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Nach Schmähung eines OL-Reporters am Lauterbacher SockenfestWer Lügenpresse ruft, schadet damit einem ganzen Land

MeinungMEINUNG|LAUTERBACH. Das höchste Gut eines Journalisten ist seine Glaubwürdigkeit. Gerade deshalb sind Beschimpfungen wie „Lügenpresse“ das Schlimmste, was man einem Reporter hinterherrufen kann. Am Lauterbacher Sockenfest ist genau das OL-Reporter Till Schmelz passiert. Davon leidet aber nicht nur der Journalist, sondern ein ganzer Staat. Eine Verteidigung.

Wer etwas über das Selbstverständnis von Journalisten erfahren möchte, der sollte sich unbedingt den Film „die Verlegerin“ ansehen. Darin geht es, grob gesagt, darum, wie die Washington Post und die New York Times geheime Regierungsdokumente über den Vietnamkrieg enthüllen  – und somit die Sicht einer ganzen Nation auf einen schreckliches Massaker. Die Berichte lösen Proteste aus. Menschen gehen auf die Straße, um gegen die Lügen der Regierung zu demonstrieren. In der Hand halten sie die Zeitungen, die die Vertuschungen ans Licht gebracht haben.

Die vierte Gewalt

Wer als Journalist diesen Film angeschaut und keine Gänsehaut bekommen hat, hat definitiv den falschen Beruf. Denn der Streifen zeigt, wonach jeder Reporter, der seinen Job ernst nimmt, mit jedem Buchstaben, den er tippt, strebt: das Finden und das Veröffentlichen der Wahrheit – auch gegen größte Widerstände der Mächtigen, den er als vierte Gewalt im Staate auf die Finger schaut.

Die Wirkung des Films wäre um Längen schwächer, wäre er nicht in einer Zeit herausgekommen, in der zumindest gefühlt immer mehr Menschen der Meinung zu sein scheinen, dass Journalisten eben nicht die Wahrheit ans Licht bringen – sondern das genaue Gegenteil tun. Dass sie weiter Skandale aufdecken, geht dabei unter. Dabei passiert das Tag für Tag. Und das nicht nur, wenn ein Donald Trump US-Präsident ist. Die Ermittlungspannen bei der Suche nach dem NSU, die Abgasbetrügereien der deutschen Autobauer, die in den „Panama Papers“ enthüllten Steuertricks der Superreichen – die Liste von Beispielen, in denen Journalisten Verfehlungen aufdeckten, ist lang.

Jetzt könnte man meinen, dass der Vertrauensverlust nur etwas ist, womit überregionale Medien zu kämpfen haben. Doch wer so denkt, der irrt.

Auch der Journalismus im ländlichen Städtchen Lauterbach muss sich gegen den Nachruf der „Lügenpresse“ verteidigen. Foto: archiv/tsz

Am Lauterbacher Sockenfest wird dem Autor dieses Textes aus heiterem Himmel der Begriff „Lügenpresse“ an den Kopf geworfen. In diesem Moment hält ein Lokaljournalist kurz die Luft an und lässt seine letzten Veröffentlichungen Revue passieren. Man hinterfragt den Wahrheitsgehalt eines jeden Satzes, den man zu Papier gebracht hat. Man fängt im Kleinen an, bei dem lokalen Kaninchenzüchterverein, weiter aufsteigend über die Zitate verschiedenster Politiker und deren Richtigkeit und endet bei den permanent steigenden Kosten für ein Bauprojekt, die der Öffentlichkeit vorenthalten wurden. Welche Schandtat kann man ungewollt vertuscht haben, durch welche einem ein solch hasserfüllter, die Glaubwürdigkeit entziehender Begriff aus der hinteren rechten Ecke eines Stadtfestes an den Kopf geworfen wird?

Eine gefühlte Realität gibt es nicht

Die Schilderung des Vorfalls wird in weniger als 48 Stunden auf Twitter über 2000 Mal geteilt und knapp 15.000 Mal geliked. Etliche Nutzer amüsieren sich über den Lügenpresse-Rufer, während andere sich über die angeblich gekaufte Arbeit von Pressemenschen echauffieren. Ein Rechter zitiert Brecht, ein Linker zieht Nitzsche zu Rate. Es entbrennt ein Streit darüber, welche Gruppe größer ist, die links-grün Versifften oder das rechts-braune Pack. Es tritt an Gefühlsrealität gegen Gefühlsrealität. Und das ist äußerst gefährlich. Was nicht in die eigene Wirklichkeit passt, wird ausgeblendet. In Zeiten von „alternativen Fakten“ und Filterblasen ist das eine Leichtigkeit.

Ja, auch Journalisten machen Fehler. Und das passiert, so wie die Enthüllungen, auch leider täglich. Doch wer nicht nur im Scherz „Lügenpresse“ ruft, sei es in Dresden, Chemnitz oder Lauterbach, der lässt damit nicht seinen Frust über einen falsch geschriebenen Nachnamen in der Zeitung heraus. Er wirft Journalisten keine Flüchtigkeitsfehler vor, sondern unterstellt ihnen mit Vorsatz das Falsche zu schreiben.

Eine Meinung, die von Gefühlen und nicht von Fakten gesteuert wird, ist eine gefährliche Waffe. Sie schafft Nährboden für das, was die Menschen „alternative Fakten“ nennen, um die Realität so du drehen, wie es in ihr Weltbild passt. Wie groß der Wahrheitsgehalt einer solchen Aussage ist, wie sie beispielsweise der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen mit seinen bisher unbelegten Zweifeln an einem Video zu dem Chaos in Chemnitz traf, das ist den meisten Menschen im Nachgang egal. Deswegen ist der Vorwurf, die nach Wahrheit strebende Presse würde nur noch lügen, so zersetzend und ungeeignet dafür, berechtigte Kritik am Verhalten der Medien zu unterstreichen.

Diskussion statt Diskreditierung

Gerade bei Lokalzeitungen ist es heute so einfach wie nie, als Leser seine Meinung loszuwerden. Mit einer E-Mail, einem Anruf, einem Kommentar unter dem Artikel oder ganz klassisch einem Besuch in der Redaktion um die Ecke. Das alles ist besser, als die Reporter der Zeitung pauschal und urplötzlich auf einem Volksfest zu beleidigen. Nicht alles, was nicht ins eigene Weltbild passt, ist falsch. Jedoch gibt es immer verschiedene Blickwinkel auf ein und dieselbe Wahrheit. Ein vernünftiger Dialog kann dabei helfen, den anderen Betrachter der Wirklichkeit zu verstehen. Das nennt man am Ende eine funktionierende Gesellschaft.

Die Washington Post hat seit einigen Jahren einen neuen Slogan. „Democracy dies in Darkness“ – Demokratie stirbt in der Dunkelheit. Hoffen wir, dass es auch in Zukunft noch genug Mutige gibt, die das Licht am Leuchten halten. In den fernen USA genauso wie im beschaulichen Lauterbach.

6 Gedanken zu “Wer Lügenpresse ruft, schadet damit einem ganzen Land

  1. Wenn man einem Journalisten eine Schmähung nachruft, ist das zum Glück noch kein Nachruf auf den Lokaljournalismus (siehe Bildunterschrift auf dem zweiten Foto). Oder ist jemand gestorben?

  2. Im Kommmentar von „tiefere ursachen“ steht eine wichtige Frage, die sich alle Journalisten stellen sollten:
    Zitat: „…zuletzt mal eine Pressemeldung der Kreispressestelle kritisch hinterfragt? Werden diese Verlautbarungen, die da immer brav im vollen Wortlaut wiedergegeben sind, denn auch jedes Mal auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft, um den Mächtigen auf die Finger zu schauen?“

    Meiner Ansicht nach geschieht dies überhaupt nicht mehr – unsere Medien sind in einem Zustand, der an die Zeit in der DDR in den 80ger Jahren kurz vor der Wende erinnert. Es findet so gut wie keine Hinterfragung von angebotenen Quellen mehr statt, die Allgemeinbildung der Journalisten lässt Sie Flächenangaben in Vielfachen von Fußballfeldern, Gewichte in Äquivalenten zu VW-Käfern oder Bussen und anderen Quatsch verzapfen.
    Und wer das Ganze kritisiert wird als Anhänger von Fake-News bezeichnet und damit aus der Diskussion ausgeschlossen.
    Traurig

  3. >> Das höchste Gut eines Journalisten ist seine Glaubwürdigkeit. <<
    Ob das wirklich so ist? Setzt sich der "Qualitätsjournalist" tatsächlich nach Feierabend hin und sagt sich erschöpft, aber glücklich: "Mein Gott, was war ich heute wieder glaubwürdig!"? Till Schmelz entwickelt hier ein sehr idealistisches Bild seiner Profession, das sicherlich der Euphorie der beruflichen Startphase geschuldet ist. Aber er sollte wissen: Das höchste Gut eines Journalisten sind seine Unabhängigkeit, charakterliche Standfestigkeit und Kritikfähigkeit. Glaubwürdigkeit als persönliche Eigenschaft finde ich schwierig. Es gibt keinen Glaubwürdigkeits-TÜV für Journalisten. Und auch keinen Anspruch darauf, für glaubwürdig gehalten zu werden. Mit seiner Beteiligung am öffentlichen Diskurs setzt sich der Journalist auch der öffentlichen Kritik an seiner Arbeit aus. Andere kritisieren, aber selbst kritikempfindlich… Ich glaube, jeder hat schon mal diesen Typ des selbstgerechten Rechthaber-Journalisten kennen gelernt. Ich habe aus diesem Grund sogar mal mein Abonnement beim Lauterbacher Anzeiger gekündigt, nachdem einer meiner Leserbriefe zu einem LA-Artikel von der Redaktion dann noch einmal kommentiert worden war, sozusagen um die unliebsame Meinung "zurecht zu rücken", was absolut nicht mit dem eigenen Pressecodex der Zeitungsverleger vereinbar war. Darin enthalten war zu allem Überfluss auch noch eine unterschwellige Bewertung meiner Person, indem ein Vergleich gezogen wurde zu dem, was die in meinem Leserbrief kritisierte Institution wohl für das Gemeinwohl leiste, bevor ich überhaupt morgens aufgestanden sei usw.
    Sicher in diesem Zusammenhang noch wichtig zu wissen: Die Zentralredaktion des Blattes in Gießen, die sich mehrmals angelegentlich nach dem Grund meiner Kündigung erkundigte, weil Tageszeitungs-Abonnenten natürlich rar sind, gab mir in der Sache absolut Recht.
    Das Beispiel zeigt: Das höchste Gut des Journalisten sind Integrität, Professionalität (Beherrschung der handwerklichen Regeln!) und Kritikfähigkeit, wozu auch die Fähigkeit zur Selbstkritik und vor allem solides Wissen über den jeweiligen Gegenstand der Berichterstattung gehören. Dann stellt sich als Ergebnis auch Glaubwürdigkeit ein. Doch diese schwebt eben nicht wie ein Heiligenschein über dem Haupte des Journalisten, sondern muss Tag für Tag gegen alle Anfechtungen (Rücksichten, Einflussnahmen, Arbeitsbedingungen, die wenig Zeit zur exakten Recherche, ja nicht mal zum Überprüfen der Rechtschreibung lassen, usw.) als Anspruch eingelöst werden. Ob dies dann von jedem anerkannt wird, ist eine andere Sache. Fragen Sie mal Lehrer, Polizisten, Finanzbeamte oder Gerichtsvollzieher, wie die so mit der öffentlichen Anerkennung ihrer "Kundschaft" zufrieden sind.

  4. Mit diesem Artikel nehmen sie sich die Freiheit zu behaupten als Journalist objektiv zu berichten.

    Oft wird in den Massenmedien nur einseitig berichtet oder Fakten (bewußt) weggelassen.

    Dabei entsteht der Eindruck sie wären nur noch das Büttel der Politik und den Herausgebern. Die Medien sind selber schuld dass ihnen keiner mehr glaubt.

    Ich lese schon lange keine Massenmedien mehr. Die versuchen nur die Bevölkerung zu manpipulieren. Das wird ihr Artikel auch nicht ändern.

  5. Das Verhalten ist natürlich nicht korrekt. Aber solche Vorwürfe muss man sich bei einseitiger Berichterstattung schon gefallen lassen. Man könnte es allenfalls noch auf „Lückenpresse“ abmildern. Unliebsame eigene Meinungen werden z.B. auch bei Oberhessen Live gar nicht veröffentlicht. Zum Beispiel mein Kommentar zur Rolle der Kirchen und Wohlfahrtsverbände in der Flüchtlingspolitik. Das diese sich daran eine goldene Nase verdienen und von daher ein großes Interesse an immer mehr Migranten besteht. Und das diejenigen, die wirklich unsere Hilfe brauchen und verdienen, es gar nicht bis Europa schaffen, weil ihnen die Mittel und die Kraft fehlen. Aber das war jetzt vermutlich wieder Zeitverschwendung, weil auch dieser Kommentar nicht veröffentlicht wird.

  6. <<…wonach jeder Reporter, der seinen Job ernst nimmt […], strebt: das Finden und das Veröffentlichen der Wahrheit – auch gegen größte Widerstände der Mächtigen, den er als vierte Gewalt im Staate auf die Finger schaut.<<
    Wenden wir uns doch einmal von der Washington Post und der New York Times dem journalistischen Alltag in der Provinz zu. Und da nehmen wir als Beispiel gleich mal den….. Trommelwirbel ….. VOGELSBERGKREIS! Wann haben Sie denn, lieber Herr Schmelz, zuletzt mal eine Pressemeldung der Kreispressestelle kritisch hinterfragt? Werden diese Verlautbarungen, die da immer brav im vollen Wortlaut wiedergegeben sind, denn auch jedes Mal auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft, um den Mächtigen auf die Finger zu schauen? Ich hätte da so meine Zweifel.
    Oder nehmen wir die vielen Meldungen, die alle möglichen Personen, Vereine, Parteien, Organisationen und Institutionen gern auf OL veröffentlicht sehen wollen. Reicht es da aus, das oft sehr kräftige Eigenlob oder die gegenüber Dritten ausgesprochenen Lobeshymnen bzw. anders herum die Kritik am politischen Gegner, einer Baumaßnahme oder einem infrastrukturellen Defizit nur in indirekte Rede zu setzen?
    Sicherlich gibt es das Korrektiv des Leserkommentars, mit dessen Hilfe die Dinge von einer anderen Seite beleuchtet, ergänzt oder in Frage gestellt werden können. Aber werden all diese Leserbeiträge – ich meine jetzt nicht irgendwelche Pöbeleien, Beleidigungen oder substanzlose "Anmerkungen", sondern ernst gemeinte und ausreichend belegte Gegenmeinungen, die aber gehörig weh tun können – auch wirklich veröffentlicht?
    Die Desinformation – und dieser Vorwurf steckt ja wohl in dem Wort "Lügenpresse" mit drin – hat viele Gesichter; angefangen bei den Informationen, die man gar nicht erst publiziert, über diejenigen, um die man eine Darstellung (ver)kürzt bis hin zu denen, die man ungeprüft durchwinkt.
    Und da sind Werbung und PR-Kampagnen, die die journalistischen Medien ja ebenfalls transportieren und von denen viele leben, ebenso wenig eingepreist wie die Versuche, deren Erscheinungsbild dem redaktionellen Teil anzupassen, um dem Leser eine "objektive Berichterstattung" vorzugaukeln.
    Bestimmte Interessengruppen ziehen heute alle Register, um ihre Sicht der Dinge öffentlich zu verbreiten und die Meinung des Bürgers in ihrem Sinne zu beeinflussen. Desinformation ist zur Waffe geworden, mit denen Despoten die liberalen Demokratien unterminieren (siehe Moskauer Trollfabrik). Auf die Wissenschaft ist kein Verlass mehr, seit Professoren bei der Wirtschaft Drittmittel einwerben müssen, einem immer stärkeren Publikationszwang ausgesetzt sind und die Wirtschaft Universitäten direkt sponsert oder sogar vollständig unterhält. Und vergessen wir nicht die Sozialen Medien mit ihrer nahezu unbegrenzten Flut von Informationen, deren Qualität für die Rezipienten kaum einzuschätzen ist. Hier lassen sich abstruse Gegenwelten und Echokammern inszenieren, für die mehr Menschen empfänglich sind als man gemeinhin annimmt.
    Nein, die Presse ist leider nicht der Hort der reinen Wahrheit und objektiven Brichterstattung. Das finde ich in einer breiten Palette seriöser Untersuchungen bestätigt. "Wie objektiv ist die Deutsche Presse?" fragt da z.B. das "Handelsblatt" und kommt – gestützt auf eine Untersuchung der Universität Frankfurt – zu keinem schmeichelhaften Ergebnis (https://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/oekonomie/nachrichten/globalisierung-wie-objektiv-ist-die-deutsche-presse/3961604-all.html). Oder schauen Sie mal in das Buch "Meinungsmacht" von Uwe Krüger (https://www.heise.de/tp/features/Journalismusforschung-Ganz-auf-Linie-mit-den-Eliten-3397578.html).
    Ich möchte hier den von Ihnen geschilderten Vorfall auf dem Lauterbacher Sockenfest in keiner Weise rechtfertigen oder relativieren. Aber die Glaubwürdigkeitskrise vieler gesellschaftlicher Institutionen von der Politik über die Wirtschaft und die Banken bis hin zu der Presse hat tiefere Ursachen, die die Empörung über ein solches Einzelerlebnis nicht einfach überspielen kann.

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