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Schüler der Altenpflegeschule schlüpfen in Altersimulationsanzug und machen sich auf den Weg über den Marktplatz„Ich fühle mich auf diesem Pflaster sehr unsicher“

ALSFELD (akr). Wie schwierig ist es eigentlich für einen alten Menschen, sich im Alltag zu bewegen? Wie fühlt es sich an, wenn das Sehfeld eingeschränkt ist, die Gelenke sich nur noch mühsam bewegen lassen? Und wie empfindet ein Gehbehinderter den Gang über das Alsfelder Kopfsteinpflaster in der Innenstadt? Diesen Fragen gingen 26 Schüler der Altenpflegeschule in Alsfeld im Rahmen ihrer Ausbildung nach.

Sarah Erb nimmt im Rollstuhl unter dem Rathaus Platz, um sich den grauen Alterssimulationsanzug anzuziehen. Dieser Anzug soll die drei Hauptfaktoren des normalen, biologischen Alterungsprozesses simulieren, sprich: weniger Kraft, weniger Beweglichkeit und weniger sensorische Genauigkeit. Sarah bekommt den Anzug angezogen, Gewichte werden in die Brust – und Rückentaschen gelegt.

Gleich wird sich Sarah wie eine 75-jährige Frau fühlen. Fotos: akr

„Insgesamt sind es 16 Kilogramm. Diese Gewichte simulieren die fehlende Kraft im Alter“, erklärt Ingo Schwalm, Fachkrankenpfleger in der Psychiatrie im Krankenhaus Eichhof. Er hat den Simulationsanzug zur Verfügung gestellt. Zu den Gewichten bekommt die Schülerin auch noch einige Manschetten an den Armen und Beinen angelegt, die die Bewegungsmöglichkeiten beinträchtigen sollen.

Doch damit nicht genug: Mit einem Kopfhörer wird ein pfeifender Tinnitus-Effekt und ein schlechteres Hörvermögen mit verschiedenen Lautstärken simuliert, Handschuhe zeigen den Rückgang in der Feinmotorik. Zu guter Letzt wird ihr die Spezialbrille aufgesetzt. Sarah sieht jetzt so, als würde sie an Grauen Star leiden. Ihre Sehkraft ist deutlich verschlechtert. „Man ist aber nicht blind“, macht Schwalm deutlich. Sarah ist in den Körper eines 75-Jährigen geschlüpft. Rund 6.500 Euro kostet der Anzug.

Vorsichtig geht es  mit Ingo Schwalm über den Marktplatz.

„Ich kann nicht richtig sehen“, sagt Sarah – und das ziemlich laut, denn sie hört nicht mehr richtig und spricht automatisch lauter. Und dann geht es auch schon auf den Marktplatz. „Es ist richtig schwer hier zu laufen“, ruft Sarah. Schwalm fragt, ob sie sich sicher fühle. Sie verneint. „Ich habe keinen richtigen Halt am Fuß. Ich habe das Gefühl ich falle gleich hin. Ich kann mich nirgends festhalten“, erzählt sie und läuft langsam und unbeholfen in Richtung Eiscafé. Immer wieder spricht sie laut aus, wie unsicher sie sich fühlt.

Bewegung und Feinmotorik sehr eingeschränkt

Auf den Stühlen vor dem Eiscafé nimmt sie Platz. Schwalm macht ihr den Schnürsenkel auf – binden soll sie ihn selber. Das klappt aber nicht. „Ich komme nur mit einer Hand runter“, sagt sie leicht angestrengt. Ihre Bewegungsfähigkeit ist stark eingeschränkt, sagt sie. Doch ihre Rolle als älterer Mensch ist noch nicht abgeschlossen. Sie macht sich – etwas orientierungslos – auf den Weg zu Ramspeck, um eine Kleinigkeit zu kaufen. Immer hinter ihr: Ihre Klassenkameraden, die gespannt beobachten. Dort angekommen erfährt sie eine weitere Schwierigkeit: mal eben schnell etwas bezahlen, ist nicht leicht. „Ich kann nicht richtig sehen und greifen“, erklärt sie.

Mal schnell das Geld aus dem Geldbeutel holen? Schwierig.

Zurück unter dem Rathaus schlüpft die Schülerin Daphne Oravetz in den Anzug. Auch sie soll erfahren, wie man sich mit weniger Kraft, Seh- und Hörvermögen und eingeschränkter Beweglichkeit fühlt. „Alles ist irgendwie sehr schwer. Ich habe das Gefühl einen Tunnelblick zu haben, als wäre mir etwas schwindelig“, sagt sie – natürlich auch lauter als gewohnt. Auf wackeligen Beinen läuft sie zum Europatruck, der gerade auf dem Marktplatz gastiert. Sie soll die drei Stufen der Treppe hochlaufen. Anstrengend.

Wie läuft es sich mit Rollator?

Auf dem Weg zurück in Richtung Rathaus läuft sie langsam und vorsichtig. „Ich fühle mich auf dem Pflaster unsicher. Die Trittsicherheit an manchen Stellen ist nicht gegeben. Außerdem ist es nach einer Weile echt anstrengend“, sagt sie. Ob es einfacher ist, wenn man sich einen Rollator zur Hilfe nimmt?

Daphne ist mit Rollator unterwegs.

Nicht wirklich. Eher das Gegenteil ist der Fall. „Man braucht noch mehr Kraft, wenn man auf dem Pflaster irgendwo hängen bleibt“, erklärt sie während sie den Rollator vor sich her schiebt und auf dem Kirchplatz auch prompt stecken bleibt. „Hier ist es richtig schlimm“, sagt sie und versucht den Rollator wieder in Bewegung zu bringen. Auch das Ruckeln der Gehhilfe auf dem Pflaster sei unangenehm. Richtig schwer wird es, als Daphne die kleine Treppe am Kartoffelsack hinunter gehen soll – mit Rollator. Mit viel Mühe packt die Schülerin es. Ein ebenerer, barrierefreier Marktplatz sei ihrer Meinung nach viel besser.

Nicht einfach, die Treppen sicher hinunter zu kommen.

Und genau das ist aktuell Thema in Alsfeld. Der Marktplatz soll saniert werden. Das alte Pflaster soll allerdings in der Mitte des Platzes erhalten bleiben. Der Verein „Barrierefreie Stadt Alsfeld“ kritisierte das Vorhaben der Stadt. Dadurch sei der Marktplatz nicht barrierefrei. „Wenn nur außer um den Marktplatz neues, barrierefreies Pflaster verlegt werden soll und innen das alte Pflaster bleibt, dann ist der Marktplatz nicht barrierefrei. Menschen mit Gehbehinderung können nicht über den Platz, sondern nur außen rum und haben damit weitere Wege zu beschreiten, die ihnen so oder so schwerfallen“, erklärte der Verein „Barrierefreie Stadt Alsfeld“, kürzlich in einem offenen Brief im Ausschuss der Stadt.

Daphne gemeinsam mit ihren Klassenkameraden und Dozentin Gerlinde Grebe (rechts).

Die Vorsitzende des Vereins „Barrierefreie Stadt Alsfeld“ ist Gerlinde Grebe. Sie hat diese „Exkursion“ am Mittwochvormittag gemeinsam mit ihren Altenpflegeschülern unternommen. „Ich bin Dozentin an der Altenpflegeschule. Der Aspekt ‚Barrierefreiheit‘ fällt in meinen Lehrbereich“, erklärt sie. Oft mache sie solche Exkursionen, alles im Bezug auf die Barrierefreiheit.

Sie möchte den Verein nicht mit der Schule vermischen. „Die Schule ist ein anderer Part. Im Vordergrund dieser Aktion steht der schulische Aspekt“, betont die Vorsitzende. Dennoch komme dieses Experiment auch dem Verein zugute. „Wir dürfen die Ergebnisse nutzen“, macht sie deutlich. Ob sie damit allerdings Erfolg haben werden und der Marktplatz in Zukunft doch noch etwas mehr barrierefrei wird, das wird sich noch zeigen.

Weitere Eindrücke:

2 Gedanken zu “„Ich fühle mich auf diesem Pflaster sehr unsicher“

  1. Ein behindertengerechter Marktplatz kann niemals mit diesem alten Basaltpflaster gestaltet werden. Die Verantwortlichen sollten sich einmal in einen Rollstuhl setzen und mit entsprechenden Armbewegungen darüberrollen. Darin spürt man jeden einzelnen Stein.

  2. Es ist bestimmt interessant und wichtig, wenn Altenpflegeschüler mit den Problemen des „älterwerden“ und mit Behinderung auseinandersetzen. Fazit der Exkursion ist ja wohl, der Alsfelder Marktplatz ist nicht Alten- und Behindertengerecht. In naher Zukunft steht die Neugestaltung des Platzes an. Die Entscheidungen bezüglich des berüchtigten Alsfelder Pflasters sind sehr fragwürdig. Die Basaltpflastersteine, im Volksmund auch „Katzenköpfe“ genannt, sollen weitestgehend wieder verwendet werden. Mit diesen Basaltsteinen kann man keine behindertengerechte, ebene Oberfläche bekommen. Ach mit engeren Fugen bleibt die Oberfläche rund. Es wird für Kinderwagen, Rollstühlen und Rollatoren weiterhin eine Tortur sein über den Alsfelder Marktplatz zu gehen bzw. zu fahren.
    Vielleicht hätte man den Damen und Herren der Alsfelder Stadtverordnetenversammlung und der Stadtverwaltung, explizid Bgm. Paule und Herr Diehl auch einmal diesen Anzug anziehen sollen um zu erfahren welche Tragweite die Entscheidung für ein ebenes Pflaster zu Gunsten einen Alten -und Behindertengerechten Alsfelder Marktplatz hätte.

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