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Sabine Bode las aus „Nachkriegskinder“ und erreicht mehr als hundert Gäste im Katholischen PfarrzentrumEmotionale Aufarbeitung einer Zeit voller Tabus und schrecklicher Erinnerungen

ALSFELD (ol). Stühle schleppen hieß es zu Beginn des Montagabends im Katholischen Pfarrzentrum, denn der Andrang war groß: Über 130 Frauen und Männer, überwiegend in ihrer zweiten Lebenshälfte angekommen, waren gekommen, um die Journalistin Sabine Bode, selbst Jahrgang 1947 und damit Nachkriegskind, zu hören, die aus ihrem Buch „Nachkriegskinder“ las und zum Diskutieren einlud.

In der Pressemitteilung des Dekanats Vogelsberg heißt es, dabei geht es ihr um eine emotionale Aufarbeitung insbesondere jener Jahrgänge, die nach dem 2. Weltkrieg geboren wurden. Der programmatische Untertitel Ihres Buches „Nachkriegskinder“ verweist auf den Ansatz des Werkes: „Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter“. Zu Beginn begrüßte Hedwig Kluth vom Katholischen Dekanat Alsfeld die Gäste aus Nah und Fern. Franziska Wallenta und Holger Schäddel vom Evangelischen Dekanat Vogelsberg leiteten über zur Thematik und zur Person.

Der Abend lief als ökumenische Kooperation und wurde von der VB-Bank Hessenland maßgeblich gefördert sowie vom Katholischen Bildungswerk und der EKHN-zur-Nieden-Stiftung unterstützt. Thematisch flankiert wurde die Veranstaltung durch die Ausstellung „Ich habe doch nichts mehr“ über biografisch relevante Gegenstände von Kriegskindern aus der Wetterau.

Sabine Bode las und diskutierte mit viel Empathie. Fotos: Franziska Wallenta

Die 1950er-Jahre in Deutschland

Die im Rheinland aufgewachsene Autorin skizzierte zunächst mit ein paar einleitenden Passagen die 1950er-Jahre in Deutschland. Damals war einerseits „die Welt noch nicht in Ordnung. Auf ganz Europa lasteten die Folgen eines verheerenden Kriegs, und die Deutschen in West und Ost bemühten sich, möglichst wenig an den Holocaust zu denken“, sagte Bode. Andererseits wuchs die Wirtschaft, gelang ein Wiederaufbau und die politische Situation stabilisierte sich in gewisser Weise. Eltern erzogen ihre Kinder nicht selten mit Strenge und vor allem zur kontrollierten Ordnung, wie Bode anhand der Schilderung einer wunderbaren Familien-Szene aus einem typischen Heinz-Erhardt-Film zu illustrieren wusste.

Vor allem die Väter der aufwachsenden Kinder und Jugendlichen sollen allerdings auch viel verschwiegen haben, reizten zum Widerspruch beziehungsweise irritierten ihre Töchter und Söhne mit Seltsamkeiten. Im Hauptteil ihrer Lesung stellte die engagierte Journalistin ausdrucksstark, sprachgewandt und sensibel drei von Ihr interviewte Nachkriegskinder vor – mit zum Teil anonymisierten Namen.

So erzählte sie plastisch einen Teil der Lebensgeschichte – und vor allem: Vater-Sohn-Geschichte – von Michael Brenner, Soziologe und Coach, dessen Lebensmotto lautet: „Never give up – gib niemals auf“. Eine Querköpfigkeit, die er seinem Vater im Positiven wie im Negativen verdanke. Bode zitierte einen Ausspruch Brenners über seine Aufarbeitung der Nachkriegsjahre: „Viele Jahre habe ich kaum an Kindheit und Jugend gedacht, schon gar nicht an meinen Vater. Das Leben ist wie es ist, und ich war froh über Abstand und Vergessen. Aber meine Vergangenheit sollte mich einholen“. Für große Teile der aufwachsenden Generation war dieses Abschließen mit der schuldbeladenen Kriegszeit kennzeichnend. Erst Jahrzehnte später begibt sich Michael Brenner mühevoll auf eine gedankliche Reise zurück in seine identitätsprägenden Jugendjahre.

Ein durchdringender Zwiespalt

Eine andere vorgestellte Biografie war die von Vera Christen, eine gestandene Ärztin und Mutter von zwei Kindern. Ein tiefer Einblick in ihre verwickelte Geschichte zeichnete sich ab. Trotz ihrer wohlbehüteten Kindheit spürte sie durch lange Phasen ihres Lebens einen durchdringenden Zwiespalt, den sie sich nicht erklären konnte. „Seit sie denken konnte, fehlte ihr der Boden unter den Füßen – so beschreibt sie im Rückblick ihr vorherrschendes Lebensgefühl“, las Sabine Bode unter dem oft zustimmenden, verstehenden Nicken aus dem Publikum. Die Ärztin erlebte plötzliche Wutausbrüche des Vaters inklusive Schlägen, die aber in der Familie tabuisierend umgedeutet wurden. Durch das behutsam entschlossene Nachfragen von Bode wurde ein wahrscheinliches Trauma des Vaters aus der Kriegsgefangenschaft entdeckt.

130 Gäste hatten sich auf den Weg in das Katholische Pfarrzentrum gemacht, um der Lesung von Sabine Bode zu lauschen und mit der Autorin ins Gespräch zu kommen.

Die Lesung und das anschließende Gespräch mit der Autorin portraitierten noch weitere Personen, mit deren Geschichte die große Bandbreite der Bewältigungs-Mechanismen deutlich wurde. Im Publikumsgespräch entstanden Fragen zu verwandten Themen wie der Verarbeitung des Holocaust, den Schicksalen von Vertriebenen bis zu aktuellen politischen Herausforderungen der Erinnerungsarbeit und –politik. Sabine Bode antwortete aufmerksam und im Sinne ihrer Intention einer nicht nur akademischen, sondern insbesondere emotionalen Aufarbeitung der Vergangenheit sowie eines demokratischen Engagements jeder und jedes Einzelnen.

Der abschließende nachhaltige Applaus verstärkte die Bedeutung dieses Beitrags – insbesondere für die Menschen, die sich aufgrund ihrer Lebensläufe zu den Nachkriegskindern zählen. Auch lange nach dem offiziellen Schluss war daher noch Anlass und Raum für persönliche Gespräche.

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