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Sprungturm-Prozess: Zeugen und medizinisches GutachtenRechtsmediziner: „Das Kind war hirntot“

GIEßEN (akr). Nachdem am Dienstag der Prozess zum Sprungturm-Unglück auf dem Hoherodskopf vor dem Gießener Landgericht startete, ging es am Donnerstagmorgen weiter. Der Gerichtsmediziner stellte sein Gutachten vor. Dabei ein wichtiges Thema: Die Beschaffenheit des Bodens rund um den Sprungturm – und ein Felsbrocken. 

Doch vor dem Rechtsmediziner kamen zunächst die Rettungskräfte zu Wort, die sich damals, am 31. August 2015, um die Erstversorgung der damals 12-jährigen Sina kümmerten.

„Die zentrale Leitstelle des Vogelsbergkreis hat einen Sturz aus großer Höhe gemeldet“, erinnerte sich der Notfallsanitäter Karl S. an den Tag vor rund dreieinhalb Jahren. Sina habe vor dem Sprungturm neben dem Sprungkissen gelegen, mit dem Kopf in Richtung des Turms. Der Notarzt sei bereits vor Ort gewesen, habe sich um sie gekümmert. „Ich erinnere mich, dass sie bewusstlos war, ein Bein in einer abnormalen Lage“, sagte der Notfallsanitäter.

Äußere Verletzungen habe er nicht wahrgenommen, soweit er sich erinnere.  Auch ob er Blut gesehen hätte, wisse er nicht. Ein Aspekt, der im weiteren Verlauf der Zeugenaussagen am Donnerstag noch eine Rolle spielten sollte. Doch seine Aufgabe sei auch eine andere gewesen, sagte S. Er habe den Rettungshubschrauber eingewiesen, den Transport vorbereitet. „Mir der eigentlichen Behandlung hatte ich wenig zu tun.“

Als nächstes wurde Rettungsassistent Torsten E. in den Zeugenstand gerufen. „Ich habe eine junge Dame auf dem Boden liegen sehen, die wohl verletzt war“, sagte er. An die genaue Position könne er sich nicht mehr erinnern, wahrscheinlich habe sie auf dem Rücken gelegen. Doch auch seine Erinnerungen sind inzwischen beinahe verblasst. Der Boden müsste aber weich gewesen sein, sagte er, denn er habe Gras und Erdflecken an den Knien an seiner Hose bemerkt. Wieder ein wichtiger Punkt an diesem Prozesstag: Die härte des Bodens.

Ein Schädel-Hirn-Trauma und eine Oberschenkelfraktur

Ein weiterer Rettungsassistent, Frank J. erinnerte sich, dass Sina neben einen Felsblock lag. Er und der Notarzt waren nach der Ersthelferin, einer Krankenschwester, als erstes am Unfallort. „Es war eine Schädelverletzung sichtbar und etwas mit ihrem Bein“, erzählte er. Genauer gesagt: Ein Schädel-Hirn-Trauma auf der linken Seite sowie eine abnormale Lage des linken Beines, eine Fraktur. Anders als Torsten E. empfand J. den Boden hart. „Der Boden hat nicht nachgegeben, er war nicht durch Regen aufgeweicht“, sagte er. Die Härte des Bodens spielt insofern eine Rolle, als dass man nicht zu 100 Prozent sagen könne, dass Sina mit dem Kopf auf einen Felsbrocken aufgeschlagen sei. Der Rettungsassistent erinnerte sich, dass in der Nähe von Sina auch ein Stahlnagel und die Absperrung vom Sprungturm war. Von der Höhe her, aus der Sina sprang, könne er sich auch vorstellen, dass der harte Boden Grund für die Kopfverletzungen gewesen sei.

Bevor der Notarzt, der Oberarzt der Kinderintensivstation und der Gerichtsmediziner ihre Sicht der Dinge schilderten, kam das Anmeldeformular, beziehungsweise ein Anmeldemusterformular, für den Sprung vom Freefall-Tower auf den Tisch. „Mir ist bewusst, dass (Name des Kindes) aus neun Meter Höhe in ein Luftkissen springen wird […] die AGBs gelesen habe […]“, las Richter Jost Holtzmann vor. Und dann kam er auch auf die erwähnten AGBs zu sprechen.

„Die AGB sind nicht sorgsam“

So hieß es in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen unter anderem, dass das Begehen des Turmes auf eigenes Risiko und Gefahr erfolgt, dass Kleidung während des Sprunges verrutschen könne, Verbrennungen oder blaue Flecken vermieden werden können, wenn man beispielsweise lange Jeans trage. Und in den AGB stand: „Ich bin mir bewusst, dass es zu leichten oder schweren Verletzungen kommen kann“, freiwillige Nutzung auf eigene Gefahr. „Die AGB sind nicht sorgsam. Das ist nicht gut gemacht, was sie da bekommen haben“, merkte der Richter an. Denn nicht die Betreiber haben die Allgemeinen Geschäftsbedingungen verfasst, sondern quasi einfach vom österreichischen Hersteller übernommen. Allzu lange widmete man sich dem Thema nicht, denn der Notarzt nahm im Zeugenstand platz.

„Es wurde eine chirurgischer Notfall mit einem Kind als Betroffenen gemeldet“, sagte Dr. Spies. Es sei etwa 17.20 Uhr gewesen, als er am Unglücksort eintraf. In der linken Ecke neben dem Gerüst habe ein etwa ein halber Kubikmeter großer Felsbrocken gelegen. Die bewusstlose Sina habe bereits in der Stabilen Seitenlage gelegen. Er erinnerte sich an zwei Verletzungen am Kopf, eine vorn und eine am Hinterkopf. Es habe eine erhebliche Blutung gegeben, es habe sich um eine offene Schädel-Hirn-Verletzung gehandelt. „Blut habe ich gesehen, ob ich Hirnmasse gesehen habe, das weiß ich nicht“, sagte Spieß. Auch er sprach von der Oberschenkelfraktur, die Sina erlitt. Er habe sie intubiert, Atemwege gesichert. Wenige Minuten später sei auch schon der Rettungshubschrauber vor Ort gewesen.

Blut am Felsbrocken gesehen

Dr. Spies erinnerte sich, Blut gesehen zu haben. Und noch viel wichtiger: Das Blut sei am Felsbrocken gewesen. „Es war ein Handteller großer feuchter, dunkler Fleck auf dem Stein. Blut war auch auf jeden Fall im Gras“, sagte er. Das Blut, ein wichtiger Aspekt, denn genaue Angaben, wo überall Blut gewesen sei, gibt es nicht. Doch Spies war der Ansicht: „Der Boden hätte meiner Meinung nach für die Schwere der Fraktur nicht gereicht“.

Als der Rettungshubschrauber dann kam, wurde Sina ins Uniklinikum nach Gießen gebracht. Hier kümmerte sich unter anderem Dr. Neuhäuser, Oberarzt der Kinderintensivstation, um die stationäre Behandlung der verunglückten 12-Jährigen. Bei Sina sei ein CT gemacht worden und dann ging es auch schon gleich in den OP. „Der Hirndruck musste entlastet werden, sonst wäre sie sofort gestorben“, sagte Neuhäuser. Deswegen wurde ihr bei einer Kraniotomie die Schädeldecke geöffnet und ein Stück Knochen, etwa handtellergroß, entfernt. Auch die Fraktur am Oberschenkel wurde mit einem Fixateur behandelt. „Aufgrund der Schwere der Verletzung kam sie nicht wieder zu Bewusstsein und verstarb“, sagte Dr. Neuhäuser – dies geschah, nachdem sie einen Monat im Koma gelegen hatte.

„Eine harte Rasenfläche reicht nicht aus“

Als letztes kam Dr. Manfred Riße, Rechtsmediziner, mit dem medizinischen Gutachten. Er ging darauf ein, dass Sina ständig komatös gewesen sei, die letzten zwei Wochen habe sie im Wachkoma gelegen. Die letzten drei Tage sei ihre Gehirnfunktion unzureichend gewesen. „Das Kind war hirntot. Die Todesursache“, sagte er.

Er bestätigte auch, dass ein handtellergroßer Knochendeckel entfernt war. Das sei nötig gewesen, denn sie habe eine Trümmerfraktur erlitten. Durch den Hirndruck seien Knochenfragmente nach außen getreten, eigentlich würden sie bei einer Trümmerfraktur nach Innen gehen. Doch das Hirn sei so angeschwollen, dass der Druck die Fragmente nach außen gedrückt habe. Sie habe durch den Sturz ein Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades erlitten. Die Schädelverletzung habe sich Sina durch einen Aufprall auf etwas hartes, unebenes zugezogen, heißt es in dem medizinischen Gutachten – und da käme der Felsbrocken in Betracht.

Der Richter wollte wissen, ob diese Verletzung dem Aufprall auf den Felsbrocken verschuldet sei oder auch ein anderer Gegenstand – der Nagel, die Absperrung oder der Boden – in Frage kämen. „Eine harte Rasenfläche reicht nicht aus, um so eine Fraktur zu erzeugen“, sagte der Experte. Für den Nagel sei die Verletzung zu groß gewesen. Bleibe also nur noch der Felsbrocken übrig. Der Felsbrocken, an dem Dr. Spies Blut gesehen haben will.

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