die Einrichtung rentierte. Der Kreis als Träger prüfte damals weitere Optionen zum Erhalt, doch schien wenig hoffnungsvoll. Auch die Belegärzte sahen keine Zukunft für eine Station. „Für mich ist das ein eindeutiges Indiz dafür, was die Politik von Ort von ihren Bürgern hält“, sagt Stirkat.

Im Zweifel kann eine Geburt im Rettungswagen ein Leben kosten.Falk Stirkat

Bei Irina Nöldner und ihrem Mann Marco ist bei der Geburt von Söhnchen Elias alles gut gegangen. Ihr Sohn kam im Rettungswagen vor der eigenen Haustür auf die Welt. Dort wartete man auf den Baby-Intensivtransportwagen, der Mutter und Kind nach Lich ins Krankenhaus bringen sollte. „Das finden wir im Nachhinein sehr witzig: Elias ist in Nieder-Ohmen geboren worden, offiziell mussten wir in der Geburtsurkunde allerdings Lich angeben“, lächelt Irina Nöldner.

Der Tag wird ihr trotzdem noch lange Zeit in Erinnerung bleiben. Nochmal, so sagt sie, möchte sie so eine Geburt nicht erleben. Vielleicht aber hat die junge Mutter bald schon bessere Erinnerungen an ihre letzte Entbindung. In ein paar Wochen soll ihr drittes Kind kommen – dieses Mal allerdings, so hofft sie, in einem Kreißsaal, statt in einem Rettungswagen.

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