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Die Blaulicht-Protokolle: Was Retter im Vogelsberg erleben – Teil 2 mit Notfallsanitäter Mathis Kruse„Viele Menschen sehen in uns eine Art medizinisch-betreutes Taxi-Unternehmen“

ALSFELD. Über 1.000 Einsätze beim Rettungsdienst ist Mathis Kruse im Vogelsberg schon gefahren. Bei manchen Einsätzen verzweifelt aber selbst der erfahrene Notfallsanitäter – wenn der Rettungswagen für Zahnschmerzen gerufen wird, zum Beispiel, oder der Weg zum Hausarzt gar nicht erst auf sich genommen wird. Teil 2 der Serie „Die Blaulicht-Protokolle“.

Die Silvester-Kravalle in Berlin haben ein Thema in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, was in den Nachrichten immer wieder mal vorkommt, aber im Alltag dann doch untergeht: Mangelnder Respekt gegenüber Einsatzkräften in Uniform. Auch wenn Berlin andere Maßstäbe setzt: Das Phänomen lässt sich auch im beschaulichen Vogelsberg beobachten.

OL hat mit jeweils einem Vertreter der Polizei, der Feuerwehr und des Rettungsdienstes gesprochen und gefragt, welche Situationen den Helfern besonders in Erinnerung geblieben sind. Herausgekommen sind: die Blaulicht-Protokolle. Heute mit Mathis Kruse, Notfallsanitäter und Bereichsleiter für Alsfeld beim Rettungsdienst Mittelhessen.

Protokoll von Notfallsanitäter Mathis Kruse

Zunächst einmal: Wir sind in der glücklichen Lage, dass gewalttätige Übergriffe – egal ob körperlich oder verbal – gegenüber uns Leuten vom Rettungsdienst fast gar nicht stattfinden. Das heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Wir haben mittlerweile ein Meldesystem in Betrieb. Kommt ein verbaler oder körperlicher Übergriff vor, soll er dort gemeldet werden. 

Im letzten Jahr gab es vier solcher Übergriffe – zwei davon körperlich, ein rein verbaler und ein versuchter körperlicher Übergriff, zu dem es dann aber nicht kam, weil sich die Kollegen zurückgezogen haben. Diese Taktik lernt man bereits in der Ausbildung, da gehört ein Deeskalationstraining nämlich schon dazu. Dass man ruhig, besonnen und distanziert bleibt, ist dabei essenziell.

Was genau bei den anderen Vorfällen passiert ist, weiß ich nicht. Ich selbst war nicht dabei und hatte auch bislang keinen Fall, wo ein Patient oder ein Angehöriger übergriffig wurde. Jedenfalls nicht mutwillig und absichtlich.

Manchmal kommt es zu Auseinandersetzungen mit Patienten, die durch psychische oder intoxikierte Erkrankungen, also durch Drogen- und Alkohol-Missbrauch verursacht, aggressiv gegenüber den Einsatzkräften werden. Das kommt aber schon immer vor und ist keine Sache, die sich erst in den letzten Jahren entwickelt hat. Häufig sind das Geschichten, die in Zusammenhang mit einer Psychose stehen. Man muss sich das vorstellen: Die Menschen befinden sich in einem psychischen Ausnahmezustand und sind teilweise nicht zurechnungsfähig, benötigen aber medizinische Versorgung.

Es gibt Situationen, in denen man als Notfallsanitäter ein mulmiges Gefühl bekommt.
 

In psychischen Ausnahmezuständen wehren sich Menschen und verweigern sich in solchen Fällen immer wieder auch medizinischer Hilfe – das liegt in der Natur der Dinge. Da kommt es schon einmal vor, dass an einem gezerrt wird, man gebissen oder gekratzt wird. Das ist aber nicht mutwillig oder böswillig, sondern hängt unmittelbar mit einer Erkrankung zusammen.

Einen Vorwurf kann man den Menschen in dieser Lage nicht machen. Es ist auch nicht als körperlicher Angriff zu verstehen,  auch wenn es streng genommen einer wäre. Das ist auch mir schon bei einem Einsatz passiert, und passiert sicherlich vielen meiner Kollegen mal. Vergessen darf man aber nicht, dass jeder Mensch, egal welcher Herkunft, Geschlecht oder Alter, sich einmal in einer psychischen Ausnahme- oder Stresssituation befinden kann und dann nicht rational reagiert.

Hätte man mich vor zehn Jahren gefragt, dann hätte ich gesagt, dass die Menschen großen Respekt vor der Arbeit des Rettungsdienstes haben. Mittlerweile würde ich das nicht mehr bedingungslos unterschreiben. Es gibt Situationen, in denen man als Notfallsanitäter ein mulmiges Gefühl bekommt. Ob das durch eigene Erfahrungen getriggert wird oder durch die Berichterstattung von größeren Fallbeispielen wie beispielsweise die Ereignisse an Silvester, das lass ich mal so stehen. Fakt ist aber: In meinem Beruf hat sich die Stimmung schon verändert.

Mathis Kruse, Bereichsleiter für Alsfeld beim Rettungsdienst Mittelhessen. Foto: ls

Im Alltag taucht aber ein ganz anderes Phänomen auf: Der des gesamtgesellschaftlichen Full-Service-Denkens. Viele Menschen sehen in uns eine Art medizinisches-betreutes Taxi-Unternehmen. Wir werden zu Ich-habe-seit-heute-Mittag-Zahnschmerzen gerufen oder zu Den-Husten-habe-ich-seit-drei-Wochen – eigentlich immer mit der Forderung, ins Krankenhaus gefahren zu werden. Zuvor beim Hausarzt war der Patient oft nicht, dort sitze man zu lange im Wartezimmer, was anstrengend sei. Das sind bedauerlicherweise Aussagen, die wir ziemlich häufig hören. Diese Mentalität hat sich auch im Vogelsberg verschlechtert.

Nahliegender ist da scheinbar, den Rettungsdienst zu rufen und sich ohne großen Aufwand ins Krankenhaus fahren zu lassen. Ich darf die Fahrt nicht ablehnen, stehe aber vor einem Problem: die Menschen sind keine Notfälle. Ich bin mir sicher, dass sie nicht ganz gesund sind, aber der Weg zum Hausarzt oder zum Zahnarzt wäre hier der richtige Schritt. Stattdessen rufen sie den Notruf und damit den Rettungsdienst – sofort, ohne großen Aufwand und leider oft für Beschwerden, die erst einmal nicht ins Krankenhaus gehören.  

Das sind Einsätze, bei denen ich mich frage, was in den Menschen vorgeht. Das ist frustrierend, denn dafür sind wir eigentlich nicht da. Wir wollen helfen, wenn Hilfe benötigt wird. Für mich ist das eine Form von schwindendem Respekt gegenüber dem Rettungsdienst, die leider auch im Vogelsberg auftritt. Vielleicht ist es auch Unwissen darüber, wann der Notruf gewählt werden sollte und wann der Hausarzt oder der ärztliche Bereitschaftsdienst die besseren Anlaufstellen wären. In den Großstädten kommt das schon deutlich länger und durch die Masse an Einsätzen auch häufiger vor, aber auch hier schleicht sich diese Form des Denkens so langsam ein; seit der Corona-Pandemie sogar spürbar mehr.

Für mich ist das eine Form von schwindendem Respekt gegenüber dem Rettungsdienst, die leider auch im Vogelsberg auftritt.

Es gibt aber im Gegensatz dazu auch Einsätze, die definitiv etwas für den Rettungsdienst sind, wo man aber den Rettungsdienst nicht unnötig belasten will. Das ist mir schon öfter passiert, dass ältere Menschen nachts oder abends stürzen und sich den Oberschenkelhals brechen und sich mit furchtbaren Schmerzen noch durch die Nacht schleppen. Der Rettungsdienst wird dann am nächsten Tag vom Ehepartner, dem Pflegedienst oder pflegenden Angehörige gerufen. Alles, damit der Rettungsdienst nicht so spät noch raus muss. Genau für solche Fälle sind wir aber da, logischerweise fahren wir genau für solche Notfälle zu jeder Tages- und Nachtzeit raus – daher kann ich nur sagen: Bitte rufen Sie an!

Wir haben also auf der einen Seite eine Mentalität, die sagt: Der Rettungsdienst soll nicht belästigt werden, damit er denen helfen kann, denen es wirklich schlecht geht, obwohl man selbst eben ein solch dringlicher Fall ist. Und auf der anderen Seite fahren wir zu „Ich habe seit drei Wochen Husten“ oder zu „Zahnschmerzen“, die ins Krankenhaus wollen. Die Wahrnehmungen sind hier völlig verschieden.

Erst vor wenigen Tagen hatte ich einen Tag mit Einsätzen, wo auch wirklich der Rettungsdienst gebraucht wurde. Ich hoffe solche Tage gibt es bald schon wieder häufiger – natürlich nicht, weil ich hoffe, dass viele Menschen leiden. Sondern im Sinne von: Ich will dort hinfahren, wo ich auch wirklich gebraucht werde.

Aufgezeichnet von Luisa Stock

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