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48 Namen für 48 Leben: Erinnerungen an Reichspogromnacht in Alsfeld vor 81 Jahren„Hinter jedem Namen steht ein Leben, viele Leben sogar“

ALSFELD (ls). „Hinter jeden Namen steht ein Leben, viele Leben sogar. Familien. Menschen, die suchten, was wir alle im Leben suchen“: 48 Namen sind es in Alsfeld gewesen. 48 Menschen, die während des Nationalsozialismus deportiert und in Konzentrationslagern ermordet wurden. Diesen Menschen wurde wie in jedem Jahr zum Pogromgedenken in Alsfeld ein Denkmal gesetzt. Einer von ihnen war Karl Lorsch, dessen Denkmal in diesem Jahr in den Händen von Kanzleramtsminister Dr. Helge Braun lag.

„Gedenken ist immer konkret – wir müssen ganz konkret an die Ereignisse von damals gedenken. Wenn wir erkennen wollen, durch welche Einfälle dieser Ungeist auch die Köpfe ganz normaler Menschen kontaminieren konnte. Und deshalb muss die Erinnerung immer ganz konkret sein“, sagte Pfarrer Peter Remy und erinnerte detailreich an das, was in der Nacht vom 9. auf den 10. November nicht nur in Alsfeld, sondern in ganz Deutschland passierte. Das, was die Nazis später spöttisch „Kristallnacht“ nannten, als sei es nur Glas, das zu Bruch gegangen war.

Pfarrer Peter Remy beim Pogromgedenken in Alsfeld. Fotos: ls

Gedenken konkret

Vor 81 Jahren in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten in Deutschland etwa 1.400 Synagogen, 7.500 Geschäfte jüdischer Kaufleute wurden geplündert und zerstört. 30.000 jüdische Männer wurden inhaftiert und etwa 1.300 bis 1.400 jüdische Menschen wurden in dieser Nacht brutal geschunden und ermordet – oft in aller Öffentlichkeit unter den jubelnden Blicken der Menge.

„Die Täter von damals kamen nicht von einem fremden Stern, sondern aus der Mitte unseres Volkes. Die meisten von diesen Menschen galten als unbescholtene Bürger und nahezu alle Täter waren damals getaufte Christen. Auch hier in Alsfeld, hier wo wir jetzt stehen, brannte die Synagoge. Es war der 9. November 1938. Es war ein Mittwochabend, da ging die Synagoge um 21.15 Uhr in Flammen auf. Der Innenraum wurde in Brand gesetzt, die Scheiben eingeschlagen von denen die aktiv mitwirkten, von denen die hier standen und von denen die sich nur als Zuschauer fühlten“, erzählte Remy. „Die meisten sahen schweigend zu, als die Flammen aus dem Inneren leuchteten.“

Lea Hamel sorgte für die musikalische Umrahmung der Erinnerungen.

Die Alsfelder Feuerwehr, so erzählt Remy, sei angewiesen worden, zunächst nicht zu löschen. Einen Feuerwehrmann habe man mit gezogener Pistole in einer Kneipe davon abgehalten, zum Einsatz zu eilen. „Von den einstmals 220 jüdischen Einwohnern in unserer Stadt lebten 1938 noch etwa 100. Drei Jahre später im Jahr 1941 pries sich die Stadt damit, ‚judenrein‘ zu sein“, erinnerte Remy.

Auch in Alsfeld blieb es nicht beim Angriff auf die Synagoge. In der Hersfelder Straße sperrten Nazis die jüdische Männer der Stadt in einen Keller. Jüdische Geschäfte wurden geplündert, die Waren auf die Straße geworfen.

„Heute, 81 Jahre später, stehen wir hier. Menschen aller Generationen. Es ist gut, dass wir hier stehen“, sagte Remy und mahnte die Anwesenden, es sich nicht zu einfach zu machen. Sich nur als „die Guten“ zu fühlen, die sich über die „Bösen“ empören, das sei zu billig. „So einfach und so billig ist das Gedenken nicht zu haben!“, sagte der Pfarrer und nannte Antisemitismus einen „Ungeist“, der auch die Herzen derjenigen vergiften könne, die sich für „die Guten“ halten. Theodor W. Adorno habe schon 1967 das Problem benannt: Es sei ein schlecht zuschauerhaftes Verhältnis zur Wirklichkeit. „Wir vergessen zu oft, dass wir selbst politisch handeln müssen – immer, so oder so. Deshalb stehen wir hier heute nicht als Zuschauer sondern als Bürger, die auch zur selbstkritischen Prüfung berufen sind.“

Den Text „Sage nein“ trugen die Schüler der Geschwister-Scholl-Schule vor.

Zeit, die Mauer in den Köpfen und Herzen einzureißen

Das zeige sich in unbedachten Redensarten genau wie in der Weise, wie oft über Israel gesprochen werde. Der Antisemitismus sei bei weitem kein Problem der Rechten, es sei eine geistige Umweltverschmutzung – und das spüre man auch heute noch. Viele würden in dieser Sache entgegnen, was das eine mit dem anderen zu tun habe. „Viel, ist meine Antwort, sehr viel, sogar. Mehr als es den Aufrechten bewusst ist“, sagte Remy. Und 30 Jahre nach dem Mauerfall werde es höchste Zeit, dass man die höchste Mauer einreiße –  „die in unseren Köpfen und die in unseren Herzen“.

Während Lea Hamel mit ihrem Saxofon für die Musik sorgte, trugen die Schülerinnen und Schüler der Geschwister-Scholl-Schule in Anlehnung an ein Lied von Konstantin Wecker den Text „Sag nein“ vor und spannten damit den Bogen in die aktuelle Zeit. „Das ist wahr. Wir sind keinen Zuschauer, wir müssen uns einmischen“, antwortete Remy darauf.

Bürgermeister Paule erinnerte in seiner Ansprache an den 9. November als deutschen Schicksalstag.

Auch Alsfelds Bürgermeister Stephan Paule sieht es als mehr als nur eine Pflicht an, an den 9. November zu gedenken – und das Erinnern in heutige Zusammenhänge zu stellen. „Wir Leben in einer Zeit, in der das Leid von Menschen zum Alltag gehört. Das soll jeden Tag durch ein demokratischen Gemeinwesen verteidigt werden. Und deshalb sind wir hier, um all das jeden Tag aufs Neue zu verteidigen“, sagte er. Es lohne sich, sich gegen den Radikalismus zu wehren und sich einzusetzen – auch als einzelne Person. „Man darf dem Radikalismus keinen Raum geben. Deshalb sind wir hier, um uns das immer wieder ins Gedächtnis zu rufen.“

Yad Vashem: Ein Denkmal und ein Name

Die Zentrale Holocaust Gedenkstelle in Israel trägt den Namen Yad Vashem, ein hebräischer Name, der so viel bedeutet wie „Ein Denkmal und ein Name“, erklärte Remy. Und beides solle es an diesem Tag gehen, um ein Denkmal und einen Namen. Yad Vashem bedeute aber auch, dass jeder Täter einen Namen trug. „Jeder war ein Mensch wie wir und jedes Opfer trug einen Namen und war ein Mensch wie wir. Wir suchen nach dem großen Glück leben zu können“, erklärte er. Den Opfern des Pogroms solle mit 48 Steinen, mit 48 Namen ein Denkmal gesetzt werden, ein Mahnmal – mitten von Alsfeld.

„Hinter jeden Namen steht ein Leben, viele Leben sogar. Familien. Menschen, die suchten, was wir alle im Leben suchen. 48 Namen, 48 Leben – und so viel mehr. Die Leben wurden vernichtet, die Namen bleiben. Sie erheben sich auch jetzt in dieser Stunde – an diesem Ort – zur himmlischen Höhe und bleiben bis in Ewigkeiten“, sagte der Pfarrer, ehe die Steine an die Anwesenden verteilt wurden.

Einige Alsfelder waren auch in diesem Jahr gekommen, um sich zu erinnern.

Einen davon, den von Karl Lorsch, bekam Kanzleramtsminister Dr. Helge Braun, der an diesem Tag zum Pogromgedenken nach Alsfeld kam. „Ich halte hier den Stein von Karl Lorsch in der Hand. Er wurde 40 Jahre alt. Also sieben Jahre älter als ich heute bin und er hatte nie die Chance, sein Leben so lange zu leben, wie ich, der eigentlich auch noch das Gefühl hat, ziemlich jung zu sein“, sagte Braun. Das mache deutlich, wie wichtig es sei, diesen 9. November in allen seinen Facetten wahrzunehmen. Es sei der Beginn der Entgrenzung von Menschlichkeit gewesen, der Beginn von Antisemitismus und Deportation. Gerade heute, nach den letzten zwölf Monaten, sei es wichtig auf die Schattenseiten der Deutschen Geschichte hinzuweisen.

Immer wieder habe es in den letzten Jahren Diskussionen darüber gegeben, einen Schlussstrich zu ziehen. Deutschland, so sagen einige, solle aufhören sich zu entschuldigen. Doch es sei wichtig, sich zu erinnern, besonders mit Blick auf die letzten zwölf Monate, denn Erinnerung habe nicht nur den Auftrag des Rückblicks, sondern sei ein Mahnmal für die Zukunft. „Karl Lorsch konnte ich nie kennen lernen – den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke schon“, erklärte Braun. Für Flüchtlinge habe er sich eingesetzt und sei deshalb einem Rechtsextremisten zum Opfer gefallen. Am 2. Juni diesen Jahres wurde Lübcke mit einem Pistolenschuss aus nächster Nähe in den Kopf getötet.

Kanzleramtsminister Dr. Helge Braun bei seiner Ansprache.

„Wir alle gemeinsam müssen gegen ein solches Gedankengut aufstehen. Wir müssen bereit sein, aufzustehen“, sagte Braun, ehe die 48 Steine auf das Mahnmal in der Alsfelder Lutherstraße gelegt wurden – auch der von Karl Lorsch. Weil Blumen vergehen, Steine nicht – und auch nicht der Name, der auf diesen Steinen steht. Ein Denkmal und ein Name in unserer Hand.

6 Gedanken zu “„Hinter jedem Namen steht ein Leben, viele Leben sogar“

  1. Lieber „Leser“,

    Ihr letzter Kommentar erweckt den Eindruck, ich hätte dem „Zuschauen beim Unrecht“ das Wort geredet. Beim gestrigen Pogromgedenken habe ich mit einem Wort des Philosophen Theodor Adorno genau das Gegenteil gesagt, nämlich: „Unser zuschauerhaftes Verhältnis zur Wirklichkeit ist das Problem“.
    Das bedeutet: Als Bürger in der Demokratie sind wir aufgefordert, uns inhaltlich und argumentativ mit den gesellschaftlichen Problemen auseinanderzusetzen, auch mit den Mitmenschen, die (rechts-)extremistisches Gedankengut äußern. Es ist doch nicht damit getan, dass wir dieselben Methoden anwenden wie die Gegenseite und statt „Juden raus“ oder „Ausländer raus“ nun „Nazis raus“ schreien. Die Demokratie muss wehrhaft sein, aber verteidigen und erhalten werden wir sie nur mit der Anstrengung des Arguments und mit Mitteln des Rechts und nicht mit Rache und billiger Schwarz-Weiß-Malerei.

    Peter Remy, Pfarrer

    1. „Unser zuschauerhaftes Verhältnis zur Wirklichkeit ist das Problem“.
      Wen meinen Sie damit? Ich zähle mich jedenfalls nicht zu den Zuschauern.
      Von 1933-1945 haben bereits die Argumente der Kirche nicht gegriffen.
      Im Gegenteil: Der Vatikanstaat hatte vor dem faschistischen Italien damals noch gekuscht!
      https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article114857017/Wie-aus-Pius-XII-Hitlers-Papst-wurde.html

      Ich war bei Ihrem Redebeitrag vor Ort leider nicht zugegen und hätte, wenn ich es denn gewesen wäre, auch mit Ihren philosophischen Ausführungen nichts anfangen können.
      Ich rede lieber Klartext, denn was Anderes verstehen die Nazi’s nicht.

      1. Dass Sie, lieber „Leser“, nichts mit dem anfangen können, was Sie als „philosophische Ausführungen“ denunzieren, habe ich schon erwartet. An Ihrer Form von „Klartext“ („denn was anderes verstehen die Nazis nicht“) ist bereits die erste Demokratie auf deutschem Boden zugrunde gegangen. Mich wundert nur, dass Sie nicht mit Klarnamen schreiben, wo Sie doch so gerne „Klartext“ reden. Stehen Sie doch mit Ihrem Namen ein für das, was sie sagen – man nennt das Zivilcourage.
        Und was die Kirche betrifft: Sie haben Recht, die hat viel Schuld auf sich geladen in der Zeit des Nationalsozialismus!

        Peter Remy, Pfarrer

  2. Kann ich Ihnen nur bedingt recht geben, denn das Zuschauen beim Unrecht hat es damals auch nicht besser gemacht!
    Die Nazis haben damals in Nordfrankreich und Polen mehr als genug „unliebsame“ Menschen in Kirchen getrieben, welche dann angezündet wurden.
    Da hat auch kein beten darin geholfen.
    LG

  3. Der Kommentar von „Leser“ ist sicher gut gemeint.
    Aber „nazifrei“ klingt mir zu sehr nach „judenrein“!
    Was ich beim Pogromgedenken gesagt habe, ist etwas anderes. Mit „Säuberungsaktionen“ können wir keine politischen Probleme lösen. Wie hat Bertolt Brecht in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ gesagt: „Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser“. Wir haben zu viel Hass, zu viel Zorn unter uns.

    Peter Remy, Pfarrer

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