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Vogelsberger Wintergebiet de facto von Corona-Vorschrift ausgenommen15-Kilometer-Regel: Wie der Kreis die Ausnahme für den Hoherodskopf rechtfertigt 

VOGELSBERG (jal). Im Vogelsbergkreis gilt wie von Bund und Ländern besprochen die 15-Kilometer-Regel im Kampf gegen Corona. Die Regel ist unter dem Eindruck überfüllter Wintergebiete entstanden, doch ausgerechnet für Wintersport und damit den Hoherodskopf gilt die Regelung hier nicht. Wie kann das sein? Der Kreis argumentiert auch mit einer möglichen Stärkung der Abwehrkräfte für Vogelsberger.

Viel Schnee, viele Menschen, wenig Abstand: Es waren die Bilder von ziemlich gut besuchten Winterregionen in Deutschland, welche Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Länderchefs bei ihrer letzten Corona-Runde dazu bewegten, eine Vorschrift im Kampf gegen das Virus zu erlassen, die mittlerweile wohl mit zu den umstrittensten ihrer Art zählt: die 15-Kilometer-Leine, wie sie von manchen Medien genannt wird. In Gebieten mit einer Inzidenz über 200 sollten sich Menschen nur noch 15 Kilometer im Umkreis um die Grenzen ihrer Gemeinden bewegen können.

In Hessen wird die Regel so definiert: Sie gilt “ausschließlich für tagestouristische Ausflüge – Aktivitäten wie etwa Fahrten zum Arbeitsplatz, Arztbesuche oder Einkaufen sind unter Beachtung der allgemeinen Bestimmungen und Empfehlungen weiterhin erlaubt”, wie es von der Staatskanzlei heißt. Die Umsetzung vor Ort und die genaue Ausgestaltung geschieht aber durch eine Allgemeinverfügung des jeweiligen Kreises.

Doch wenn in Hessen schon ausschließlich Tagesausflüge mit der Regel unterbunden werden sollen – wie kommt es dann, dass der Vogelsbergkreis ausgerechnet sein großes Wintergebiet von der Regel ausnimmt, als er die notwendige Allgemeinverfügung erlässt, indem er dort reinschreibt: „Die Wintersportausübung fällt nicht unter den tagestouristischen Ausflug“? Und was ist unter einem „tagestouristischen Ausflug“ dann sonst zu verstehen?

Fragen und Antworten zur 15-Kilometer-Regelung im Vogelsberg

Nachfrage beim hessischen Sozialministerium. “Zu den tagestouristischen Ausflügen zählen alle Unternehmungen, die der Freizeitgestaltung (zum Beispiel Wandern, Spazierengehen, freizeitsportliche Aktivitäten) ohne Übernachtung dienen”, heißt es von dort. Also müssten Ausflüge in ein Wintergebiet wie den Hoherodskopf doch genau diese Definition erfüllen – oder nicht? Das Ministerium antwortet: “Die genaue Definition obliegt der entsprechenden Gebietskörperschaft in ihrer Allgemeinverfügung. Freizeit und Erholung in Wintersportgebieten sind aber unter tagestouristische Ausflüge zu subsumieren.”

Das klingt eigentlich ziemlich eindeutig. Im Lauterbacher Landratsamt sieht man das allerdings anders. Mit den Aussagen des Ministeriums konfrontiert, verweist man dort auf die “Auslegungshinweise zur Verordnung zur Beschränkung sozialer Kontakte und des Betriebs von Einrichtungen und Angeboten aufgrund der Corona-Pandemie” des Landes, mit Stand vom 11. Januar. Daraus werde deutlich, dass Aktivitäten wie Ski-Langlauf sehr wohl weiterhin erlaubt seien.

Und in der Tat heißt es wörtlich in dem Dokument, wie richtig vom Kreis wiedergegeben: „In der Öffentlichkeit können Bürgerinnen und Bürger entweder alleine, mit den Angehörigen des eigenen Hausstandes und maximal einer weiteren, nicht im Haushalt lebenden Person Sport treiben. Das erlaubt es etwa den Familien, sich im öffentlichen Raum zusammen sportlich zu betätigen und eine Radtour zu machen. Es ist damit möglich, im öffentlichen Raum, also auf Wegen, auf Wasserstraßen und öffentlichen Wasserflächen, im Wald oder in Parks, Individualsport zu betreiben, also etwa zu joggen, Rad zu fahren oder zu wandern. Auch zum Beispiel Reiten, Rudern, Segeln, Segelfliegen und Ski-Langlauf im Sinne einer freizeitsportlichen Tätigkeit in der Öffentlichkeit sind unter Einhaltung der sonstigen Kontaktbeschränkungen möglich.“

Das Problem ist nur: Die 15-Kilometer-Regel wird mit keiner Silbe in den Auslegungshinweisen erwähnt. Es finden sich nur Hinweise für die Auslegung der generellen Corona-Regeln im Land, die nicht direkt mit der 15-Kilometer-Regel in Verbindung stehen. Sprich welche Betriebe müssen schließen, welche nicht. Wo darf sich getroffen werden, wo nicht.

„Wir haben uns exakt an diese Weisung gehalten“

Der Landkreis bleibt jedoch auch nach nochmaliger Nachfrage dabei und argumentiert mit der Handreichung, wenn es um die Frage geht, warum er seine Allgemeinverfügung so gestaltet hat, wie er sie gestaltet hat und somit Wintersport von der 15-Kilometer-Regel ausnimmt – obwohl doch gerade überfüllte Wintergebiete mit der neuen Regel vermieden werden sollten.

„Es stimmt, dass die Landkreise die entsprechenden Allgemeinverfügungen bezüglich der 15-Kilometer-Regelungen erlassen. Aber auf Weisung des Landes!“, wird Landrat Manfred Görig in einem Statement der Pressestelle an OL zitiert. „Und wir haben uns exakt an diese Weisung gehalten, nach der Ski-Langlauf eindeutig erlaubt ist.“

Der Erste Kreisbeigeordneter Dr. Jens Mischak sagt dazu: “Wir begrüßen diese Möglichkeit, denn so können wir es unseren Vogelsberger Bürgerinnen und Bürgern weiterhin ermöglichen, Langlauf zu betreiben. Um zu verhindern, dass sich auf dem Hoherodskopf und der Herchenhainer Höhe Massen von Skitouristen tummeln, bleiben allerdings die Zufahrtsstraßen weiterhin zwischen 9 und 16 Uhr gesperrt.“ Für Skitouristen aus weiter entfernt gelegenen Gebieten mit langer Anfahrt sei der Vogelsberg somit kein attraktives Ziel. „Wer allerdings im Vogelsberg wohnt, der kann vor 9 Uhr beziehungsweise nach 16 Uhr noch Sport auf dem Hoherodskopf treiben, und somit seine Abwehr stärken.“ Das habe nichts mit einem touristischen Tagesausflug zu tun.

„Hätten wir auf die Sperrung der Zufahrtsstraßen verzichtet und den Hoherodskopf über die 15-Kilometer-Regelung ausgeklammert, hätten die Vogelsberger ihren Hausberg nicht nutzen können. Aber Schneetouristen aus anderen Kreisen, in denen die Inzidenz unter 200 liegt, hätten sich in Scharen in Richtung Hoher Vogelsberg auf den Weg machen können. Sie hätten dort die schönen Wintertage genießen können, während das der eigenen Bevölkerung verwehrt geblieben wäre“, sagt Görig. „Genau ein solches Szenario will man doch vermeiden, von daher haben wir die Zufahrtsstraßen gesperrt“, ergänzt Mischak.

„Das waren wahre Menschentrauben, die da liefen“

Was das Ministerium zu dieser Argumentation sagt? Mit den Antworten aus dem Kreishaus konfrontiert, gibt man sich in Wiesbaden schmallippig, eine direkte Bewertung der Aussagen erfolgt nicht. “Grundsätzlich ist es so, dass die Corona Kontakt- und Betriebsbeschränkungsverordnung für ganz Hessen gilt. Mit dem Eskalationsstufenkonzept soll erreicht werden, dass in Regionen mit besonders hohen Infektionszahlen regional abgegrenzte schärfere Maßnahmen ergriffen werden. Ziel aller Maßnahmen ist die Beschränkung von Kontakten und damit das Durchbrechen von Infektionsketten.”

Und weiter: “Die jeweilige Gebietskörperschaft kennt die regionale Situation am Besten, daher obliegt ihr die Ausgestaltung des verbindlichen Rahmen des Eskalationsstufenkonzeptes. Dies gilt auch für die Ausgestaltung der Einschränkung des Bewegungsradius. Oberstes Ziel muss jedoch bei allen Maßnahmen die Beschränkung der Kontakte sein.”

Die Beschränkung der Kontakte, auch in wunderschönen und übervollen Wintergebieten: Womit wir wieder beim Anfang wären – und dem Grund, warum diese Regel, so nutzlos sie mancher finden mag, überhaupt ersonnen wurde.

2 Gedanken zu “15-Kilometer-Regel: Wie der Kreis die Ausnahme für den Hoherodskopf rechtfertigt 

  1. Die gute Nachricht zuerst: Zum Arbeitsplatz, Arztbesuch oder Einkaufen kann man immer noch unbegrenzt Kilometer schrubben… Doch alles andere hat sich innerhalb eines 15-Kilometer-Radius zu vollziehen. Insbesondere tagestouristische Ausflüge oder ähnliche Aktivitäten. Das war die schlechte.

    Doch keine Regel ohne Ausnahme! Dafür sorgt das den Kreisverwaltungen eingeräumte Ausgestaltungsrecht, genannt Allgemeinverfügung. Allgemeinverfügung wohl deshalb, weil mit Hilfe dieser auch verfügt werden kann, wann etwas nicht allgemein gilt. Beispiel: Der Wintersport-Hotspot des Vogelsbergkreises. Da sagen sich Hase und Ischgl, äh Igel gute Nacht. Ach nee, es ging mehr so um diesen „Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel“ (siehe Grimms Märchen), wo der arrogante und leistungsgeile Streber-Hase von einem cleveren Igel-Pärchen in Grund und Boden verarscht wird.

    Und so dachte sich wohl auch die Kreisverwaltung: Lieber clever wie Igel/Ischgl statt als Hase mit Arschkarte. Vom Igel lernen, heißt Siegen lernen. Und so erlaubt man den Vogelsbürgern weiterhin den Langlauf im angestammten Vogelsberg. Und nutzt dabei den ziemlich unsportlichen Nachteilsausgleich nach Igelart. Der Trick: Langlauf wird umdefiniert von einer (auch) tagestouristischen Aktivität zur reinen gesundheitsorientierten Maßnahme. Es gehe um Stärkung der Abwehr. Wo man die Abwehr stärkt, hat ja auch das böse Virus per se schon keine Chance. Aber das könnten sich natürlich auch die Bewohner weiter entfernter Regionen denken und massenhaft im Vogelsberg einfallen. Doch von wegen! Einfach mal die listige Vogelsberger Allgemeinverfügung genau lesen. Die Betonung liegt hier nicht auf „Allgemein-„, sondern auf „Abwehr“. Und abgewehrt wird nicht nur das Virus, sondern auch die Invasion ortsfremder Tagestouristen als potentielle Spreader, die sich heimtückisch unter dem Vorwand der beabsichtigten Stärkung ihrer Immunabwehr einschleichen könnten. Und dies mit folgendem Trick: Um solcherlei Migration fern zu halten, macht man einfach eine längere Anreise unattraktiv und sperrt weiterhin die Zufahrtsstraßen zu den Vogelsberger Wintersportparadiesen zwischen 9 und 16 Uhr. Wer in der Nähe wohnt, genießt den Schnee dagegen wenigstens im Morgengrauen und in der Abenddämmerung vor und nach den Sperrzeiten. Der frühe Vogel geht mit den Hühnern zu Bett sozusagen, wenn auch im Gegenzug nicht ohne Stärkung seiner Abwehrkräfte.

    Zurück zu Hase und Igel. Da schlägt sich der Landrat kompromisslos auf die Seite seiner Vogelsberger Igel und plädiert klar zu Gunsten der Hasenpopulation für den Ausgleich igelbedingter Nachteile: „Hätten wir auf die Sperrung der Zufahrtsstraßen verzichtet und den Hoherodskopf über die 15-Kilometer-Regelung ausgeklammert, hätten die Vogelsberger ihren Hausberg nicht nutzen können. Aber Schneetouristen aus anderen Kreisen, in denen die Inzidenz unter 200 liegt, hätten sich in Scharen in Richtung Hoher Vogelsberg auf den Weg machen können. Sie hätten dort die schönen Wintertage genießen können, während das der eigenen Bevölkerung verwehrt geblieben wäre.“ Solche Neiddebatten kann nur ein echter Vogelsberger (Vogelsberger samma, mir san mir) anzetteln, und an jedem Stammtisch dürfte sich zum Dank zustimmendes fremdenfeindliches Gebrüll erheben.

    Bleibt noch das Problem, dass den Vogelsbergern samt ihres eingeborenen Landrats die Feinheiten der deutschen Hochsprache immer fremd geblieben sind. Dies führte häufiger schon in der Vergangenheit zu eigenwilligen Auslegungen einschlägiger Rechtsvorschriften. Wer erinnert sich nicht noch der Einrichtung einer Kreis-Seniorenvertretung unter dem Namen und in Form einer Kommission, die der Regierungspräsident dann prompt untersagte. Reaktion: Man benannte die Kommission in Senioren-Beirat um, ließ es aber ansonsten bei der Kommission. In Nordkorea wird man für sowas erschossen. Im Vogelsbergkreis wird dies als „Originalität“ toleriert und nicht als Insubordination geahndet.

    Und so konnte es kommen, dass OL-Chefredakteur Juri Auel dem Landrat Görig auf die Schliche kam. Und scheitert bei allem Scharfsinn und aller investigativer Recherche doch an der oben beschriebenen Neigung der Vogelsberger Kreiselite zu willkürlicher Auslegung der Gesetzestafeln. Diese bliebt übrigens auf Rückfrage der Redaktion seitens der Landesregierung erstens unkommentiert und zweitens letztlich wohl auch ungestraft. Man beginnt zu ahnen, was dem Bürger blüht, der gegen die kommunalen Statthalter der Macht höherenorts um Beistand fleht. Oder was gemeint ist, wenn die Landesfürsten vom „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ daher schwafeln. Da versteht man einen Michael Kohlhaas und alle seine späteren Nachfahren.

    Zurück zum Einzelfall, der keiner ist: Was nützt der Hinweis auf das oberste Ziel der Kontaktvermeidung durch die 15-Kilometer-Regelung, wenn Ausnahmen zugelassen werden, die die Unterbrechung der Infektionsketten durch Kontaktvermeidung unweigerlich zunichte machen? „Freizeit und Erholung in Wintersportgebieten sind [aber] unter tagestouristische Ausflüge zu subsumieren.“ Das klingt nicht nur „eigentlich ziemlich eindeutig“. Da ist einfach nicht dran zu rütteln. Denkt der, welcher nie Kontakt zu Vogelsbergerger Land und Leuten hatte.

    Nun fluche und suche die Hintertür! Und da tut sie sich auch schon auf: „Die genaue Definition [von tagestouristischen Ausflügen etc.] obliegt der entsprechenden Gebietskörperschaft“. Die allerdings verfährt hierbei nach einer Handreichung, die nicht auf die 15-km-Regelung eingeht und daher eigenwillige Auslegungen von Regeln zulässt („Interpretationshilfen“!!!) und es der Kreisbehörde gleichzeitig erlaubt zu behaupten, man habe sich exakt an die Vorgaben der allerhöchsten Handreichungen gehalten. Feudalismus im Gewand von Demokratie und Rechtsstaat, der die kommunalen Schlitzohren abgehängter Landregionen aufhorchen lassen dürfte. Hört, hört!

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    1. Zurück zu Hase und Igel. Da schlägt sich der Landrat kompromisslos auf die Seite seiner Vogelsberger Igel und plädiert klar zu UNGUNSTEN der Hasenpopulation…

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