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Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls: Wie die Familie Becker von Leipzig nach Alsfeld kam – Eine Geschichte von Leben in Ost und West, von Angst, Mut und OptimismusDrei Tage zwischen Flucht und Grenzöffnung

ALSFELD. Wenn sich am morgigen Sonntag der Tag des Mauerfalls zum 25. Mal jährt und unzählige TV-Sendungen von dem bedeutsamsten Tag deutscher Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg berichten, dann hat das Alsfelder Ehepaar Martina und Ulf Becker ganz eigene Bilder jener Zeit vor Augen – Erinnerungen an aufregende Tage und Wochen. Die beiden sind in der DDR aufgewachsen und wenige Tage vor der Grenzöffnung geflohen. Vor zwei Tagen, auf den Tag 25 Jahre, nachdem sie mit Kind in ihren Trabi stiegen, um illegal in den Westen zu gehen, erzählten sie ihre Geschichte für Oberhessen-live.

Es ist eine Geschichte voller Emotionen. Das wird schnell deutlich, als die beiden Eheleute an einem Tisch im Durchgang des Restaurants „Kartoffelsack“ anfangen, sich aktiv zu erinnern: mit vielen Gesten und lebendigen Gesichtern. Das Lokal am Marktplatz betreiben sie seit mittlerweile 15 Jahren und tun damit wieder das, womit sie einst schon zu DDR-Zeiten ihren Lebensunterhalt verdienten: mit dem Betrieb einer Gastwirtschaft. Dazwischen aber lagen Zeiten von Frustration, Angst, Hoffnung und Neuanfang, in denen ihnen der Tatendrang und Optimismus zugute kamen, mit denen die Beckers heute noch der Welt begegnen. Ihre Geschichte von Flucht und Neuanfang beginnt im Frühjahr 1989 in dem kleinen Ort Schkeuditz nahe dem Leipziger Flughafen.

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DDR-Leben mit Lada-Stolz, nicht Wartburg, wie zunächst irrtümlich beschrieben: 1984 heiraten Martina und Ulf Becker.

Dort hatten die jungen Leute eines Tages festgestellt: Dieses Leben in der DDR wollten sie nicht mehr. Äußerlich war ja alles dran gewesen, was zum Lebenslauf von 25 beziehungsweise 26 Jahre alten Menschen zählt. „In der Kindheit ging es uns doch gut!“  Nach der Schule eine Koch-Ausbildung in dem berühmten Leipziger Restaurant „Auerbachs Keller“, wo schon Deutschlands Dichterfürst Goethe einst gespeist haben soll. „Dort haben wir uns kennengelernt“, erzählt der heute 51-jährige Ulf Becker. 1984 heirateten sie und zogen in das Dorf mit dem nach Druckfehler aussehenden Namen Schkeuditz: junge Leute voller Drang, ihr Leben zu gestalten.

„Das war doch alles ein einziger Kampf“

Aber der Alltag der DDR verlangte ganz anderes ab. „Das war doch alles ein einziger Kampf“, erinnert er sich. Hauptproblem der Wirtsleute: „Wo kriegen wir die Waren her?“ Hatten sich Gesellschaften angesagt, fuhr er nach Leipzig und suchte nach Lebensmitteln, mit denen der die Gäste bewirtschaften konnte – nicht immer mit Erfolg. „Einmal sollte  es Fisch geben“, erzählt Ulf Becker, und ein wenig klingt dabei der sächsisch-thüringische Dialekt noch durch. Da habe er vergeblich nach frischer Ware gesucht. Was ihm in den Versorgungsbetrieben angeboten wurde, reichte hinten und vorne nicht. „Da konnste vielleicht eine Platte von machen. Sollte ich die abfotografieren und als Anschauungsmaterial an die Wand hängen?“ Die Empörung über das dauernde Hindernis Mangelwirtschaft ist ihm heute noch anzumerken.

Engagierte junge Köche konnten sich an dem Problem abarbeiten, und die Beckers, mittlerweile Eltern einer kleinen Tochter, merkten: „Mit 26 war da nur noch Stillstand.“ So formuliert Martina ihr Empfinden damals: „Es war schlimm!“ In dem Dorf die kleine Gastwirtschaft machen und das war’s? Ohne Aussicht auf bessere Verhältnisse und Entwicklung, ohne Ausweichmöglichkeit? Das wollten sie nicht.

Politik? Die drang nicht permanent in das Leben der Beckers, aber die Diktatur des DDR-Regimes war doch ständig spürbar: in der Präsenz der Staatssicherheit. „Da hat doch jeder jeden bespitzelt“, erinnert sie sich. Jeder – der Nachbar, der Gast am Tresen, sogar der Ehepartner – konnte ein Stasi-Zuträger sein. Einmal sei er von einem Bekannten, einem Partei-Funktionär angesprochen worden. Einer der Nachbarn stand im Verdacht, unlautere, heißt außerhalb der planwirtschaftlich erlaubten Grenzen, Geschäfte mit Fleisch zu machen. Ob er denn nicht mal horchen und berichten konnte. Ulf Becker strafft sich heute noch in der Entrüstung: „Ich hab gesagt: Mach du das doch selbst! Frag du ihn! Ich mach das nicht!“ Das Schlimmste an der Bespitzelung war, da sind sie sich heute einig, das Klima des Misstrauens, dass dabei heraus kam. „Wir wurden ständig bewacht und beobachtet“, erinnert sich seine Frau.

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„Ich habe gesehen, wie die mit den Gefangenen umgehen“

Noch eine Erfahrung machte Angst vor der eigenen Regierung: Ulf Becker arbeitete zwischenzeitlich in einem nahen Gefängnis. „Ich habe gesehen, wie die mit den Gefangenen umgehen.“ Ihm wurde mulmig zumute.

Anfang 1989 waren die Beckers sich auch einig: Sie müssen raus aus dem frustrierenden, beengten Leben der DDR. Im März stellten sie den berüchtigten Ausreiseantrag, der für DDR-Bürger gewöhnlich einen Spießrutenlauf nach sich zog. Nicht aus politischen Gründen übrigens, „wir wussten, dass das Schikane bedeutete“. Man schob gesundheitliche Probleme vor.

Da grummelte es schon gewaltig im SED-Staat, aber es war noch nicht absehbar, dass die Mauer das Ende des Jahres nicht mehr erleben würde. Die Mauer werde noch 100 Jahre stehen, verkündete doch der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker noch im Sommer bei Feiern zum 40-jährigen Bestehen der DDR. Zu der Zeit statteten die Beckers sämtlichen Familienmitgliedern Besuche ab – um sich zu verabschieden. „Wir mussten uns von allen Verwandten lossagen!“ Alle Verwandten mussten unterschreiben, dass sie mit dem abtrünnigen Ehepaar nichts mehr zu tun haben würden, wenn es erst abgereist ist – eine Bedingung für eine Ausreisegenehmigung.

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Gesichter, die Bände sprechen: Martina und Ulf Becker in Anspannung kurz vor der Flucht aus der DDR. Es ist das letzte Bild aus ihrem alten Leben.

Die kam schließlich sogar: Im Dezember 1989, so stand in dem Schrieb, würden Martina und Ulf Becker mit ihrer Tochter Nicole das Land verlassen dürfen. Mittlerweile hatte sich der Widerstand der Bevölkerung gegen das SED-Regime längst ausgeweitet. In Leipzig gab es die legendären Montagsdemos ab der Nikolaikirche. Da waren die Beckers auch dabei: „Montags sind wir immer nach Leipzig gefahren“, erzählt er, „das war unser freier Tag, da ging das“. Sie spürten die Macht des Volkes im vereinten Chor – „Wir sind das Volk!“ – und fühlten: „Das bricht alles auseinander.“ Sie fürchteten aber auch die Reaktion des Staates. Martina und Ulf Becker beschlossen, den Ausgang des Aufstands nicht abzuwarten und auch nicht ihren Ausreisetag. Die Chance schien zum Greifen nah. „Wir wollten raus, bevor das kippt und die Grenze auf ewig dicht ist.“

Ungarn und die nahe Tschechoslowakai boten doch längst Möglichkeiten, den Ostblock zu verlassen. Im Sommer hatten sie schon einmal vor, über Ungarn zu fliehen, es aber gelassen – wegen der Tochter. „Wir hatten Angst, dass die noch schießen!“ Aber nun, im November, sollte es über die Tschechoslowakai versucht werden. In aller Heimlichkeit bereiteten sie ihre Abreise vor, nahmen heimlich getauschte 100 Markt West in einer Cremedose mit. „Damit wir erst einmal was hatten.“ Sie sagten auch der sechsjährigen Tochter nichts, damit die sich nicht verplappert. In einen Urlaub sollte es gehen, bekam die Kleine am Abreisetag erklärt. Das war am 6. November 1989. Mit Freunden in zwei Autos ging es gen Süden. Offizielle Begründung: der Besuch eines Weinfestes. „Aber gleich hinter der Grenze sind wir rechts abgebogen und haben uns in die Schlange gestellt.“ Die Einreise in die Bundesrepublik klappte ohne Probleme.

Der Westen: eine ganz andere Welt. Das stellten Martina und Ulf Becker sofort fest. „Gänsehaut!“ Mit dem Wort erinnert sich Martina Becker an die ersten Tage im Westen: „Du denkst dir… Wow!“ Alsfeld war ihr Ziel: Dort gab es Verwandte und Bekannte. Erste Station war aber das Auffanglager für DDR-Flüchtlinge in Hammelburg. Für die große Zahl Menschen war die Kaserne geräumt worden, und die Beckers waren überwältigt: „Man gab sich ganz viel Mühe für uns. Und was es alles gab…!“

„Das schönste Weihnachten, das wir jemals hatten“

Nach drei Tagen ging die Reise weiter, am 9. November 1989 erreichte die Familie Alsfeld – der Tag, an dem die Grenze unerwartet plötzlich für alle durchlässig wurde. In einer Kellerwohnung in Altenburg kamen die Flüchtlinge erst einmal unter, und dann erlaubte die nun offene Grenze ein Happy-End, wie sich die Beckers es sich nicht erträumt hatten: Der Kreis schloss sich, sie holten die Eltern in Leipzig ab. Weihnachten 1989 feierte man in Alsfeld gemeinsam, und ein Leuchten huscht über ihr Gesicht, wenn Martina Becker sich daran erinnert: „Es war das schönste Weihnachten, das wir jemals hatten.“

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DDR-Freuden: Ulf Becker mit eigenem Trabant.

Der Rest ist Geschichte. Die deutsch-deutsche Euphorie blieb nicht lange bestehen, und auch Ulf Becker musste sich später manches Ossi-Vorurteil anhören, wenn unter Kollegen diskutiert wurde. Das gänzlich ungewohnte Leben im Westen verlangte den Beckers viel Umstellung ab. Beim ersten Einkauf, erzählt sie, „da wurde mir richtig schlecht, weil es von allem so viel gab.“ Zugleich der Schrecken: „Oh, Gott! Alles ist viel teurer!“ 2,50 D-Mark für eine Bratwurst – also 25 Mark Ost! Martina Becker schüttelt heute noch den Kopf.

„Wir haben jeden Job genommen, der sich bot“

Aber beide waren entschlossen, ihr Leben selbst zu meistern, „Wir haben zwei gesunde Hände!“, sagt er, „wir haben jeden Job genommen, der sich bot“. Die Beckers wollten unbedingt auf eigene Füße kommen. Schließlich fand er eine feste und langjährige Anstellung beim Möbelhersteller Welle, und sie übernahm vor 15 Jahren das Restaurant „Kartoffelsack“. Als die Tochter zum Studieren das Elternhaus verließ – übrigens in Leipzig, und heute lebt sie in Dresden – stieg er auch noch in das Restaurant ein – „noch einmal Durchstarten“, nennt er das. Leipzig, das ist lange her, aber heute ist die Stadt vom Gefühl her viel mehr ihre „tolle, alte Heimat“, als sie früher ihre „Heimatstadt“ gewesen ist.

Was lernt man aus so einem Leben in zwei Welten – in den Jahren ziemlich genau aufgeteilt zwischen Ost und West? Vor allem, da zeigen die Beckers sich einig, dass nichts so selbstverständlich ist, wie es manchmal scheint: die Freiheit, der Wohlstand. Man muss es sich erarbeiten. Das Leben erreicht zu haben, das sie heute umgibt, macht die beiden zufrieden. „Wir haben Arbeit, uns geht es gut“, fasst Ulf Becker zusammen. „Wir waren immer happy und sind es immer noch!“

Von Axel Pries

3 Gedanken zu “Drei Tage zwischen Flucht und Grenzöffnung

  1. Sehr schöner Bericht.
    Ich kenn die zwei.
    Das erste Bild ist kein Wartburg sondern ein Lada.

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