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Lesung des Evangelischen Dekanats im Rahmen der Interkulturellen WocheSieben Geschichten, sieben Mal Heimat

ALSFELD (ol). Was alles Heimat sein kann, das haben im vergangenen Jahr 60 Autorinnen und Autoren in der Anthologie „Heimatstimmen“ festgehalten, die die Literaturinitiative Schwalm-Eder herausgegeben hatte. Nun waren sieben von ihnen der Einladung des Evangelischen Dekanats Vogelsberg gefolgt, um ihre Geschichten zum Thema Heimat im Rahmen der Interkulturellen Woche einem größeren Publikum vorzustellen. Die Lesung fand vor wenigen Tagen im Alsfelder Marktcafé statt; an die vierzig Gäste waren gekommen, um den ganz verschiedenen Gedanken zu folgen.

Musikalisch begrüßt und begleitet wurden sie und der Abend von Sascha Reif. Er spielte eigene Kompositionen auf seiner Gitarre – eine Musikauswahl, die gut zu den inspirierenden Vorträgen passte, heißt es in der Pressemitteilung des Evangelischen Dekanats. Als Veranstalter begrüßte Holger Schäddel, Gemeindepädagoge und Diakon im Evangelischen Dekanat die Gäste, eine thematische Einführung gab Mitherausgeberin Heidrun Merk.

Ein großes Anliegen ihrer Initiative sei es gewesen, den Begriff „Heimat“ nicht denen zu überlassen, die Schindluder damit treiben wollten. Lange sei der Begriff nicht salonfähig gewesen, und es sei schön, dass er jetzt wieder da und positiv besetzt sei. Jeder Mensch verbinde ganz verschiedene Assoziationen damit – und genau das stellten die sieben Vorleserinnen und Vorleser, Männer, Frauen, älter, jünger, mit und ohne Migrationsgeschichte, sodann unter Beweis:

Heidrun Merk von der Kulturinitiative Schwalm-Eder führte in das Thema ein. Fotos: Traudi Schlitt

Für Delf Schnappauf sind die Orte seiner Kindheit keine Heimat: Er „machte mit rüber elf in den Westen“. Für ihn stellt sich Heimat als behagliches Gefühl ein, das man mit einem Ort verbindet, und obwohl er früh die Orte seiner Kindheit verließ, findet er Herkunft prägend. Auch die Frage nach innerer Orientierung ist für ihn mit Heimat verbunden. Ein Glücksgefühl, ist Heimat und ein Ort – Zitat von Mo Asumang -, wo man Verantwortung übernimmt.

Die Philosophin Ruzanna Hanesyan Bajadjan führte bei ihren Betrachtungen den Philosophen Ludwig Feuerbach ins Feld: „Ein Mensch ist glücklich, wenn seine materiellen und geistigen Bedürfnisse erfüllt werden.“ Geboren in Georgien, aufgewachsen in Armenien und nun schon seit zehn Jahren in Deutschland, glaubt sie, dass Deutschland unter Feuerbachs Voraussetzungen ihre zweite Heimat werden könne. Sie lobt die menschliche Solidarität und die Demokratie.

Sascha Reif begleitete den Abend an der Gitarre mit Eigenkompositionen.

Was ihr fehle, sei die Erfüllung seelischer Bedürfnisse: Ihre Muttersprache, Theater und eine Arbeit, die ihrer Qualifikation entspricht. Sie hatte viele Informationen über die Kulturgeschichte ihres Heimatlandes Armenien mitgebracht – auch dies war eine Möglichkeit, dem Publikum ihren Heimatbegriff nahezubringen.

Heinz Heilemann blickte in die Vergangenheit und ließ das Leben seines Großvaters Revue passieren. Liebevolle Erinnerungen an ihn und an einen kleinen Jungen, dem die Erzählungen und die Gelassenheit des Opas Heimat wurden. Und die bei den Zuhörern Bezüge zur eigenen Vergangen weckten.

Kann Religion auch Heimat sein?

„Ich bin nur ein weiteres Mädchen, das ihr Leben in verschiedenen Heimatländern lebt“. Quandiel Khuram war mit ihren zwanzig Jahren die jüngste Leserin des Abends. Vor fünf Jahren kam sie mit ihrer Familie von Pakistan nach Deutschland. In ihrem Text ging es um die Frage, ob Religion auch Heimat sein könne: Eindeutig ja, und eindeutig auch der Islam. Die junge Frau brach eine Lanze dafür, Meinungsverschiedenheiten auszuhalten, doch sie kritisierte auch die Zustände in ihrem Heimatland, das für sie so ganz anders ist als „ein Haufen religiöser Fanatiker“. Die Heimat, so Khuram, ist ein Ort, dem du verbunden bist und an dem du einen großen Teil deines Lebens lebst.

Holger Schäddel vom Evangelischen Dekanat Vogelsberg führte durch den Abend.

Eine ganze Reihe „Herbsteiner Vulkanausbrüche“ hatte Thomas Ruhl mitgebracht. Ein Feuerwerk aus Kindheitserinnerungen auf dem Dorf, derb und drastisch mitunter, wie die Szene der Hausschlachtung, geprägt von der tiefen Religiosität dieses Landstrichs, den der heutige Offenbacher längst hinter sich gelassen hat. In metaphorischen Bildern nahm Ruhl die Zuschauer mit in seine Gedankenwelten und Erinnerungen, auch wenn Heimat für ihn die ist, die – um mit Ernst Bloch zu sprechen – „allen in die Kindheit schien und worin noch niemand war.“

Den Geschmack von Heimat

Den Geschmack von Heimat beschwor Traudi Schlitt in ihrer Geschichte von der „Heimatküche“ herauf. Die legendären Apfelkuchen ihrer Oma und Mutter gaben ihr Heimatgefühle, schenkten Geborgenheit, das Wissen geliebt zu sein. All das könne sie so gestärkt heute an ihre Kinder weitergeben. Den Abschluss der Lesung bestritt Berndt Schulz. Der Autor findet in der Literatur sein Zuhause, aber auch in der Interaktion mit Menschen. Lebhaft und bildreich beschrieb er den Unterschied zwischen der Heimat Stadt und der Heimat Land. In letzterer ist er angekommen.

Sieben ganz unterschiedliche Zugänge hatten die Gäste an diesem Abend erlebt. Hinzu kamen sicherlich eigene Gedanken, Erinnerungen und Assoziationen. Und sicherlich auch die der Tischnachbarn, denn Heimat, das hatte man deutlich gehört, ist für jeden Menschen etwas anderes.

Holger Schäddel nutzte den Ausklang nicht nur, um sich bei allen Mitwirkenden und für die Förderung durch das Bundesprojekt „Demokratie leben!“ zu bedanken, er gab allen Gästen auch noch ein Zitat aus dem der vorliegenden Anthologie mit auf den Weg: „Nur wenn wir wissen, woher wir kommen und wo unsere Wurzeln sind, können wir uns dem Fremden gegenüber öffnen.“

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