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Uwe Thöt aus Altenburg über das Leben mit Multiple SkleroseSeine Krankheit hat 1.000 Gesichter

ALSFELD (akr). Dass Uwe Thöt von einer bislang nicht heilbaren Erkrankung betroffen ist, sieht man dem 65-Jährigen auf den ersten Blick nicht an. Der Altenburger lebt mit der Diagnose Multiple Sklerose – einem Leiden, das auch die „Krankheit der 1.000 Gesichter“ genannt wird, weil sie so viele unterschiedliche Symptome haben kann. Thöt erzählt, wie er den Mut behält – und zusammen mit seiner Frau anderen Betroffenen helfen will mit MS umzugehen.

Der Sommer ist für viele Menschen bekanntlich die schönste Jahreszeit. Für Uwe Thöt können die warmen Temperaturen allerdings zur Belastung werden. Oftmals verschlechtern sich dann seine Beschwerden. Das hält den 65-Jährigen aber nicht davon ab, an diesem sommerlichen Tag mit seiner Frau Andrea auf der Terrasse zu sitzen. Er hat gelernt, mit seiner Krankheit zu leben.

2000 bekam Thöt die Diagnose MS – eine autoimmune Erkrankung des zentralen Nervensystems. Zellen des Immunsystems erkennen körpereigene Strukturen als fremd und reagieren mit Entzündungen. „Man muss den Nerv sehen wie ein Stromkabel“. Thöt versucht es in einfachen Worten zu erklären. „Ein Stromkabel hat in der Mitte den leitenden Kupferdraht und außen die Gummi-Isolierung. Genauso ist der Nerv aufgebaut.“ Man hat in der Mitte das Axon, in dem der Nervenstrom geleitet wird. Außen herum ist eine isolierende Eiweißschicht, das Myelin. Ist die Isolierung beschädigt, kommt es zum Kurzschluss.

„Ein MS-Erkrankter hat einen Antikörper in seinem Nervenwasser, der gegen ihn selbst gerichtet ist. Dieser Antikörper greift das Myelin an und dann gibt es eben diesen Kurzschluss. Und der kann überall dort auftreten, wo Nerven sind“, erklärt er. Dieser Kurzschluss kann sich bei jedem Betroffenen anders äußern. „Deswegen sagt man ja auch, dass es die Krankheit der 1000 Gesichter ist“, erklärt seine Frau Andrea.

Von Missempfindungen und fehlender Laufleistung

Zurzeit hat Thöt dauernd das Gefühl, er würde mit einer Blumenspritze nass gespritzt werden. „Missempfindungen auf der Haut“, bringt es seine Frau kurz und knapp auf den Punkt. Manchmal fühle es sich auch an, als würden Ameisen über seine Haut laufen oder sein Handy in der Hosentasche vibrieren. „Dabei habe ich gar kein Handy einstecken“, lächelt er.

Das seien so typische Empfindungen durch fehlgeleitete Nervenströme. Wärme verstärke die Probleme. „Die Leitfähigkeit des Nervs ist sowieso herabgesetzt und durch Wärme wird sie nochmal langsamer“, sagt der 65-Jährige. Aus diesem Grund hat der Altenburger eine Kühlweste, welche die Körpertemperatur um etwa drei Grad herunterkühlt. „Die ziehe ich dann an, wenn ich merke, dass es mir zu warm wird und ich Probleme mit der Motorik bekomme.“

Eine Folge seiner Erkrankung ist, dass er eine erheblich eingeschränkte Laufleistung hat, ehe es in seinem Bein zu einer Spastik kommt, die Beine krampfen und er die Füße nicht mehr hochbekommt. „Und dann kann ich eigentlich stehen bleiben. Manchmal torkele ich herum wie ein Betrunkener, weil ich die Richtung nicht halten kann. Meine Frau, die mich an der rechten Hand hat, merkt dann ganz genau, wenn ich nach links abziehe.“ Komische Blicke von Passanten bleiben dabei nicht immer aus.

Uwe Thöt und seine Frau Andrea.

Seine Frau weiß in dieser Situation aber genau, wie sie handeln muss. „Sie drückt kurz meine Hand und dann bin ich wieder da“, lächelt er. Thöt legt dann einfach eine Pause ein, die unterschiedlich lang sein kann. „Wir haben verschiedene Tricks, wie wir das auspendeln“, ergänzt Andrea Thöt und lächelt. Die beiden sind ein eingespieltes Team. Vom Physiotherapeuten haben sie einiges gelernt, beispielsweise, die Hand auf die Hüfte zu legen, sie reinzudrücken und den anderen Arm schwenken zu lassen, erklärt seine Frau – „dann geht plötzlich der Fuß hoch, das ist unglaublich“.

Eingeschränkte Mobilität, Störungen der Feinmotorik und Koordination, krankhafte Erschöpfung, Sehstörungen, Schmerzen, Empfindungsstörungen, Darm und Blasenprobleme – das sind nur einige Beschwerden, die bei MS-Patienten auftreten können, meist in Schüben. Von einem Schub spricht man, wenn neue Symptome auftreten, vorbestehende Beschwerden sich verstärken oder zuvor abgeheilte Symptome erneut auftreten. Er dauere dann meist vier bis fünf Tage an. Schübe können sich komplett zurückbilden. Es kann aber auch sein, dass nur eine Verbesserung der Missempfindung eintritt, aber ein Rest erhalten bleibt oder schlechtesten falls die Symptome für immer ertragen werden müssen.

Diagnose erst Jahre später gestellt

1986 hatte Thöt seinen ersten Schub, ohne, dass er es wusste. Bei dem Altenburger fing es mit tauben Beinen an, woraufhin er einen Sportarzt aufsuchte. Der vermutete, dass Thöt sich beim Sport verhoben haben könnte. Mit Übungen wurde seine Wirbelsäule gestreckt, „nach fünf Tagen war der Spuk dann vorbei“, erinnert er sich.

Als er dann eines Tages nicht mehr richtig sehen konnte, diagnostizierte ein Augenarzt eine Sehnerventzündung. „Man kann eigentlich sagen, dass 90 Prozent der MS-Erkrankungen mit einer Sehnerventzündung oder Gesichtslähmung losgehen.“ Als Thöt Jahre später den Arztbrief sah, fiel ihm auf: Der Verdacht, dass sein Leiden auch MS sein könnte, war darin bereits vermerkt. Die Diagnose hätte also schon 13 Jahre früher gestellt werden können. Immer wieder hatte er in dieser Zeit Schübe, die allerdings nicht als Multiple Sklerose erkannt wurden.

Um das Fortschreiten der MS zu verlangsamen oder Symptome zu behandeln, gibt es verschiedene Therapiemöglichkeiten. Thöt bekommt beispielsweise alle drei bis vier Monate einen hochdosierten Kortisonstoß verabreicht, um Entzündungen im Nervengewebe zu blockieren.

„Dann steht man erstmal neben sich, hat nicht mal die Kraft, eine Fliegenklatsche hochzuheben, wenn einen die Mücke an der Wand nervt“, sagt er mit einem Schmunzeln im Gesicht. Da es aber unterschiedliche Formen von MS gibt, sieht die Therapie bei jedem anders aus. Thöt leidet an der chronisch progredienten MS mit aufgesetzten Schüben. Diese Form zeichnet sich durch eine langsame, chronische (kontinuierliche) Verschlechterung aus. „Man merkt gar nicht mehr, dass man einen Schub hat, es wird einfach nur schleichend schlechter“, erklärt er.

Beschwerden können schlimmer werden

Zwar gibt es aus Hamburg Nachrichten über eine dauerhaft wirkende Stammzellentherapie, doch bislang gilt die Krankheit als nicht heilbar, lediglich Beschwerden können gelindert werden und sich im Laufe der Zeit ändern. Thöt kennt viele MS-Patienten, die es sozusagen „härter“ getroffen hat, als ihn.

Manche sind auf einen Rollstuhl angewiesen, nicht mehr arbeitsfähig, andere wiederum hat die MS körperlich so eingeschränkt, dass sie keinen Kugelschreiber mehr führen können oder gar nicht mehr ohne Hilfe selbstständig die Gabel zum Mund führen oder trinken können. Das sind die Extremsituationen, den meisten MS Betroffenen sieht man ihre Einschränkungen gar nicht an. Dass sich der Zustand des Altenburgers auch einmal so verschlechtern wird, kann man nicht ausschließen. „Man sitzt auf einem Pulverfass, man weiß nicht, was kommt“, sagt seine Frau, die ihm tief in die Augen blickt.

Seit knapp 40 Jahren sind die beiden schon zusammen, 36 Jahre davon als Ehepaar. Für beide war es ein ziemlicher Schock, als der heute 65-Jährige vor knapp 22 Jahren die Diagnose bekam. „Das war schon hart, man hatte das Gefühl, es wird einem der Teppich unter den Füßen weggezogen. Und man denkt ja auch, dass MS automatisch mit einem Rollstuhl verbunden ist, das ist das Fatale dabei, aber es ist eben nicht so“, erzählt er.

Seine Frau musste auch ganz schön schlucken, erzählt sie. „Ich habe gedacht, jetzt müssen wir unser ganzes Leben ändern und anders ausrichten.“ Die beiden waren nämlich schon immer unheimlich reiselustig und sportlich aktiv. „Das sahen wir auf einmal alles wegschwimmen“, wirft Thöt ein. Doch ihre Befürchtung hat sich zum Glück nicht bestätigt. Sie genießen immer noch die gemeinsamen Reisen.

Angst davor, dass der gelernte Augenoptiker auch irgendwann auf einen Rollstuhl angewiesen sein könnte, hat er nicht – nicht mehr. „Ich habe gelernt positiv zu denken“, betont er. „Man sollte positiv eingestellt sein und nicht denken, das Leben geht zu Ende“, lächelt seine Frau.

Früher habe es schon viele Situationen gegeben, die ihnen weh getan haben. Beispielsweise wenn der Altenburger nicht geradeaus laufen konnte, und Menschen dann sagten, er sei um 10 Uhr schon betrunken. „Das hat damals unheimlich wehgetan“, erinnert sich Andrea Thöt. Mittlerweile haben beide aber so ein Selbstbewusstsein entwickelt, dass sie solchen Sprüchen auch etwas entgegensetzen können – auf einem netten Niveau.

Uwe Thöt und seine Frau haben aber eben nicht nur gelernt, mit der Krankheit zu leben und das Beste aus der Situation zu machen. Nein, gemeinsam helfen die Beiden seit Jahren auch anderen MS-Betroffenen und deren Angehörigen. „Man kennt uns in Alsfeld und wir haben immer wieder Anfragen bekommen“, erzählt er. Als sich dann die Möglichkeit ergab, bei der Multiple Sklerose-Gesellschaft eine zweijährige Ausbildung zum Berater/zur Beraterin zu machen, mussten die beiden nicht lange überlegen.

Unterstützung für Betroffene und Angehörige

Seit vergangenem Jahr beraten sie im Rahmen der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft und der EUTB (Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung) Vogelsbergkreis ganz offiziell in Sachen Multiple Sklerose – ehrenamtlich. Thöt als Betroffener, seine Frau als Angehörige. Dass die Beratung unabhängig erfolgt, das war dem Ehepaar ganz besonders wichtig. „Ich habe von Anfang an gesagt, ich möchte für keinen Verein und für keine Pharmafirma oder Medikamente werben. Es soll ganz neutral und unabhängig sein“, betont die Altenburgerin.

Es sei ganz wichtig, dass ein Patient selbst entscheiden dürfe, was er macht, wo er hingeht und welche Hilfe er sich holt. Doch er müsse eben wissen, was es überhaupt für Möglichkeiten gibt. „Wir sind sozusagen Lotsen für MS. Der Kapitän ist der Chef seines Schiffs, was er sagt, wird gemacht. Der Lotse hat eine beratende Tätigkeit. Ob der Kapitän das umsetzt, was der Lotse, der das Revier genau kennt, sagt, das entscheidet er selbst“, erklärt es Thöt anhand eines Beispiels.

Die Beratung selbst findet einmal im Monat in den Räumen der EUTB Am Kreuz 3 in Alsfeld statt. Telefonisch sind die beiden aber jederzeit erreichbar unter der Telefonnummer 0151 72 800 937 oder unter msberatung-alsfeld@hotmail.com, und das nicht nur für Menschen, die aus Alsfeld oder dem Vogelsbergkreis kommen – und vor allem nicht nur für Patienten, sondern auch Angehörige, die oftmals in Vergessenheit geraten. Andrea Thöt weiß, wovon sie spricht. In der Regel haben sich Menschen nämlich nur nach ihrem Mann erkundigt, nicht nach ihr. Dabei sind es nicht nur die Erkrankten, die betroffen sind und deren Leben sich verändert, sondern auch die Angehörigen. Und genau das war für sie der auschlaggebende Punkt, diese Ausbildung mitzumachen.

Die Erkrankung ihres Mannes hat die Altenburgerin unheimlich viel psychische Kraft gekostet, wie sie erzählt. Sie hat sich Sorgen gemacht. Nicht zu wissen, was morgen ist, hat ihr Angst bereitet, sagt sie, während ihre eh schon ruhige Stimme noch etwas ruhiger wird. „Man darf sich von dieser Angst aber nicht auffressen lassen“. Grundsätzlich gehe bei einem Leben mit Multiple Sklerose alles – aber anders. Und das hat das Ehepaar mit der Zeit gelernt.

2 Gedanken zu “Seine Krankheit hat 1.000 Gesichter

  1. Danke Herr Thöt
    Wirklich imponierend ihre Kraft, ihr Umgang mit ihrem Leben, ihr offenes Wort…… könnten viele von uns ( mich einschließlich) – einiges von Ihnen lernen. –
    Besten Gruß an Sie und ihre Frau

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  2. „Die Diagnose hätte also schon 13 Jahre früher gestellt werden können. Immer wieder hatte er in dieser Zeit Schübe, die allerdings nicht als Multiple Sklerose erkannt wurden.“

    Nicht nur die Krankheit ist Schicksal, sondern auch die Wahl des richtigen Arztes und ein unterstützendes Umfeld. Manchmal stellt man auch fest, dass man im falschen Landkreis lebt, wo staatliche Daseinsvorsorge durch Dummgebabbel und Werbesprüche ersetzt wird. Besonders übel dran sind die Menschen mit seltenen Erkrankungen, wie ich jetzt mit ME / CFS.
    Es leben die Pflegeversicherung und der Medizinische Dienst der Versicherer, der – „geschult“ durch die Pflegeversicherungen als Auftraggeber – alle Tricks drauf hat, damit aus dem Zuwenig der lausigen Pflege-Teilkasko noch viel weniger wird. Und wenn das Lebven auch zerfetzt / Sparen lässt sich bis zuletzt!
    Da tut ein Mann wie Uwe Thöt mit seinem sanguinischen Temperament, seiner Fachkenntnis und seinem Engagement für die Selbstorganisation von Betroffenen richtig gut. Und resprkt für die Frau an seiner Seite.

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