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Unterwegs mit Jehovas Zeugen – Die ReportageMit den Worten Gottes von Haus zu Haus

ALSFELD. Sie feiern keine Geburtstage, nicht mal den von Jesus. Sie klingeln an fremden Türen und wollen über Gott reden. Für ihn würden sie notfalls sogar in den Tod gehen, denn Bluttransfusionen sind ihnen verboten. Das ist das, was man über die Zeugen Jehovas so hört. Doch wer sind die Menschen, die in Fußgängerzonen Zeitschriften mit dem Namen Wachtturm verteilen? Warum unterwerfen sie sich solchen Regeln? Was treibt sie an?  Und sind sie wirklich Mitglieder einer Sekte? Ein geglückter Kennlernversuch.

Heute geht es dem Sohn von Rita Süßkind* wieder besser. Er ist 17, macht bald seinen Führerschein.  Friedhelm Schlöffel und Tochter Hanna stehen in der kleinen Einfahrt vor Frau Süßkind – und auf verlorenem Posten, den Wachtturm im Gepäck. Die Argumente der Zeugen Jehovas verpuffen. Es gäbe selbst Ärzte, die den Glauben wechseln, um bloß kein Fremdblut zu bekommen. Die Medizin könne heute auch oft ohne Spenderblut heilen. All das will Rita Süßkind nicht hören. Die junge Frau ist sich sicher: Wäre sie Zeugin Jehovas, hätte der Blutkrebs über ihren Sohn gesiegt. Kein Gott der Welt hätte sie dazu gebracht, ihrem Kind die rettende Transfusion vorzuenthalten. Nie und nimmer. Jehovas Meinung dazu ist hier unerwünscht, der Bekehrungsversuch gescheitert.

Ein fremder Name für einen bekannten Gott

Jehova – heute geht das wie von selbst über Friedhelm Schlöffels Lippen. Über Gott zu sprechen, das musste er nicht erst neu lernen. Es war sogar mal Teil seines Berufs. Vor 30 Jahren arbeitete der ehemalige Schreiner bei der Diakonie. Aber seinen Schöpfer bei diesem Namen zu nennen – das kostete schon Überwindung – und sein bisheriges Leben.

Der Umbruch begann, als seine Frau Christiane eines Tages im Jahr 1984 auf den Türsummer drückte. Plötzlich stand da jemand, der ihr von Gott und seinem Paradies erzählen wollte. Christiane Schlöffel war schwanger und hatte mit Religion herzlich wenig am Hut. „Aber es interessierte mich schon, warum eine Frau, die offensichtlich in ganzen Sätzen reden konnte, an sowas glaubt“, erzählt die mittlerweile 54-Jährige. Sie ließ sich ein auf das Gespräch, traf sich mit den Zeugen zum Bibelstudium. Vielleicht war ja doch was dran?

Ihr Mann hatte nichts dagegen, fing an, sich ebenfalls mit den Zeugen zu beschäftigen. Dennoch war er skeptisch. Friedhelm Schlöffel, der gläubige Christ, hat zu dem Zeitpunkt ein Buch gelesen:  „Jesus Christus Menschensohn“ von Rudolf Augstein. 360 Seiten, die erklären, wo die Bibel sich überall widerspricht. Er war heiß darauf, den Anhängern Jehovas zu zeigen, auf was für einem Holzweg sie waren. Doch der Schuss ging nach hinten los. Friedhelm Schlöffel traf auf einen Zeugen, der sich einfach nicht beirren ließ. Das beeindruckte ihn. Jetzt wollte es der ehemalige Schreiner mit Germanistikabschluss genau wissen. Bald saß Schlöffel mit fünf unterschiedlichen Bibeln am Tisch, wälzte Seiten, suchte Widersprüche. Mit der Zeit reifte eine Erkenntnis in ihm: Das, was da stand, war tatsächlich Gottes – oder besser gesagt – Jehovas Wort, und damit schlussendlich für ihn überhistorisch, unantastbar und wahr.

JAL_3020Bibel in der Hand, Wachtturm im Gepäck: Hanna und Friedhelm Schlöffel haben gerade an dem Haus in Breitenbach geklingelt. Ob man mit ihnen reden wird?

Es war ein langer Prozess, bis der inzwischen 60-Jährige bereit war, Konsequenzen aus seinem neu gefundenen Glauben zu ziehen. Zeuge sein und bei der evangelischen Kirche arbeiten? Das passte nicht zusammen.  Es hatten sich sowieso ein paar Dinge angesammelt, die ihn an seinem Arbeitgeber störten. Schlöffel hatte den Eindruck, die Pfarrer legten die heilige Schrift so aus, wie es ihnen gerade passte. Mal sagten sie, nur Gott könne Frieden schaffen, mal gingen sie, das Bodenpersonal, mit auf die Straße, um gegen die Pershingraketen zu demonstrieren. Schlöffel war auch da und rief nach Frieden. Was ihn störte, war die Doppelzüngigkeit der Kirchenleute.

Er gab sich einen Ruck und kündigte. Etwa drei Jahre zuvor hatte er erstmals mit den Zeugen zusammen die Bibel studiert. Heute unterrichtet er Deutsch und Sport an der Max-Eyth-Schule in Alsfeld. Seine besten Freunde verstanden damals die Welt nicht mehr. Wie konnte ihr Friedhelm nur auf diese Seelenfänger reingefallen sein? Sein Vater war zutiefst enttäuscht, als der einzige Sohn nicht zu seinem 60. Geburtstag auftauchte. Nein, Friedhelm Schlöffel erwartet nicht, dass die Leute, bei denen er klingelt, auf der Türschwelle konvertieren. Dafür verlangt sein Glaube den Menschen zu viel ab.

Audio-Clip: Darum gehen Zeugen Jehovas nicht wählen

Die Sonne hat die letzten Regenwolken über Breitenbach am Herzberg endgültig vertrieben, als Friedhelm und Hanna Schlöffel von Haus zu Haus ziehen. Dieser Dienstagmorgen soll ein guter Morgen für sie werden. Nach 86 Minuten und 14 Türklingeln wird sie niemand beschimpft, keiner die Polizei gerufen haben. Es sei toll, dass sich Rita Süßkind, die Frau mit dem leukämiekranken Sohn, trotz ihrer Lage auf das kurze Gespräch eingelassen habe, sagt Friedhelm Schlöffel. In seiner beruhigenden, sanften Stimme schwingt Zufriedenheit mit, sein grauer Schnauzer bewegt sich auf und ab, die hellblaue Streifenkrawatte weht im Frühlingswind.

Das eigene Kind wissentlich in den Tod gehen zu lassen – das war auch mal für ihn und seine Frau Christiane undenkbar. Heute, 27 Jahre nach ihrer Taufe als Zeugen Jehovas, hätten beide notfalls die Kraft dazu. Sie täten es nicht einfach so, ohne Skrupel, ohne Hemmungen, ohne ihren Glauben, ihren Gott kritisch zu hinterfragen. Natürlich nicht. Sie lieben ihre Kinder. Doch ihre Liebe zu Gott ist stärker. Sie würden eine Bluttransfusion  ablehnen – im Glauben, das Richtige zu tun.

Für sie ist der rote Lebenssaft etwas Heiliges, von dem die Bibel sagt, der Mensch solle es meiden. Zeugen Jehovas richten ihr ganzes Leben nach den Worten Gottes aus. Friedhelm Schlöffel kann das schöner formulieren. „Wir glauben nicht nur an Gott, wir glauben ihm auch“, sagt er. Die Bibel ist der Kompass für seinen Alltag. Zeigt die Nadel auf gottgefällig, so weiß sich Schlöffel auf dem rechten Weg. Ein Weg, den Außenstehende manchmal schwer nachvollziehen können. „Ich kann mein Leben durch eine Bluttransfusion verlängern, aber ich kann es nicht retten. Aber durch den Gehorsam Gott gegenüber kann ich es retten“, sagt Schlöffel. Starke Worte, die von einem noch stärkeren Glauben zeugen.

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Zu Hause bei den Schlöffels: Mutter Christiane, Vater Friedhelm, Tochter Hanna und Sohn Freddy in ihrem heimischen Wohnzimmer. Sohn Lukas ist gerade in Chile unterwegs.

Friedhelm Schlöffel hat Gottesfurcht, sagt er von sich selbst. Er möchte nichts tun, was seinen Gott kränken würde. Weil in der Bibel kein Wort davon stehe, dass der  Mensch seinen oder Jesu Geburt, also Weihnachten, feiern soll, macht Friedhelm Schlöffel das auch nicht. Und dennoch bekam er von seiner Schule zum 50. einen großen Blumenpott geschenkt, obwohl er das ausdrücklich nicht wollte. Das sei nun mal im Budget vorgesehen, hieß es. Friedrich Schlöfffel schenkte das Gewächs kurzerhand den Sekretärinnen.

Weil er das göttliche Geschenk seines Körpers nicht zerstören will, hat er das Rauchen aufgegeben. 60 Zigaretten am Tag waren keine Seltenheit.  Jehova hasst Gewalt, dennoch hat Schlöffel seine Leidenschaft für Science-Fiction-Filme nicht ganz aufgegeben – obwohl dort viel geschossen wird.  Aus Angst, im Suff Dinge zu tun, die gegen Gottes Regeln verstoßen, vermeidet der Whiskykenner den Rausch. Richtig gelesen. Friedhelm Schlöffel liebt Whisky, Scotch, Single Malt, um genau zu sein. „Natürlich darf ich trinken, es darf mir nur keinen Spaß machen“, sagt er aus Scherz. Er schüttelt den Kopf über Menschen, die denken, Christen wären dazu verdonnert, ein schnarch-langweiliges Leben zu führen.

Haus Nummer vier am Dienstagmorgen,  Hanna ist an der Reihe. „Sie haben es aber schön hier“, ruft die zierliche junge Frau mit der modisch schwarzen Hornbrille dem alten Mann auf seinem Wellblechbalkon zu. Sie stellt sich und ihren Vater vor – und fügt in freundlich, heller Tonlage an: „Wir würden mit ihnen gern über die Bibel sprechen“. Jetzt hat ihr Gegenüber den Braten gerochen. „Sind Sie Zeugen Jehovas?“ fragt der ältere Herr. „Genau, die sind wir“, antwortet Hanna. Von oben hört man noch ein gemurmeltes „Nein danke, Sie können wieder gehen“, damit endet das Gespräch.

Der uralte Anruf-Trick

Immerhin war das ein offen und ehrliches Nein. Besser als bei dem Haus, an dem Hanna und ihr Vater wenig später klingeln. Ein Mann mit grauem Rauschebart öffnet die Tür, sein Bauch füllt das übergroße Polohemd lückenlos aus. Nach einer Weile, gerade als Friedhelm Schlöffel das schwarze Lederetui  mit seiner Bibel drin aufschlagen will, krächzt eine Frauenstimme aus dem Hintergrund. „Rudolf*, Telefon. Deine Chefin ist dran.“ „Oh, die Chefin sagst du? Ja, ich komme“, sagt Rudolf mit monotoner Stimme, als hätte er den Satz auswendig lernen müssen. So schlechte Schauspieler sieht man sonst nur in den  Pseudo-Dokusoaps der Privatsender am Nachmittag. Die Tür geht zu. Der vorgetäuschte Anruf-Trick. Hanna zieht die Augenbrauen hoch. Der ist nun wirklich uralt.

Die 20-Jährige ist fröhlich, lacht, macht Späße mit ihrem Vater auf der Tour durch Breitenbach. Das Predigen ist gerade ihre Lieblingsbeschäftigung, sagt sie. Bis ihre Ausbildung zur Industriekauffrau startet, möchte sie möglichst viel Zeit damit verbringen. Freddy, ihr 13 Jahre alter Bruder, hat früher gern Zeit am Fußballplatz verbracht.  Aber an zu vielen Wochenenden musste er wählen:  Geht er nun mit seiner Mannschaft kicken, oder doch lieber Gottes Wort verkünden? Freddy entschied sich für das Zweite. Heute schnappt er sich sein Skatebord, wenn er Abwechslung braucht. Ein Hobby ganz ohne Spielpläne und feste Trainingszeiten.

Auf Klassenfahrten war Freddy bislang immer dabei. In zwei Jahren, wenn er in der Neunten ist, werden seine Schulkollegen wohl ohne ihn fahren. Dann ist er in dem Alter, in dem man Bier in Jugendherbergen schmuggelt und die Korken knallen lässt. Freddy, seines Zeichens gerade der Sprecher seiner Klasse und Schulstufe, hat Angst, wieder vor die Wahl gestellt zu werden: Trinkt er mit oder hört er auf sein Gewissen? Um den Druck auszuhalten, muss er Jehova noch ein Stückchen näher kommen. Deswegen geht er der Konfrontation erst einmal lieber aus dem Weg.

Manchmal muss der Glaube noch wachsen

Freddy bewundert seine große Schwester für ihren starken Glauben. Hanna schafft es heute, auf Partys dabei zu sein, ohne Jehova enttäuschen zu müssen. Wäre sie nicht gerade in Brasilien gewesen, wäre sie liebend gerne auf ihren Abiball gegangen, sagt sie. Verboten haben ihre Eltern ihr das Feiern nie, sagt Hanna.  Sie habe aus freiem Willen die Einladungen ihrer Schulkollegen meistens ausgeschlagen. „Weil ich wusste, ich mache das Richtige.“

Doch wie frei kann ein Wille sein, wenn die Wahl der Alternative so krasse Folgen hätte? Friedhelm Schlöffel macht kein Geheimnis daraus: Würde eines seiner Kinder Jehova nicht mehr nachfolgen, so würden sich ihre Wege trennen, der Kontakt auf ein Minimum zusammenschrumpfen. „Unser bester Freund ist Jehova, unser Gott. Der hat uns gemacht. Und natürlich lässt er mir den Freiraum, einen anderen Freund zu besuchen, aber wenn dessen Wertvorstellungen mit denen meines größten Freundes kollidieren, hätte ich es immer leicht, eine Entscheidung zu treffen.“ Und seine Tochter sei zwar seine beste Tochter – aber eben nur sein zweitbester Freund, fügt der vierfache Vater hinzu. Er lächelt dabei.

Es wäre falsch zu behaupten, die Ohren der Menschen in Breitenbach seien an diesem Tag für die Botschaft Gottes gänzlich verschlossen. Schon bei Haus Nummer drei, einem alten Bauernhof, landen Hanna und ihr Vater einen Treffer. Stromkabel ragen aus der Wand des großen, weißen Wohnhauses. Es wird renoviert.

Sie sei nicht besonders gläubig, wenn ihr aber danach sei, lese sie dennoch in der Bibel. Jedoch nur an einem bestimmten Ort, sagt die kräftige Frau Mitte-Ende vierzig mit der giftgrünen Brille auf der Nase, die die Tür öffnet. „Ich habe auch so einen Ort – das Grab meines Sohnes“, sagt Friedhelm Schlöffel. Sein ältester Sohn Hannes ist vor einigen Jahren an einer Bakterieninfektion gestorben. Nein, man hätte ihn nicht mit einer Transfusion retten können, beteuert der Vater. Auch wenn die Leute im Dorf das immer wieder gesagt hätten. „Bei mir ist es das Grab meiner Eltern“, erwidert die Frau. Friedhelm Schlöffel spürt: Hier ist jemand auf der Suche nach Spiritualität. Vielleicht sogar nach Jehova.

Nach acht Minuten Gespräch über Werte und Moral nimmt die Frau einen Wachtturm und eine Einladung zu einem besonderen Gottesdienst mit in das alte Bauernhaus. Am 14. April gedenken die Zeugen dem Tode Jesu. Das ist für sie der höchste christliche Feiertag. Friedhelm Schlöffel zückt seinen kleinen Notizblock mit dem grünen Plastikdeckblatt und vermerkt die Bibelstellen, die er der Frau gerade vorlesen durfte. Jakob 4,8, Johannes 4,16 und eine Passage aus dem Römerbrief. Wenn er wieder seine Tour durch Breitenbach geht, wird er hier anknüpfen. Schon morgen wird Hanna wieder hier sein und dem Herrn aus Rumänien, der unterhalb des Hofes wohnt, etwas in seiner Muttersprache zu lesen bringen. Jehovas Wort kennt keine linguistischen Grenzen. Der Wachtturm erscheint halbmonatlich in 213 Sprachen. Rumänisch hatten sie heute nur nicht eingesteckt.

Göttliche Botschaft in Schriftform: Mit diesen Heftchen und Broschüren sind die Zeugen Jehovas unterwegs. Das bekannteste Blatt dürfte der Wachttum sein.

Göttliche Botschaft in Schriftform: Mit diesen Heftchen und Broschüren sind die Zeugen Jehovas unterwegs. Das bekannteste Blatt dürfte der Wachttum sein. Darin werden aktuelle Themen ihres Glaubens behandelt. Das Geld für den Druck und die anderen Kosten der Glaubensgemeinschaft kommt aus freiwilligen und anonymen Spenden.

Schlöffels machen das freiwillig. Niemand zwingt sie dazu, mit ihrem Glauben hausieren zu gehen. Mindestens 70 Stunden investieren sie dafür im Monat pro Nase. Aber Friedhelm Schlöffel sagt auch: „Man kann kein Zeuge Jehovas sein, wenn man kein Zeugnis gibt. Das ist wie ein Zeuge im Gerichtssaal, der nichts sagt. Den kann man nicht gebrauchen.“ In Rollenspielen bereiten sich die Verkündiger des göttlichen Wortes auf ihre Mission vor. Eine Lektion aus dem Unterricht lautet zum Beispiel: Mit einem jungen Menschen redet man besser über seine Zukunftsängste als über den Tod. Alte Marketingregel eben: Die Botschaft muss auf den Empfänger passen.

Ortswechsel. Ein Mittwochabend im März, 18.53 Uhr. Der große Raum in dem länglichen Gebäude unterhalb des Alsfelder Lidl-Marktes füllt sich langsam. Es ist der Königreichsaal, die Kirche der Alsfelder Zeugen Jehovas Gemeinde. Drei Mal die Woche ist Familie Schlöffel hier. Samstags, sonntags und eben mittwochs.

Das Ambiente erinnert an Veranstaltungsräume amerikanischer Kleinstadthotels. Der Fußboden ist mit rot-blau gemusterten Kurzhaarteppich ausgelegt, ein paar Leute haben bereits auf den grau-bläulichen Stoffstühlen mit den glänzenden Edelstahlfüßen Platz genommen. Jeder begrüßt jeden mit Handschlag. Ungefähr 60 Menschen haben heute den Weg hier her gefunden. Kein Altar, bloß ein Rednerpult, Plastikblattwerk und ein runder Esstisch – ein Requisit für die Rollenspiele – stehen auf der kleinen Bühne.

Kirche ohne Kreuz und Altar: So sieht es im Königreichsaal der Zeugen Jehovas in Alsfeld aus.

Kirche ohne Kreuz und Altar: So sieht es im Königreichsaal der Zeugen Jehovas in Alsfeld aus.

Obwohl die Zeugen Christen sind, findet sich in ihrer Kirche kein einziges Kreuz. Sie sind der Meinung, Jesus sei viel mehr an einer Art Marterpfahl als einem Holzstamm mit Querbalken  gestorben. Das stehe so in der Urform der Bibel. Eigentlich ist das auch egal. Sie kämen sowieso nicht auf die Idee, den Gegenstand, an dem ihr Erlöser gestorben ist, als göttliches Symbol zu verehren.

Die Zeugen betrachten nicht sich selbst, sondern die etablierten Kirchen als Sekten, weil sie in ihren Augen den ursprünglichen Glauben verfälschen. In Deutschland sind Jehovas Anhänger seit 2005 eine Körperschaft des Öffentlichen Rechts und damit eine anerkannte Glaubensgemeinschaft mit schätzungsweise 165.000 Mitgliedern. Sie könnten sogar Kirchensteuern verlangen, doch dieses Recht lassen sie ruhen.

Beim Gottesdienst, der hier schlicht Versammlung heißt, gibt es keine Liturgie, keine pompösen Rituale. Die Auseinandersetzung mit Gott steht im Vordergrund. Unter der Anleitung eines Predigers, der aus der Mitte der Gemeinschaft kommt, arbeiten sich die Männer und Frauen durch die religiösen Texte, die jeder von ihnen in gebunden in DIN A6 großen Büchlein dabei hat. Manche machen sich Notizen, unterstreichen Worte wie Weisheit, Liebe und Gerechtigkeit.

In den Fußnoten der Heftchen stehen klein gedruckt Fragen zu den Texten, die die Gemeinde zusammen beantwortet. „Warum wird nur Jehova der Allmächtige genannt?“, steht da zum Beispiel. Oder „warum lässt Jehova zu, dass die Menschheit dem Leid ausgesetzt ist?“ Wer sich meldet und aufgerufen wird, darf in eines der Mikrofone an einem langen Stab sprechen, welche zwei Männer durch den Saal tragen.

Vertieft in die Schrift: Während ihrer Versammlung, wie der Gottesdienst hier heißt, lesen und erörtern die Zeugen gemeinsam biblische Texte.

Vertieft in die Schrift: Während ihrer Versammlung, wie der Gottesdienst hier heißt, lesen und erörtern die Zeugen gemeinsam biblische Texte.

Auch Friedhelm Schlöffel bekommt Besuch vom Mikrofon. Er ist froh, in einer Demokratie zu leben. Hier kann er seine Religion frei ausüben, sagt er. Wann er das letzte Mal sein Kreuzchen gemacht hat, weiß der ehemalige Friedensaktivist nicht mehr. Er ist der festen Überzeugung, dass der Teufel seit genau 100 Jahren die Welt regiert – und Politik wird daran nichts ändern.  Zwei Weltkriege, Naturkatastrophen, die Habgier der Menschen – für ihn sind das Beweise für die Herrschaft des Bösen. Sein Glaube hilft ihm, damit zu recht zu kommen. „Ich habe keine Angst, vor dem, was da noch kommt“, sagt Schlöffel. Nur eines, das möchte er wirklich gerne wissen: Wann schlägt Jehova Satan endlich in die Flucht und errichtet auf der Erde sein Königreich, das er den  Menschen schon so lange versprochen hat?

*Namen geändert.

Von Juri Auel – mehr über den Autor

6 Gedanken zu “Mit den Worten Gottes von Haus zu Haus

  1. Schöner offener Bericht und fesselnd im Detail!
    Wenn Sie mich fragen so sieht guter Journalismus aus und man freut sich diesen Artikel objektiv erfasst, der die Stimmung der beteiligten gut einfängt.

    Viele andere befassen sich auch mit den Zeugen, lassen aber nur die Konkurrenz zu Wort kommen, die dann möglichst verhindern möchten das ihre eigenen Mitgleider ein allzu positives Licht von den Zeugen haben. Oft verknüpft mit der Mahnung jeden Kontakt zu Zeugen zu unterbinden.

    Freiheit und Demokratie ist eben auch mehr über andere erfahren zu dürfen und das unvoreingenommen.

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  2. Meister Eckehardt – ein mittelalterlicher Mönch – sagte einmal, er wolle lieber ein Lebemeister, denn ein Lesemeister sein. Damit bringt er [i]wirkliches[/i] Christsein auf den Punkt. Es kommt nicht auf das Lesen (der Bibel), auf das Predigen an – sondern auf das neue Leben, dessen Quell nun die Identifikation mit der eigenen ewigen Natur (Gott in uns) und nicht mehr, wie bisher, die Identifikation mit der Materie (physischer Leib)ist. Durch dieses andere Ausrichtung wird man immer unabhängiger von äußeren Dingen und damit immer glücklicher und gesünder.
    Denn alle Triebe und Begierden, alles Anhaften an den Dingen dieser Welt bringt letzten Endes Leid. Für einen Erlöster, wie man es durch die Identifikation mit dem Ewigen wird, ist das Leben in der Welt schließlich nicht mehr eine todernste Angelegenheit, sondern ein unterhaltsames Spiel.(Siehe auch: [url=http://geheimnisdesmenschen.blogspot.de/2010/02/der-weg-zum-heil-teil-1.html]Der Weg zum Heil.)[/url]
    Zeugen Jehovas ändern aber nicht in dem genannten Sinne ihr Leben. Dazu ist ihre Lehre nicht geeignet.
    Soweit ein kritischer Kommentar, der sicher auch gehört werden sollte.

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  3. Schöner Artikel. Objektiv geschrieben. Es ist erfrischend, daß hier keine vorgefasste Meinung vertreten wird, sondern berichtet wird, wie Zeugen Jehovas wirklich sind. Guter Journalismus

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  4. Ich staune, daß jemand einmal das Interesse aufbringt, MIT den Gliedern dieser Religionsgemeinschaft zu reden , nicht nur ÜBER sie.
    Nahezu alle, die wir aus dieser Gemeinschaft kennengelernt haben, sind grundehrlich, sehr humorvoll und – sie freuen sich Ihres Lebens. Das was sie von den anderen Gemeinschaften unterscheidet: Sie haben Maßstäbe, die sie nicht selbst festsetzen, sondern leben nach denen der Heiligen Schrift. Was sich in unserer Nachbarschaft positiv auswirkt, denn fast alle unseren anderen Nachbarn sagen: “ Mein Massstab? Entscheide ich selbst, was für mich gut ist.“ Diese Nachbarn wirken auf uns keineswegs glücklicher, im Gegenteil. Hut ab vor diesen wirklich praktizierenden Christen!

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  5. Man muss uns ja nicht mögen, aber man sollte die Wahrheit über uns erfahren. Es sind genug Lügen im Umlauf. Danke Juri, für diesen Artikel! Da kann man tatsächlich nichts dran aussetzen.

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  6. Ein hervorragender Artikel, der ENDLICH ENDLICH ENDLICH mal objektiv und REALISTISCH über Zeugen Jehovas berichtet. Und dazu noch amüsant geschrieben. DANKE

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