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Premierenlesung von Astrid Rupperts „Ein Ort, der sich Zuhause nennt“ – Platz 15 der Spiegel-BestsellerlisteLiterarische Geschichtsstunde, Frauenleben, Musik

HOMBERG (ol). Für viele Leserinnen und Leser sind sie schon alte Bekannte, die Winterfrauen, Dora, Lisette, Charlotte, Paula und Maya, Protagonistinnen in Astrid Rupperts Trilogie, deren erste beide Teile „Leuchtende Tage“ und „Wilde Jahre“ schon viele Menschen in ihren Bann gezogen haben.

Nun lüftete die in Ober-Ofleiden lebende Autorin mit dem Abschluss ihrer Reihe und dem Buch „Ein Ort, der sich Zuhause nennt“ auch das letzte Geheimnis der Familie und nahm ihre Zuhörerinnen und Zuhörer auf ihrer Premierenlesung in der Stadthalle in Homberg/Ohm mit in das Leben von Charlotte, die man in „Wilde Jahre“ als schweigsame, fast verhärmte Frau kennenlernen konnte, teilt Traudi Schlitt in einer Pressemeldung mit.

„Wie können wir die werden, die wir sind“ – diese Frage formulierte Ruppert zu Beginn ihrer Lesung als eines der zentralen Themen ihrer Trilogie. Eine Frage, die alle Frauen zu jeder Zeit umgetrieben habe und umtreibe, und die bei den Winterfrauen – wie bei allen Menschen – zu Entscheidungen geführt hatte, die ihr Leben veränderten.

Ein kurzer Rückblick

Was das für die Winterfrauen bedeutete, stellte die Autorin in einem kleinen Rückblick dar: Lisette, geboren im Kaiserreich, wandte sich von ihrer großbürgerlichen Familie ab, um Anfang des letzten Jahrhunderts in wilder Ehe mit einem Schneider zu leben und mit ihm zu arbeiten. Paula, ihre Enkelin, verließ in den Sechzigerjahren ihr enges Dorf, das wohl „irgendwo zwischen Homberg, dem Vogelsberg und dem Ebsdorfer Grund“ gelegen haben mochte, machte Musik in England und brachte dort ihre Tochter Maya zur Welt – ohne Vater und immer auf der Suche nach der großen Liebe.

Maya wiederum ist Ausgangspunkt aller Nachfragen zu ihren Ahninnen, immer auf der Suche nach einem Lost Place, den sie offenbar nicht nur in alten verwilderten Häusern findet, sondern auch in ihrer eigenen Vergangenheit. Mit Charlotte – Tochter von Lisette und Mutter von Paula – schuf Astrid Ruppert nun eine Protagonistin, die in der Nazizeit im Alltagswiderstand war.

Selten betrachtete Art des Widerstandes wird zum Hauptthema des Buches

Mit großem Rechercheaufwand hat die Autorin diese bisher selten betrachtete Art des Widerstandes zum Hauptthema ihres Buches gemacht: Zahllose Menschen, darunter sehr viele Frauen, schützten vom Nazi-Regime bedrohte Menschen, indem sie sie unter Einsatz ihres eigenen Lebens versteckten und von den sparsamen Lebensmittelrationen mit durchfütterten, oder auch, indem sie ihnen mit Hilfe gefälschter Papiere die Flucht ermöglichten.

Mit ihrem Freund Paul und anderen war Charlotte hier aktiv. Was sie jedoch erlebt hat, das sie nach dem Krieg eine Ehe und ein Leben führen lässt, die sie offenbar nicht glücklich machen, das ließ die Autorin in ihrer Lesung offen. Vielmehr erzählte sie von ihren Recherchen und ihren Motiven: Von einem ihrer Onkel, der, nachdem er im Dritten Reich in der Résistance aktiv gewesen war, in Deutschland kein Bein mehr auf den Boden bekam, im Gegenteil, der von der Familie bis zu seinem Tod verschwiegen wurde. Oder von ihren späten Fragen an ihre eigene Mutter: „Wer warst du, bevor du Mutter wurdest?“ „Was waren deine Pläne?“ „Wer wolltest du sein?“

Es sind diese Fragen, die alle drei Bücher durchziehen und die Astrid Ruppert immer wieder durch die Geschichten ihrer Protagonistinnen führten. Als ein weiteres Grundmotiv ihrer Trilogie gab sie das Schweigen an, das als Last an die nächste Generation mitgegeben wird – so lange, bis diese ihre eigenen Themen findet, die sie verschweigt und wiederum weitergibt. Unausgesprochen, trennend.

Rupperts Lesungen bestechen stets durch die Empathie, die die Autorin ihren Figuren entgegenbringt, sowie durch die Relevanz, die deren Geschichten auch für das Leben der Zuhörinnen und Zuhörer hat. Zugewandt, doch unaufdringlich stellt Ruppert ihr literarisches Personal vor und offenbart mit ihrer Trilogie nicht nur eine ganze Reihe unterschiedlicher Frauenleben und die großen Veränderungen seit Ende des vorletzten Jahrhunderts, sondert schafft auch großartige Zeitportraits, die Aufschluss geben über den Alltag in den Epochen, die sie durchreist, über Erziehung, über Hoffnungen und zerfallene Träume, die stets im Kontext der großen politischen Linien zu sehen sind, ohne dass diese das Hauptthema sind.

Begeistertes Publikum

Wie immer bei Astrid Rupperts Lesungen war das Publikum begeistert – im Falle dieser Lesung hing das zusätzlich mit dem Rahmenprogramm zusammen: Martin Jantosca hatte ein feines kleines Menü gezaubert, und Lisa Bock und Luis Rieger entführten mit ihrer Musik und ihrem Gesang die Gäste kurzfristig an die englische Nordseeküste ins „Old Neptune“, in dem Paula mit ihrem Freund Harry in den Sechzigerjahren Erfolge gefeiert hatte.

Und noch ein Highlight hielt der Abend bereit: Ulrike Sowa, die mit ihrer Homberger Buchhandlung die Lesung ausrichtete, freute sich mit allen Anwesenden, darunter auch Karoline Adler, Rupperts Lektorin im dtv-Verlag, über einen großartigen 15. Platz von „Ein Ort, der sich Zuhause nennt“ auf der renommierten Spiegel-Bestsellerliste.

So war dieser Abend – so beklemmend mitunter auch das Thema der Lesung war – doch geprägt von einer fröhlichen Stimmung, nicht zuletzt, weil es für die Winterfrauen – und damit vielleicht für alle Frauen und ihre Mütter und Töchter – Hoffnung gibt: Wenn alle ihr Schweigen brechen, ihr Lebensgepäck voreinander auspacken und ausbreiten, sodass niemand mehr die Last der anderen mit sich herumschleppen muss, können Verständnis und Verbindung wachsen, kann jede Generation ihr eigenes Leben führen. Schöne Aussichten.

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